Foto © Thakur Lal Manandhar
Shivapuri Baba
Yogi, Weltpilger, Heiliger und Lehrer des »Rechten Lebens«
Der Shivapuri Baba (1826–1963), benannt nach dem Bergwäldchen in einem nepalesischen Nationalpark, in das er sich während der letzten siebenunddreißig seiner insgesamt 137 Lebensjahre zurückgezogen hatte, war ein indischer Yogi, der die Theorie und die Praxis des svadharma oder »Rechten Lebens« lehrte.
Dabei handelt es sich um eine aus der hinduistischen Tradition abgeleitete, jedoch universal formulierte Lehre von drei grundlegenden Disziplinen spiritueller, moralischer und physischer Pflichten, deren konsequente Befolgung über die Zwischenstufen der Selbsterkenntnis und der Seelenerkenntnis schließlich zur Gotteserkenntnis führen soll. In ihrer bestechenden theoretischen Einfachheit kann die Lebensregel des svadharma von allen spirituell suchenden Menschen befolgt werden, egal in welcher religiösen Tradition sie beheimatet sind.
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Kindheit und Jugend
Der Shivapuri Baba wurde 1826 unter dem bürgerlichen Namen Jayanthan Nambudiripad im südwestindischen Bundesstaat Kerala geboren und war von hoher brahmanischer Abstammung. Nachdem er bereits in der Kindheit seine Eltern verlor, wurde er bis zum Alter von vierzehn Jahren von seinem Großvater, dem weitherum bekannten Hofastrologen Achyutam, erzogen, bevor sich dieser der brahmanischen Sitte entsprechend als Einsiedler in einen Wald zurückzog.
Im Alter von achtzehn Jahren, also 1844, beschloss der junge Brahmane, ebenfalls der Welt zu entsagen. Er setzte ein Testament auf, das seine Zwillingsschwester berechtigte, das väterliche Besitztum zu erben, folgte seinem Großvater in den Wald und bereitete sich auf seine Bestimmung als Sannyasin vor.
Kurz vor seinem Tod eröffnete der Großvater seinem Enkel, er habe eine beachtliche Geldsumme in Form von Diamanten und anderen Edelsteinen beiseitegelegt, die dieser aufbewahren solle, bis er Gotteserkenntnis erlangt habe. Daraufhin solle er seine vorgeschriebene Pilgerreise unternehmen, allerdings nicht wie traditionell üblich nur zu allen heiligen Stätten Indiens, sondern rund um die ganze Welt, um sämtliche Länder zu bereisen, in denen wandernde Sannyasins noch nicht bekannt seien.
Eremitenleben
Als er seinen Großvater begraben hatte, nahm der junge Mann den Namen Govindananda Bharati an und machte sich auf den Weg, um das Oberhaupt des südlichen Sannyasin-Ordens zu besuchen und von ihm seine Einweihung zu erhalten.
Der Pfad, dem Govindananda folgen wollte, war ritambhara prajna, die absolute Gotteserkenntnis jenseits aller Formen und Vorstellungen. Zu diesem Zweck zog er sich in den Dschungel am Narmada-Fluss zurück und zwar derart tief, dass er auf dem letzten Abschnitt seiner Wanderung vierzehn Tage lang keinem Menschen mehr begegnete. Dort verbrachte er nun vierundzwanzig Jahre in vollkommener Abgeschiedenheit, lebte von wild wachsender Nahrung und freundete sich mit den Tieren des Waldes an.
Im indischen Dschungel, wo die Jahre vorübergehen können ohne äußere Anzeichen abgesehen von der Trocken- und der Regenzeit, verlor der Sannyasin, der seine Aufmerksamkeit von der natürlichen Ordnung der Dinge abgezogen hatte, bald jegliches Zeitgefühl. Die Jahre gingen vorüber und das innere Leben Govindanandas vertiefte sich und gewann an Kraft. Schließlich kam der große Augenblick – und er kam, wie er später häufig sagte, »blitzartig«. Gott wurde geschaut und alle Probleme waren gelöst!
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Pilgerreise um die Welt
Im Alter von fünfzig Jahren verließ Govindananda schließlich seine Einsiedelei, um sein Gelübde der weltweiten Pilgerreise einzulösen. In der Folge war er insgesamt vierzig Jahre lang rund um den ganzen Erdball unterwegs – und zwar wo immer möglich zu Fuß –, wobei er jeweils nördlich und südlich vom Äquator abwich, um die gewünschten Länder zu bereisen.
