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Al-Hakim at-Tirmidhi
Das Licht des Herzensverstandes strahlt grenzenlos
Marmor-Sagana über dem Grab von al-Hakim at-Tirmidhi in Termizi im Süden Usbekistans. Quelle: Eddie Gerald / Alamy Stock Foto
In seinem Traktat Über das Herz (Bayan al-farq) entwickelt der Mystiker und Theosoph al-Hakim at-Tirmidhi (gestorben ca. 922) ein spirituell-psychologisches System der Interaktion zwischen dem Herzen (qalb) und dem Selbst (nafs), dessen Konzepte und Begrifflichkeiten er aus einem tiefen sufischen Verständnis des Korans und der Überlieferung (hadith) herleitet. Ein Ausschnitt aus der kommentierten Übersetzung dieses wichtigen Werks aus der Frühzeit des Sufismus von Nicholas Heer
isse, dass die Tiefe der Gewässer des Herzens grenzenlos ist und die Vielfalt seiner Flüsse ohne Zahl. Weise Menschen (hukama’) gleichen Tauchern in diesen Gewässern und Wasserschöpfern und Fischern an diesen Flüssen. Jeder von ihnen findet darin und bringt daraus hervor im Maße dessen, was Gott ihm gewährt. […]
Die Autorität des Selbst ist lediglich auf die Brust beschränkt.
Das Herz ist der König und das Selbst ist sein Königreich
Der Gesandte Gottes sagte: »Die Taten werden entsprechend dem Vorsatz bewertet«,[1] und erklärte, dass der Wert einer vom Selbst (nafs) ausgeführten Tat entsprechend der Herzensabsicht zunimmt. So wird eine gute Tat gemäß der Absicht gewertet. Das Handeln gehört dem Selbst; und die Autorität des Selbsts ist lediglich auf die Brust beschränkt in Übereinstimmung mit der Absicht des [äußeren] Herzens und seiner Autorität. Doch das Herz ist aufgrund der Gnade Gottes nicht in der Hand des Selbsts, denn das Herz ist der König und das Selbst ist [sein] Königreich. […]
Er wies darauf hin, dass die Gesundheit der Organe [des Körpers] von der Gesundheit des Herzens abhängt und deren Verderben vom Verderben des Herzens. Das Herz gleicht einem Docht, und die Tadellosigkeit des Dochtes [wird gemessen an] seinem Licht; und dieses Licht ist [in Bezug auf das Herz] das Licht der Gottesfurcht (taqwa) und der Gewissheit (yaqin), denn fehlte dem Herzen dieses Licht, wäre es wie eine Lampe, deren Docht erloschen ist. Keine Handlung, die vom Selbst stammt ohne [Beteiligung durch] das Herz, wird vor dem jenseitigen Gericht angerechnet, und der oder die so Handelnde [2] wird nicht zur Rechenschaft gezogen, falls es ein Akt des Ungehorsams, noch belohnt, falls es ein Akt des Gehorsams gewesen sein sollte. Gott sagte: »Er belangt euch vielmehr wegen dessen, was euer Herz begeht.« [3]
Wann immer ein Mensch begünstigt wird, zuerst wird sein inneres Herz begünstigt.
Der Herzensverstand ist der Sitz des Lichts der Vereinigung
Das Gleichnis des inneren Herzens (fu’ad), der dritten Station innerhalb des Herzens, entspricht dem Gleichnis der Pupille im schwarzen Teil des Auges, dem der Heiligen Moschee (al-Masdschid al-Haram) in Mekka, dem des Schranks oder der Vorratskammer im Haus, dem des Dochtes an seiner Position inmitten der Lampe und dem des Kerns im Inneren der Mandel. Dieses innere Herz ist der Sitz der Erkenntnis (ma‘rifa), der gedanklichen Eingebungen (khawatir) und der Schau (ru’ya). Wann immer ein Mensch begünstigt wird, zuerst wird sein inneres Herz begünstigt, dann sein Herz. Das innere Herz liegt mitten im eigentlichen Herzen (qalb), welches seinerseits inmitten der Brust sitzt, so wie die Perle im Inneren der Muschel liegt.
Das Gleichnis des Herzensverstandes (lubb) im inneren Herzen (fu’ad) entspricht dem Gleichnis des Lichts der Vision im Auge, dem des Lampenlichts im Docht der Lampe sowie dem des Fetts, das im Mandelkern verborgenen ist. Jedes dieser äußeren Dinge ist ein Schutz und eine Hülle dessen, was ihm auf seiner Innenseite folgt. Jedes gleicht den anderen, denn sie sind ähnliche Gebilde, die zusammenarbeiten und miteinander bedeutungsverwandt sind. Eher stimmen sie miteinander überein, als dass sie sich widersprechen, denn sie sind die Lichter des Glaubens (anwar ad-din), und der Glaube ist eins, obwohl die Stellungen seiner Leute unterschiedlich und mannigfaltig sind. Der Herzensverstand ist der Sitz des Lichts der Vereinigung (nur at-tauhid) wie auch des Lichts der Einzigartigkeit (nur at-tafrid), und dieses ist das vollkommenste Licht und die größte Kraft.
