Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst

Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Annemarie Schimmel

Musik und Tanz – das Kreisen der Welten

Dschalal ad-Din Rumi: »Komm, komm, wer immer du bist…«

Foto: Siegbert Socher

Ein Ausschnitt aus dem Buch Rumi – Ich bin Wind und du bist Feuer

aulana Dschalal ad-Din Rumis ganzes Werk ist ein ständiges Umkreisen des Geheimnisses von Gott, dem Geliebten und der Liebe, ein Versuch, Unaussprechliches auszudrücken, in Worte zu fassen. Dass Worte nie imstande sind, mehr als den »Duft der himmlischen Apfelbäume« zu bringen, dessen war sich Rumi bewusst. Ein einziges Mittel schien ihm adäquat, um das Geheimnis der schöpferischen Liebe etwas deutlicher zu machen: Das war Musik und Tanz.

Es gibt eine kleine Geschichte, die Rückert ins Deutsche übertragen hat und die wohl besser als alle trockene Theorie sagt, was Maulana empfand:

Einstmals sprach unser Herr Dschalal ad-Din dieses:
»Die Musik ist das Knarren der Pforten des Paradieses!«
Darauf sprach einer von den dumm-dreisten Narren:
»Nicht gefällt mir von Pforten das Knarren!«
Sprach unser Herr Dschalal ad-Din drauf:
»Ich höre die Pforten, sie tun sich auf;
aber wie die Türen sich tun zu,
das hörest du!«

Denn die islamische Orthodoxie war von jeher gegen jede Art von Musik eingestellt, und die Handbücher des Sufismus enthalten lange Abhandlungen darüber, ob Musik und Wirbeltanz gestattet seien oder nicht, und selbst wenn sie sama‘, »Lauschen«, und den daraus geborenen Tanz für die auf dem Pfad Fortgeschrittenen erlauben mochten, warnten sie doch immer die Unreifen vor diesen Genüssen, die so leicht zu rein irdischen Vergnügungen ausarten konnten und daher zum Kummer der großen Meister besonders solche Menschen anlockten, die nichts vom Wesen des Sufismus, von der fordernden Härte des Pfades wissen wollten und »Sufismus für Tanz und Vergnügen« hielten. Daher berichten auch Maulanas Biografen von manchem Zusammenstoß des Meisters mit musikfeindlichen Theologen und heftiger Kritik an seinem Tanz.

Das Land, in dem Maulana den größten Teil seines Lebens verbrachte, Anatolien, war von alters her für seine musikalische Tradition bekannt; schon im klassischen Altertum war das Klagen der phrygischen Flöte berühmt – und das Gebiet von Konya grenzt ja an Phrygien. Im gleichen Jahr, da [sein Vater] Bahauddin Walad nach Konya berufen wurde, wurde an der nordöstlichen Grenze des Seldschukenreiches, in Divrigi, neben einer gewaltigen, ungewöhnlich reich mit Steinornamentik geschmückten Moschee ein Asyl gebaut, in dem Geisteskranke durch den melodischen Klang geschickt in ein Becken geleiteter Wassertropfen von ihrer Melancholie geheilt oder zumindest eine Weile aufgeheitert werden sollten. Denn Musiktherapie war den islamischen Ärzten des Mittelalters durchaus vertraut. Auch für Rumi war die Musik eine Art Therapie; sie half ihm, das überwältigende Erlebnis der Liebe zu Schams[eddin von Täbriz], das ihn völlig aus dem normalen Kurs seines Professorenlebens geworfen hatte, zu verarbeiten. Musik öffnete ihm in jenen Tagen und Nächten der verzweifelten Suche und Sehnsucht in der Tat die Pforten des Paradieses, in welchem er alles in einem ewigen Reigentanz erblickte.

Es ist daher nicht erstaunlich, wenn Maulana das Haus der Liebe beschreibt, in dem stets die Stimme von Harfe und Laute ertönt und dessen Fenster und Dach ganz aus Liedern und Gesang bestehen. Und er erblickt den Geliebten, wie er das Haus umwandelt:

Ich sah den Freund; er schritt ums Haus im Kreise,
Auf seiner Laute schlug er eine Weise.
Mit feuergleichem Schlag ein süßes Lied
Spielt’ er, vom Wein der Nacht berauscht, durchglüht.

