
Vimala Thakar
Von Renata Keller
Vimala Thakar (1923–2009) war eine indische Philosophin, revolutionäre Mystikerin und soziale Aktivistin, eine bemerkenswerte Persönlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts, die unerschrocken einen radikal unabhängigen Ansatz in der Spiritualität und der Suche nach der Wahrheit verfolgte. Von allen religiösen Traditionen befreit, brachte sie die zeitlose Weisheit des Ostens mit dem rationalen Denken des modernen und liberalen Westens zusammen. Es war ihr ein großes Anliegen, die Menschen zu einem tiefen Verantwortungsbewusstsein wachzurütteln. Sie reiste jahrzehntelang um die Welt, besuchte mehr als fünfunddreißig Länder und rief alle, die bereit waren, ihr zuzuhören, dazu auf, dringendst zu innerer Freiheit und einer Fürsorge für das ganze Leben zu erwachen.
Vimala wurde am 15. April 1923 in eine brahmanische Familie in der Stadt Akola im indischen Bundesstaat Maharaschtra geboren und interessierte sich schon sehr früh für spirituelle Themen. Sie wollte dem Heiligen begegnen. Mit sieben Jahren lief sie von zu Hause weg in den Wald, um nach Gott zu suchen. Oder sie sprang in einen Brunnen, weil eine Tante im Scherz gesagt hatte, dass Gott im Brunnen lebt.

Obwohl es Frauen nicht erlaubt war, religiöse Texte zu lesen, studierte sie bereits in jungen Jahren die indischen Veden und Upanischaden und lernte Sanskrit. Nachdem sie ihr Studium in östlicher und westlicher Philosophie erfolgreich abgeschlossen hatte, ging sie nach Rishikesh und meditierte ein Jahr lang in einer Höhle am Flussufer des Ganges, experimentierte mit verschiedenen spirituellen Praktiken und besuchte Lehrer und Aschrams in ganz Indien.
Sie wurde jedoch immer wieder von den religiösen und spirituellen Autoritäten zurückgewiesen, weil sie eine Frau war. Trotz häufiger Kränkungen blieb sie unbeirrt. Als spirituell Suchende im Indien der 1940er-Jahre so eigenständig zu sein, war mutig und revolutionär. Sehr genau beobachtete sie, was ihr an spirituellen Autoritäten gefiel und missfiel, und entwickelte für sich selbst eine eigene Ethik. Innerhalb dieses patriarchal-geprägten Milieus kämpfte sie leidenschaftlich darum, ihren eigenen sprachlichen Ausdruck zu finden, der ihren Herzenswunsch nach innerem und äußerem Frieden vermitteln und kommunizieren würde.