Glaube ist das Bewahren des Geheimnisses und die Betrachtung der Gabe.
Vereinigung ist ein Geheimnis, und Erkenntnis ist eine Gabe
Jenseits davon gibt es weitere subtile Stationen (maqamat latifa), edle Orte (amkina scharifa) und vornehme Feinheiten (lata’if zarifa). Die Wurzel all dieser ist jedoch das Licht der Vereinigung (nur at-tauhid), denn Vereinigung ist ein Geheimnis (sirr), und Erkenntnis ist eine Gabe (birr). Glaube (iman) ist das Bewahren des Geheimnisses und die Betrachtung (muschahada) der Gabe.[4] Islam bedeutet Danksagung (schukr) für die Freigiebigkeit und Hingabe des Herzens an das Geheimnis, denn Vereinigung ist ein Geheimnis, [zu welchem] Gott Seine Dienerinnen und Diener führt und leitet, denn sie vermöchten es kraft ihres Verstandes (‘aql) nicht zu verstehen, ohne dass Gott sie unterstützte und belehrte.
Erkenntnis (ma‘rifa) ist eine Gabe, die Gott Seinen Dienern und Dienerinnen schenkt, wenn Er ihnen die Pforten des Segens und des Wohlwollens öffnet, zu Beginn, ohne dass die Dienerinnen und Diener dessen würdig wären; dann lässt Er ihnen Führung zuteilwerden, bis sie glauben, dass all dies von Gott stammt und ihnen gewährt wird als Gnade und Wohlwollen Dessen, Dem sie unfähig sind zu danken, außer mittels Seiner Hilfe. Und dies ist eine weitere Gunst, die Er ihnen gewährt.
So betrachten sie die Freigiebigkeit Gottes und bewahren Sein Geheimnis (sirr), denn Er ist der Gewährer von Unterstützung. Die Diener und Dienerinnen begreifen nicht die Art und Weise (kayfiya) Seiner Herrschaft (rububiya). Doch sie wissen, dass Er einer ist, und vermeiden es, Ihm Attribute zuzuschreiben (taschbih) [5] oder abzusprechen (ta‘til),[6] Ihm eine Art und Weise zu unterstellen (takyif) oder der Ungerechtigkeit zu bezichtigen (tadschnif). Das also ist Glaube, der die Freigiebigkeit [Gottes] betrachtet und das Geheimnis [von Ihm] bewahrt. […]
»Wir suchen Zuflucht bei Gott vor dem Heuchler mit seinem Zungenwissen und seiner Herzensignoranz.«
Wissen ist von zweifacher Art
Jede Wissenschaft (‘ilm), die vom Selbst erlangt und in der Brust getragen wird, vergrößert den Stolz (takabbur) und die Überheblichkeit (taraffu‘) des Selbsts, und dieses weigert sich, die Wahrheit anzuerkennen. So wächst mit dem Wissen des Selbsts auch sein Hass (hiqd) auf seine Geschwister, und seine Eitelkeit (batil) und Herrschsucht (tughyan) werden hartnäckiger. Der Gesandte Gottes sagte: »Wahrlich, dieses Wissen besitzt eine Herrschsucht wie die Tyrannei des Reichtums.« [7] […]
Bedenke, was der Gesandte Gottes sagte: »Wissen ist von zweifacher Art: Wissen auf der Zunge (‘ilm bi al-lisan), welches Gottes Beweisgrund (hudschdschat Allah) [8] gegenüber Seiner Schöpfung ist, und Wissen im Herzen (‘ilm bi al-qalb), welches das nützliche Wissen (‘ilm an-nafi‘) ist.« [9] Einst suchte der Gesandte Gottes Zuflucht bei Ihm mit den Worten: »Oh mein Gott! Wahrlich, ich flüchte zu Dir vor unnützem Wissen.« [10] Auch sagte er: »Wir suchen Zuflucht bei Gott vor dem Heuchler mit seinem Zungenwissen (‘alim al-lisan) und seiner Herzensignoranz (dschahul al-qalb).« [11]
All dies belegt, dass [das Wissen], was eine solche Person durch [den Sinn des] Gehör[s] besitzt, lediglich Gottes Beweisgrund für das Selbst ist. Mit ihm kauft sie sich diese Welt und verzichtet auf die Religion, die ihr von größerem Nutzen wäre. Und sie handelt auch nicht in Übereinstimmung mit diesem Wissen, bis Gott ihr etwas von jenem nützlichen Wissen offenbart. Vom Gesandten Gottes wird der Ausspruch überliefert: »Wer auch immer in Übereinstimmung handelt mit dem, was er weiß, dem vermacht Gott das Wissen über das, was er nicht weiß.« [12] […]
Teile des Lichtverses als Verzierung einer Standartenbekrönung, Safawiden-Dynastie, Iran, um 1700. Quelle: Wikimedia Commons
Ein Gleichnis für das Herzenslicht