Mit seinem Lied ruft er den Schenken, und als der feuergleiche Wein ihm wie Flammen über das Gesicht läuft, verkündet er, dass er die Weltensonne ist, »der Liebenden Geliebter«, vor dem jedes Herz in der Welt voller Unruhe ist. Wie oft hat Maulana gesungen, dass das Traumbild des Geliebten auf der Leinwand seines Herzens tanzt! Alles wird vor ihm zum Instrument, jedes Geschehen verwandelt sich in Musik.

Wiederum ist es der Lenz, in dem die Macht der Musik am deutlichsten wird; denn nach dem langen dumpfen Schweigen der Welt im Winter ist der Frühling die Zeit, da sich der Garten berauscht zur Musik der Vögel bewegt, da die Blätter händeklatschend auf dem Grab des Tyrannen Januar tanzen:

Die Zweige tanzen munter ohne Ende,
Wie Sänger klatschen Blätter in die Hände.

Denn:

Hast du gehört? Die Nachtigall kam von der Reise wieder,
Trat in den Reigen ein und ward zum Lehrer aller Vögel!

Verse, die immer wieder im Diwan variiert werden, um das Wunder zu verdeutlichen, das geschieht, wenn die Sonne in das Sternbild des Widders tritt und der Lenzwind der Liebe zu wehen beginnt. Dann ist es nur der verdorrte Zweig, der nicht am seligen Tanz teilnimmt.

Das Masnawi beginnt mit einem Gedicht, das zum Modell für Tausende von Versen in der persischen, türkischen und indo-muslimischen Dichtung geworden ist und jüngst auch einen der führenden arabischen Dichter inspiriert hat: Es ist das schi ‘r-e ney, das »Lied der Rohrflöte«, die, von ihrem heimischen Röhricht abgeschnitten, klagt und dadurch alle Welt zum Weinen bringt. Denn ihr Klang erinnert die Geschöpfe daran, dass sie einst in der Urewigkeit ungetrennt von Gott, dem Ursprung allen Seins, waren und erst durch den Schöpfungsakt in die Welt der Zweiheit gelangten. Es ist Feuer, das aus der Flöte klingt, das gleiche Feuer der Liebe, das auch den Wein brausen lässt. So wird in Maulanas Gedicht die Flöte zum Gift und zum Gegengift; ihre Weisen (parda) zerreißen die Schleier (parda), die dem Menschen die Erinnerung an die ewige Heimat verhüllen und ihn vom Geliebten trennen; sie kennt die tragischen Liebesgeschichten, die davon sprechen, wie der Liebende den Pfad im Blut wandern muss, und gleicht so dem Dichter, der in immer neuen Geschichten und Bildern das eine Geheimnis anzudeuten sucht: das der Sehnsucht nach dem urewigen Geliebten, die durch alle Stufen des Geschaffenen geht. Die Flöte gleicht in gewisser Weise auch der Rohrfeder, die, wie sie, von Trennung und Leiden berichten kann und »ohne Kopf« auf dem Papier tanzt, wenn der Göttliche Schreiber sie zurechtgeschnitten hat. Und eine weitere Querverbindung besteht zwischen Rohrflöte, Rohrfeder und dem Zuckerrohr, das seine Süßigkeit vom Atem des Geliebten erhalten hat und daher auch von ihm kündet.

Rumi selbst ist die Flöte, die sich nach dem Atem, der Lippe des Geliebten sehnt, um das zu sagen, was er sagen möchte – hat nicht Gott im Koran verkündet: »Wir hauchten ihm [Adam] Unseren Atem ein« (Sure 15:29), und damit den Menschen gewissermaßen zu Seiner Flöte gemacht? Der Dichter ist auch das Saiteninstrument, das vom Freunde berührt und zum Klingen gebracht wird:

Gleich der Harfe lehne ich an der Brust ihm,
Und mein Klagen kommt von dem Finger des Freundes.

Denn seine Adern sind gleich Saiten auf den gebrechlichen Körper gespannt, und manchmal wird der Schlag zu stark für das schwache Instrument:

Du, in Dessen Gnadenschoße ich wie eine Harfe klinge –
Schlag das Plektrum etwas leichter, dass die Saite nicht zerspringe!

Wie die Flöte oder die Oboe nur singen kann, wenn die Lippe des Geliebten sie berührt, so ist auch die Laute ihm ganz ergeben und weiß, dass sie aus eigener Kraft keinen Ton hervorbringen kann:

Fragen, Antwort sind von Ihm – ich bin lautengleich;
Er schlägt mit dem Plektrum mich: »Eilend klage jetzt!«

Es ist aber nicht nur Maulana selbst, der in dieser Welt der Musik lebt. Sie durchzieht die gesamte Schöpfung, ja, sie ist es, die die Bewegung der Welt verursacht. Rumi sah jede Bewegung als Reigentanz und erkannte, dass alles Geschaffene, vom Sonnenstäubchen bis zu den Firmamenten, sich im Tanz dreht. Die Biene tanzt, um Honig herzustellen, das Herz tanzt wie Rautensamen im Feuer der Liebe, und selbst die koranische Aussage, dass der Sinai erzitterte, als der Herr Sich auf ihm manifestierte (Sure 7:143), wird für Rumi zum Hinweis auf den berauschten Tanz des Berges beim Anblick des Geliebten:

Gabriel tanzt in der Liebe zur Schönheit des Herrn,
Tanzt auch aus Liebe zu einer Dämonin der Dämon!

Für Maulana ist der Schöpfungsakt ein erster Laut der Göttlichen Musik; denn durch den Klang der Göttlichen Stimme erweckt, drängen sich die zukünftigen Geschöpfe, am Reigen der Welt teilzunehmen. In einem hinreißenden Ghasel spricht er davon, wie er »vom Ort, da kein Ort ist,« den Ruf zum Reigen erwartet, denn:

Ein Zweig vom Himmelstanze ist nur aller Reigen auf Erden,
Und von dem Seelentanze sind die Tänze des Lebens gleich Zweigen.

Dann vernimmt er die Anrede Gottes: »Sei!«, durch die Er das Nicht-Sein ins Sein ruft:

Hallte ein Ruf im Nicht-Sein: Da sagte das Nicht-Sein: »Gewiss!
Ich setz’ den Fuß in jenes Land, froh, grün und frisch mich zu zeigen!«
Es hörte Gottes Urzeit-Ruf, tanzend ward es und berauscht;
Nicht-Sein war es und ward zum Sein – Herzen und Tulpen und Feigen!

Daher wird für Maulana der Reigen und die Musik hier auf Erden zur Wiederholung jener ersten liebenden Anrede Gottes oder erweckt zumindest die Erinnerung an sie; der Reigen ist ein Fenster, eine Leiter zum Himmel, um ihn wieder zurückzubringen in das verlorene Paradies der unmittelbaren Gottesnähe. Tanzen nicht alle Sonnenstäubchen vor der Sonne?

Wir tanzen gleich Stäubchen vor Ihm jeden Morgen;
Denn das ist die Sitte der Sonnenverehrer!

Durch diesen Tanz erhalten die Stäubchen (und man möchte die moderne Übersetzung »Atome« verwenden!) ihre Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, werden aus ihrem individuellen Bewegungsablauf herausgenommen und werden durch die kreisende Bewegung um das Zentrum zu einer neuen Einheit, die durch die Kraft der Sonne belebt und erhalten wird. Denn so widersprüchlich die Phänomene auch sein mögen, so verschieden die Linien des Lebens verlaufen – im Mittelpunkt steht immer die Göttliche Liebe, und nichts kann aus der kosmischen Ordnung fallen, die alles umfasst. Maulana und seine Nachfolger empfanden sich aber auch als Sonnenstäubchen vor dem Angesicht Schamseddins, der Sonne von Täbriz, in dem sie die Epiphanie des ewigen Göttlichen Geliebten erblickten, um Den alles kreist.