Führende Mitglieder der Budhan-Bewegung auf einem ihrer langen Fußmärsche durch Indien 1953. Zuvorderst (von links): Vimala Thakar, Jayaprakash Narayan und Vinoba Bhave. Quelle: Aus dem Dokumentarfilm Im Feuer der Tanzenden Stille
Sehr früh war sich Vimala über ihre innere Bestimmung, frei und ungebunden ihrer Leidenschaft nach innerer Befreiung nachgehen zu wollen, im Klaren. Unbeeindruckt von mehreren Heiratsanträgen und nach einem kurzen Arbeitseinsatz im Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen [/] in New York schloss sie sich Vinoba Bhaves [/] friedlicher Landreformbewegung Budhan in Indien an, die von Mahatma Ghandis [/] Vision inspiriert war. Vimala wurde eine führende Persönlichkeit dieser Bewegung und wanderte mehrere Male zusammen mit Hunderten von Mitstreitern zu Fuß durch ganz Indien, um reiche Landbesitzer davon zu überzeugen, einen Teil ihres Landes an arme Bauern abzugeben, damit diese sich eine eigene, unabhängige Existenz aufbauen konnten. Die Budhan-Bewegung war und ist bis heute eine der wenigen gewaltfreien Revolutionen weltweit, bei denen Menschen aus humaner und großherziger Motivation Land an arme Menschen verschenkten, ohne von einer mächtigen Behörde dazu gezwungen zu werden.
Aufgrund eines schweren Autounfalls musste Vimala Thakar ihr Engagement für die Bewegung beenden. Ihre anschließende Begegnung mit dem Philosophen und Autor Jiddu Krishnamurti [/] im Jahr 1960 veränderte ihr Leben radikal, und sie erkannte die volle Tiefe dessen, was ihr im Laufe der Jahre zuvor immer deutlicher klargeworden war: dass einzig die innere Arbeit mit dem eigenen Bewusstsein und die Transformation von Gewalt und Aggression in uns selbst ein friedlicheres Leben auf dieser Erde bewirken können.
In einem offenen Brief an ihre ehemaligen Kollegen und Kolleginnen der Budhan-Bewegung schrieb sie:
Meine Verbindung mit der Bewegung ist vorbei. […] Es gibt keinen Frieden und Zufriedenheit mehr ohne eine tiefgreifende menschliche Revolution. Eine menschliche Revolution, die daraus besteht, sich von jeder Art persönlicher, nationaler, ethnischer und ideologischer Voreingenommenheit zu befreien. […] Alles, was unserem Verstand über Jahrhunderte hinweg eingeimpft wurde, muss vollständig verworfen werden.
Sie beschloss, ihr Leben diesem inneren Weg zu widmen und ihre eigenen Worte zu finden. Dies hatte Konsequenzen im Äußeren: Bald wurde sie nach Europa, Südamerika und Indien eingeladen, wo sie begann, Vorträge und Seminare über innere Transformation zu halten. Über dreißig Jahre lang bereiste sie die ganze Welt, traf Tausende von Menschen und leitete Hunderte von Sozialarbeiter-Camps in Indien.
Zu Vimalas Lebzeiten wurden fast einhundert Bücher über ihre Arbeit auf Englisch, dutzende auf Marathi, über einhundert auf Gujarati und fünfzig auf Hindi veröffentlicht und in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. Dies verdeutlicht die Verbreitung ihres Einflusses in Asien, Europa und Amerika. Da sie jedoch sehr bescheiden war und weder Ruhm noch Medienpräsenz suchte, blieb sie trotz des Umfangs ihrer Arbeit und ihrer Aktivitäten relativ unbekannt.
Angesichts eines wachsenden Gefühls der Sinnlosigkeit in der globalisierten und technologisierten Welt, die wir geschaffen haben, ermutigt uns Vimala, unsere Lebenskraft in der Stille und Kontemplation zu finden. Und heute, da die Zivilisation vor ernsthaften Herausforderungen steht, ruft sie uns auf, neue Formen des Zusammenlebens von Mensch und Natur zu schaffen und zu gestalten, Formen die auf dem universellen Prinzip der Einheit und Verbundenheit beruhen.

Quelle: Renata Keller
Am 11. März 2009 starb Vimala Thakar in ihrem Haus in Mount Abu, Radschastan, umringt von nahen Freunden, darunter vielen, die aus Europa angereist waren, um sich von ihr zu verabschieden. Es war Holi, das Fest der Farben in Indien, und es war Vollmond. So bescheiden wie sie gelebt hatte, so bescheiden war auch ihre Bestattung.
Ihr wegweisender Aufruf zu einem ganzheitlichen Menschsein und ihr revolutionäres und kompromissloses Leben können vielen Menschen Mut machen. Auch denen, die ihre Person und ihr Werk erst jetzt, über ihre Bücher, Videos oder den Dokumentarfilm Im Feuer der tanzenden Stille – Reflexionen mit Vimala Thakar kennenlernen dürfen.
— — —
Weitere Informationen unter www.vimalathakar.world und www.vimalathakar.com
Der Dokumentarfilm Im Feuer der Tanzenden Stille – Reflexionen mit Vimala Thakar von Renata Keller zeichnet ein einfühlsames Portrait von Leben und Denken der großmütigen Inderin. Er ist als Video-on-Demand zu sehen unter www.imfeuerdertanzendenstille.de. Den Trailer zum Film können Sie hier anschauen: