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Roger Lipsey | Dag Hammarskjöld
Selbsterkenntnis, Demut und emotionale Lernfähigkeit im Dienst der Menschlichkeit
Dag Hammarskjöld am 15. September 1961, zwei Tage vor seinem Tod, in Léopoldville (dem heutigen Kinshasa) an einem Empfang zu seinen Ehren mit (v.l.) dem kongolesischen Premieminister Cyrille Adoula und dem Vizepremier Antoine Gizenga. Quelle: UN Photo
Ein Kapitel aus Roger Lipseys Buch Politik und Gewissen – Dag Hammarskjöld über Leadership und die Kunst der ethischen Führung
Roger Lipsey über Dag Hammarskjöld [/], den parteilosen schwedischen Diplomaten, zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen [/] und spirituellen Denker und Autor, der vor sechzig Jahren auf einer Friedensmission in Afrika unter mysteriösen Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam
n Kapitel 13 sind wir Hammarskjölds Betonung von geistiger Reife begegnet, die im modernen politischen Diskurs einzigartig ist. Dasselbe gilt für den Wert und die Notwendigkeit von Selbsterkenntnis, auf die keine politische Führungsfigur aus unserer Zeit einen vergleichbaren Akzent gesetzt hat. Für ihn war es das fehlende X in der Gleichung für wahre Leadership. Es ist, als sei ihm bei der Betrachtung der unzähligen Charakteristiken politischer Arbeit und politischer Akteure etwas aufgefallen, das dem allgemeinen Augenmerkt praktisch entgangen war. Etwas in dieser Richtung sagte er Ende Frühjahr 1954 den Studenten und Studentinnen am Amherst College:
Allzu oft beschränken sich unser Lernen, unsere Erkenntnis und unsere Meisterschaft auf Techniken und wir vergessen darüber den Menschen als solchen. […] Wenn ich in dem Zusammenhang von »Erkenntnis« spreche, meine ich nicht die, die wir aus Lehrbüchern erlangen können, sondern jene Erkenntnis, die wir ausschließlich dem Studium unserer selbst und unserer Mitmenschen verdanken, einem Studium, das inspiriert ist von aufrichtigem Interesse und das mit Demut verfolgt wird.
Die Tür zum Verständnis des Gegenübers, mit dem Sie es vielleicht im Geschäftsleben, in der Politik oder auf dem internationalen Parkett zu tun haben werden, besteht in einem besseren Verständnis Ihrer selbst, denn die andere Seite ist grundsätzlich natürlich aus demselben Stoff gemacht wie Sie.
Daher ist in einer praktisch zusammengewachsenen Welt keine Ausbildung umfassend, die nicht den Menschen selbst mit einschließt und die nicht geleitet wird von der Anerkenntnis der Tatsache, dass Sie Ihren Feind nicht werden verstehen können, ohne dass Sie sich selbst verstehen, und dass das Verstehen Ihres Feindes auch ein erhellendes Licht auf Sie selbst und Ihre eigenen Motive werfen wird.[1]
Diese Rede hielt er rund vierzehn Monate nach seinem Amtsantritt. Auch in einem der letzten Briefe, die er schreiben sollte, in der ersten Septemberwoche 1961, blieb das Thema zentral. Es war ein Empfehlungsschreiben für den Autor John Steinbeck [/], der schon bald zu einer weltweiten Lesereise aufbrechen wollte. »[John Steinbeck] ist […] einer jener Beobachter des Lebens in unserer Generation, der spürt, dass deren Überleben von unserer Fähigkeit abhängen wird, uns selbst zu erkennen und uns, koste es, was es wolle, entschlossen an grundlegende menschliche Werte zu halten.«[2]
Hammarskjöld war bewusst, dass er zu bestimmten Themen – darunter auch diesem – immer wieder zurückkehrte, und er versuchte, sie interessant zu halten. Doch er wusste, dass er sich letztlich auf mehr als nur Worte verlassen konnte: »Bestimmt werden Sie mich noch viele weitere Predigten halten hören, bevor ich jene überzeugt haben werde, falls ich das jemals schaffen sollte, die ich überzeugen möchte. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wenn nicht ich sie überzeuge, es die Ereignisse tun werden.« [3]
Ein Kapitel aus Roger Lipseys Buch Politik und Gewissen – Dag Hammarskjöld über Leadership und die Kunst der ethischen Führung
»Erfahrungen von Interessenkonflikten zwischen dem gesunden, anständigen Menschenverstand und der Dummheit von Individuen, die unter persönlichem oder ›nationalem‹ Prestigedenken schwanken.«
In der bunten Welt am UN-Hauptsitz war es nicht immer einfach – natürlich war es das nicht –, vernünftig, konzentriert und verantwortungsbewusst zu bleiben. Einen Monat nach seiner dortigen Ankunft im Jahr 1953 beschrieb er die Szenerie in einem Brief an einen Freund als »eine Art Tausendundeine Nacht. Genauso grausam und vulgär auf der einen Seite, aber auch ebenso menschlich reich auf der anderen.« [4] Bis zu einem gewissen Punkt können wir nachverfolgen, wie sich seine Einschätzung im Laufe der Zeit veränderte. Ein weiterer Brief aus dem Spätwinter 1958 klingt, um es vorsichtig zu sagen, etwas weniger lebhaft:
Ich möchte dir von der täglichen Arbeit hier erzählen mit ihrem eindrücklichen Ertrag an Erfahrungen von Interessenkonflikten zwischen dem gesunden, anständigen Menschenverstand und der Dummheit von Individuen, die unter persönlichem oder »nationalem« Prestigedenken schwanken in einer Welt, in der der Aktienkurs eines Politikers an der öffentlichen Meinungsbörse steht und fällt mit dem Eindruck, den er jeden Tag in den Schlagzeilen macht.[5]
Drei weitere Jahre später, im Frühling 1961, hatte er seinen Sinn für Humor noch nicht verloren, doch die Szenerie war noch immer grausam und vulgär, wenn auch weiterhin menschlich reich. Einem Freund, mit dem er vollkommen offen sein konnte, schrieb er:
Um sechs Uhr heute früh haben wir die fünfzehnte Sitzung der Vollversammlung zu Grabe getragen nach verschiedenen politischen und moralischen Stripteasenummern – vorgetragen von einigen nicht sehr gut gebauten Persönlichkeiten. Nun sollte ich mich wohl für vierundzwanzig Stunden etwas »ausruhen«, bevor ich versuchen werde, all das aufzuräumen, was in Unordnung gebracht wurde während dieser eigenartigen Sitzung, die zumindest aus meinem Blickwinkel durchaus fruchtbar war.[6]
»Wähle, wen du dir zu deinen Gegnern nimmst. Dir Gedanken zu machen über die falschen, kannst du dir nicht leisten; aber den richtigen musst du helfen, hilf ihnen und dir selbst in einem Wettstreit ohne Anspannung.«
Von Zeit zu Zeit musste Hammarskjöld sich selbst ins Gebet nehmen, um die Selbstdarstellungen der unsympathischsten Mitglieder seiner säkularen Pfarrgemeinde am UN-Hauptsitz zu tolerieren. »Die ›Männer der Stunde‹, die Selbstsicheren, die unter uns einherstolzieren im klimpernden Geschirr ihres Erfolges und ihrer Wichtigkeit – wie kannst du dich von denen reizen lassen? Lass sie sich an ihrem Triumph erfreuen – auf der Stufe, auf die er gehört.« [7]
Er scheint sie sich als Zirkuspferde vorgestellt zu haben. Eine von Hammarskjölds Selbstermahnungen hinsichtlich der Männer in klimperndem Geschirr schwingt deutlich tiefer als die soeben vernommene unterhaltsame, gereizte Bemerkung. Hier taucht er sozusagen tiefer ein, weit hinab unter den Witz, die Gereiztheit oder jede oberflächliche Attitüde, und macht eine eindrucksvolle Entdeckung. »Wenn du gereizt bist von seiner ›hochgestochenen‹ Art«, schrieb er in sein Tagebuch, »offenbarst du den Charakter deiner eigenen; dann muss es ja so sein, dass er wächst und du schrumpfst. Wähle, wen du dir zu deinen Gegnern nimmst. Dir Gedanken zu machen über die falschen, kannst du dir nicht leisten; aber den richtigen musst du helfen, hilf ihnen und dir selbst in einem Wettstreit ohne Anspannung.« [8]
In diesem komplexen Gedankengang drückt sich seine ganze Orientierung als politisch aktiver Mensch aus. Zuerst anerkennt er seine eigene emotionale Verletzlichkeit; als Nächstes übt er Selbstkritik; dann akzeptiert er sich, fast ein wenig sich selbst zum Trotz, so als ob das Unvermögen, sich über kleinliche Gefühle zu erheben, nichts Besseres verdiene, als dass man selbst kleiner werde, während der Widersacher wächst; und schließlich folgt die reine Magie des tieferen Verstehens und erneuerten Engagements.
Dag Hammarskjöld an einer Pressekonferenz im UN-Hauptsitz am 29. Mai 1961. Foto: UN Photo
Wähle deine Gegner, aber vergeude nicht deine Zeit mit dem Vertreiben der Hunde, wie wir es weiter oben ausgedrückt haben. Was bedeutet es, den richtigen Gegnern zu helfen, was soll das heißen, ihnen und dir selbst in dem zu helfen, was er einen »Wettstreit ohne Anspannung« nennt? Welche vorherige Disziplin bereitet dich auf einen solchen Wettkampf vor? Ist das nicht viel zu anstrengend, als dass es eine spontane, unvorbereitete Haltung sein könnte?
Ich stelle all diese Fragen, weil ich denke, dass jeder, der die Situation kennt, mit der dieser nachdenkliche Tagebucheintrag beginnt, auch erkennen wird, dass die Antworten nur sehr individuell sein können und der persönlichen Erfahrung entspringen müssen.