»Ya Hazret-i Maulana Dschalal ad-Din, Gott möge sein Mysterium heiligen« in Form einer Derwischmütze

Wo immer der Tanzende mit dem Fuß aufstampft, dort springt der Lebensquell aus dem Staub. Aber der Reigen hat nur Sinn, wenn der Geliebte anwesend ist – wie könnten die Stäubchen ohne die Sonne zum Tanz gebracht werden? Sie wären vereinsamt und erfroren… Deshalb ruft Maulana den Freund in immer neuen Variationen auf:

Komm, komm, du bist die Seele, die Seele mir des Reigens!
Komm, wandelnde Zypresse, du Gartenzier des Reigens!
Komm, unter deinem Schatten liegt tief der Sonne Quell,
Bringst tausend Venussterne am Himmel mir des Reigens.

In der Tat pflegte Maulana in späteren Jahren, als der ursprüngliche freie Enthusiasmus des Reigens schon ein wenig gebändigt war, nicht mit dem Reigen zu beginnen, solange [sein Freund] Husameddin nicht anwesend war.

Keiner tanzt, solange er Deine Huld nicht sieht;
Denn im Mutterleib das Kind tanzt durch Deine Huld!
Wie? Im Mutterleibe nur? Wie im Nicht-Sein denn?
Ja, die Knochen selbst im Grab tanzen durch Dein Licht!

Der Reigen umfasst alles. Er verkörpert das Geheimnis des Lebens: Im entrückten Kreisen um die Zentralsonne, die Göttliche Liebe, zu entwerden und, sich selbst abgestorben, zu höherem Leben zu erwachen. Auf dieses Geheimnis deutet die Kleidung der Mevlevi-Derwische hin: Über dem weißen Tanzgewand tragen sie einen schwarzen Mantel, Symbol des dunklen Erdenlebens. Sie behalten ihn an, solange sie das dreifache langsame Vorbeiwandeln vor dem Scheich vollziehen, mit dem sie feierliche Grüße austauschen. Dann aber wird der Mantel abgeworfen, und in Weiß, der Farbe des Auferstehungsleibes, kreisen sie sowohl um die eigene Achse als auch im größeren Zirkel, die eine Hand gen Himmel geöffnet, um von dort die Gnade zu empfangen, die andere zur Erde gewendet, um die Gnade weiterzugeben. Uralte Vorstellungen vom Sternenreigen, vom Tanz der Sphären sind in dieses Ritual eingeflossen, das immer wieder neu ausgedeutet worden ist und die größten türkischen Komponisten inspiriert hat. Ein türkischer Vers, der am Ende des Rituals, auf dem Höhepunkt der Entrückung, gesungen wird, besagt mit einer klassischen Formulierung, dass der Reigen ruha gıda, »Speise für die Seele«, Nahrung für den Geist ist.

Aber für die wahren Gottesmänner ist er auch ein »Tanz im Blut«, so, wie Halladsch in Fesseln tanzte, der zur Hinrichtungsstätte geführt wurde. Denn der tiefste Sinn des Reigens ist, das ständige Wechselspiel von Leben und Tod, von Stirb und Werde zu symbolisieren, wie Maulana am deutlichsten in einem Gedicht ausgesprochen hat, das Rückert frei nachgedichtet hat:

Schall, oh Trommel! Hall, oh Flöte – Allah hu!
Wall im Tanze, Morgenröte – Allah hu!
Lichtseel’ im Planetenwirbel, Sonne, vom
Herrn im Mittelpunkt erhöhte – Allah hu!
Herzen! Welten! Eure Tänze stockten, wenn
Lieb’ im Zentrum nicht geböte: Allah hu! […]
Seele, willst, ein Stern, dich schwingen, um dich selbst,
Wirf von dir des Lebens Nöte – Allah hu!
Wer die Kraft des Reigens kennet, lebt in Gott,
Denn er weiß, wie Liebe töte. – Allah hu!

© Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München, 2003