Wisse, möge Gott dir gnädig sein, dass es in der gesamten Schöpfung Gottes nichts Besseres gibt als ein Herz, das durch die Lichter der Vereinigung (tauhid), der Erkenntnis (ma‘rifa) und des Glaubens (iman) tugendhaft geworden ist, noch gibt es etwas Geläuterteres, Reineres, Frömmeres, Wahreres oder Umfassenderes [als ein Herz], wenn Gott dieses von Verunreinigungen geläutert und es im Licht der Wahrheit (nur al-haqq) wiederbelebt, es umsorgt und beschützt und ihm Wohltaten gewährt hat. Derart ist das Herz der Gläubigen, und dessen Lichter strahlen grenzenlos. […]
Gott hat uns in einem Gleichnis ein Beispiel für dieses Herzenslicht der Gläubigen gegeben, indem Er sagte:
»Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist. Die Lampe ist in einem Glas. Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum, weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet, auch ohne, dass das Feuer es berührt hätte. Licht über Licht. Gott führt zu Seinem Licht, wen Er will, und Gott führt den Menschen die Gleichnisse an. Und Gott weiß über alle Dinge Bescheid.« [13]
Jene, die mit Gottes Hilfe und mit dem Ziel nachdenken, um etwas vom Sinn dieses kunstvollen Verses zu verstehen, werden von Beginn bis zum Ende des Buches [14] das finden, was sie zu einer Erklärung seiner Bedeutung führt. Gott jedoch weiß am meisten. Danach sagte Gott: »Und wem Gott kein Licht verschafft, für den gibt es kein Licht.« [15]
Anmerkungen
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[1] Ein Hadith, der verzeichnet wird von al-Bukhari (bad’ al-wahy 1, al-iman 52, al-‘itq 2344, al-manaqib 3609, an-nikah 4682, al-ayman wa an-nudhur 6195, al-hiyal 6349), von Muslim (al-imarah 3530), von at-Tirmidhi (fada’il al-dschihad 1571), von an-Nasa’i (at-tahara 74, at-talaq 3383, al-ayman wa an-nudhur 3734), von Abu Dawud (at-talaq 1882), von Ibn Madscha (al-zuhud 4217) und von Ahmad ibn Hanbal (musnad al-‘aschara al-mubaschscharin bi al-dschanna 163, 283). Siehe auch Wesnick: Concordance, VII, 55.
[2] Der Autor verwendet, wie zu seiner Zeit und in seiner Kultur üblich, zumeist das (generische) Maskulinum von funktionalen Personenbezeichnungen, wie »der Diener«, »der Gläubige« und so weiter. Wir haben uns in diesen Fällen, im Hinblick auf die heutigen Lesegewohnheiten, dazu entschieden, die männliche Form um die in diesen Fällen selbstverständlich immer mitgemeinte weibliche zu ergänzen oder den Plural zu verwenden [A.d.d.Ü].
[3] Koran 2:225 KP.
[4] Muschahada, »Kontemplation« oder »Betrachtung«, ist ein Zustand, in dem der oder die Sufi Gott zu schauen vermag, Seine Eigenschaften und Taten sowie Seine unsichtbare Welt, einschließlich des Paradieses und des Höllenfeuers. Ein kurzes Kapitel über die Kontemplation findet sich in der Kaschf al-mahdschub von al-Hudschwiri, auf Seiten 329–333 in Reynold A. Nicholsons Übersetzung. Siehe auch Nicholsons Ausgabe des Kitab al-luma‘ von al-Sarradsch, Seiten 68–69.
[5] Das heißt, Ihn mit etwas zu vergleichen, das anders wäre als Er.
[6] Das heißt, Seine Eigenschaften zu verleugnen.
[7] Eine Überlieferung, die sich nicht in den traditionellen Hadith-Sammlungen findet.
[8] Wie es von Gott Seinen Propheten offenbart wurde; siehe Koran 6:83 und 6:149.
[9] Ein Hadith, der verzeichnet wird von ad-Darimi (al-muqaddima 367). Siehe auch al-Muttaqi: Kanz al-‘ummal, V, Nr. 4050 und 4338–4339; sowie as-Sulami: Kitab al-arba‘in fi at-tasawwuf, Seite 5.
[10] Teil eines Hadith, der verzeichnet wird von Muslim (al-dhikr wa al-du‘a’ 4899), von an-Nasa’i (al-isti‘adha 5347, 5363, 5375, 5443), von Abu Dawud (as-sala 1324), von Ibn Madscha (al-muqqadima 246) sowie von Ahmad ibn Hanbal (musnad al-kufiyin 18503, 18590). Siehe auch al-Muttaqi: Kanz al-‘ummal, I, Nr. 3633.
[11] Eine zum Teil ähnliche Überlieferung wird verzeichnet von Ahmad ibn Hanbal (musnad al-‘aschara al-mubaschscharin bi al-dschanna 137, 293). Siehe auch al-Muttaqi: Kanz al-‘ummal, V, Nr. 4440–4441, 4793 und 4801.
[12] Eine Überlieferung, die sich nicht in den traditionellen Hadith-Sammlungen findet.
[13] Der berühmte Lichtvers, Koran 24:35 KK.
[14] Das heißt des Korans.
[15] Koran 24:40 KK.
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