Er begann zunächst mit dem Besuch sämtlicher heiligen Stätten Indiens und traf viele bekannte Persönlichkeiten, unter anderem den Politiker und Unabhängigkeitskämpfer Bal Gangadhar Tilak [/]. In Kalkutta suchte er Ramakrishna [/] auf, der acht Jahre jünger als er selbst und bereits im ganzen Land bekannt und beliebt war. In Baroda traf er Aurobindo Ghose [/], einen der größten Interpreten indischer Spiritualität.
Danach wanderte er nach Afghanistan, wo er vom ersten Aga Khan empfangen wurde, und weiter nach Persien, wo er unter anderem den Shah besuchte. Anschließend reiste er nach Mekka, wo ihm – wahrscheinlich aufgrund freundschaftlicher Beziehungen zu einer Sufi-Bruderschaft – das für einen Hindu damals unerhörte Privileg des Besuchs der Kaaba gewährt wurde.
Von dort aus wanderte er weiter nach Jerusalem, wo er einige Zeit an den heiligen Stätten des Christentums verbrachte. Weiter verlief seine Pilgerreise durch die Türkei, Griechenland und den Balkan bis nach Rom, wo er längere Zeit im Vatikan verbrachte.
Anschließend besuchte Govindananda praktisch alle Länder Europas. Unter anderem verbrachte er rund vier Jahre in Heidelberg, wo er Deutsch lernte und Kaiser Wilhelm II [/] begegnete, und traf in Holland Königin Emma [/].
1896 wurde er nach England eingeladen, wahrscheinlich vom Munshi Abdul Karim [/], dem Indiensekretär von Königin Victoria [/], die scheinbar eine große Zuneigung zu Govindananda entwickelte. Er traf sich insgesamt achtzehn Mal mit der englischen Herrscherin auf verschiedenen ihrer Schlösser und blieb auf deren Bitte bis nach ihrem Tod in England, wo er noch viele andere Persönlichkeiten traf, wie zum Beispiel den Vater Winston Churchills [/] oder George Bernhard Shaw [/].
1901 reiste er nach Amerika weiter, blieb dort zwei bis drei Jahre und traf u.a. Theodore Roosevelt [/]. Danach wanderte er durch Mexiko, wo er von Diktator Porfirio Diaz [/] eingeladen wurde, und weiter nach Süden bis zu den Anden und zum Titicacasee. Anschließend schiffte er sich nach den Südsee-Inseln ein, machte Station in Neuseeland und Australien, erreichte Japan im Jahr 1913 und reiste über Sinkiang und Nepal zurück nach Indien.
Lebensabend in Nepal
Nachdem er sein Pilgergelübde eingelöst und noch einmal an seinen Geburtsort zurückgekehrt war, beschloss Govindananda 1926 im Alter von einhundert Jahren, nach Nepal zu gehen, um dort zurückgezogen im Wald zu leben. Mittlerweile weitherum als großer Heiliger verehrt, isolierte er sich zwar nicht mehr gänzlich von allem menschlichen Kontakt und lehrte sogar eine Handvoll Schüler, die sich um ihn geschart hatten, doch verweigerte er sich vehement jeglichem Kult um seine Person und widersetzte sich allen Versuchen, seine bescheidene Hütte in einen Ashram und ein Pilgerzentrum zu verwandeln.
Dennoch wurde er von zahlreichen Persönlichkeiten aus aller Welt besucht, darunter 1956 auch vom indischen Staatspräsidenten Sarvepalli Radhakrishnan [/], der sich von seiner Weisheit und seiner Lehre höchst beeindruckt zeigte.
In den Jahren 1961 und 1962 lud er John G. Bennett zu sich ein, der von ihren gemeinsamen Gesprächen über spirituelle Fragestellungen Tonaufnahmen anfertigte und schließlich vom Shivapuri Baba gebeten wurde, seine Lehre von svadharma oder dem »Rechten Leben« schriftlich darzustellen und der Nachwelt in Buchform zugänglich zu machen.
Am 28. Januar 1963 starb der Shivapuri Baba im Alter von 137 Jahren.