Zu Beginn dieses Vademecums haben wir uns gefragt, was Hammarskjöld damit gemeint haben könnte, dass wir geistig frei sein sollten. Diese Passage liefert dazu einen weiteren Hinweis. Auffallend sind dabei Elemente der christlichen Lehre, sowohl die Demut als auch Jesu Ratschlag der Feindesliebe. Aber auch Elemente aus der Bhagavad Gita, einer Schrift aus dem Hinduismus, die Hammarskjöld sehr vertraut war – und wahrscheinlich ebenso Elemente aus den chinesischen Klassikern. Ich weiß nicht wo, wenn nicht in asiatischen Quellen, er erstmals mit der Vorstellung der Entspannung und inneren Ruhe im Angesicht von Konflikten in Berührung gekommen war. Jedenfalls lebten diese uralten Traditionen in ihm wieder auf. Er hatte sie sich selbst erschlossen – ein psychologischer wie auch ein spiritueller Gewinn –, doch es war ebenso eine Einladung an andere, dieses Terrain zu erforschen.
Die Demut, die sich einstellt, weil andere dir vertrauen
Schon seit Beginn seiner Karriere als globale Führungsfigur hatte Hammarskjöld viel über Demut nachgedacht. Auch wenn er aufstieg, wollte er sich instinktiv seine Fähigkeit bewahren, wieder zu fallen – zurück in eine innere Freiheit, von der er wusste, dass sie mit Demut zusammenhing. Die erste diesbezügliche Einsicht in seinem Tagebuch könnte kaum schlichter formuliert sein: »Die Demut, die sich einstellt, weil andere dir vertrauen.« [9]
»Ich wusste nur eins, und zwar, dass niemand mehr zu tun vermag als das, was in seiner Macht steht; und meine einzige Absicht war, genau so viel zu tun.«
Später in seiner Amtszeit als Generalsekretär kehrte er zu dem Thema zurück, wiederum schlicht und mitfühlend: »Deine Stellung gibt dir niemals das Recht zu befehlen. Sie auferlegt dir lediglich die Pflicht, so zu leben, dass andere deine Anweisungen annehmen können, ohne gedemütigt zu werden.« [10]
Im Gespräch mit seinen Sekretariatskollegen und -kolleginnen zu Beginn seiner zweiten Amtszeit im April 1958 erinnerte er sich seiner Empfindungen bei seinem Amtsantritt fünf Jahre zuvor:
Ich wusste nur eins, und zwar, dass niemand mehr zu tun vermag als das, was in seiner Macht steht; und meine einzige Absicht war, genau so viel zu tun. […] Ich wusste, es gibt eine Sache, die ein Mensch niemals verlieren sollte, und zwar seine Selbstachtung. Und falls da auch nur etwas war, […] was ich mir vor fünf Jahren selbst versprach, dann war es dies: Was auch geschieht, bleib dir selber treu, sodass du mit dem zufrieden sein kannst, was du getan hast, wie auch immer es ausgeht.[11]
Was für ein Zeugnis von Bescheidenheit.
Bei einer Gelegenheit rückte Hammarskjöld das Thema der Demut in einen Kontext, der mehr mit seinem spirituellen Weg zu tun hatte – seinem Weg eines Politikers. Darum soll es im nächsten Kapitel gehen, doch ein Teil jenes Statements gehört hierhin. Es drückt in klassischen Begriffen die Versöhnung aus zwischen der Demut und all dem, was erreicht werden muss – was sozusagen uns braucht, damit es erreicht werden kann. Im folgenden Zitat bedeutet »Zurückhaltung« nicht Selbsterniedrigung; es bedeutet eine radikale Abwesenheit von Egotismus und eine vollständige Anwesenheit von tauglicher Intelligenz. An seinem vierundfünfzigsten Geburtstag schrieb er in sein Tagebuch:
In der Zurückhaltung der Demut ein Nichts zu sein; und dennoch um der Aufgabe willen ihr ganzes Gewicht und ihre Dringlichkeit in deinem Verhalten zu verkörpern als derjenige, der aufgerufen ist, sie zu erledigen. […] Über ein solches Leben fegen die Windstöße von Lob und Tadel, von Erfolg und Missgeschick hinweg, ohne eine Spur zu hinterlassen oder sein Gleichgewicht zu stören.[12]
Im Mai 1956 in einem Kindergarten in Israel. Foto: UN Photo
Das Ideal mag allzu hoch sein, manchmal auch für ihn, doch so sind nun mal Ideale und das, was sie interessant macht. Die Einsicht, dass die Aufgabe uns alles abverlangt, dafür aber Würde verleiht, scheint mir bewahrenswert. Würde und Gewicht gehören zur Aufgabe, und aus diesem Grund sind wir selbst tief in unserem Inneren von den Auswirkungen von Lob und Tadel frei. Die Möglichkeit dieser Freiheit ist keine geringe Sache – und keine Ironie bezüglich unserer Grenzen und keine Selbstkritik können sie verbauen. »Eins mit deiner Aufgabe, ganz in deiner Pflicht der Stunde.« [13] Worte aus dem Jahr 1957 mit einem weiteren Aufruf – an sich selbst und an alle.
Emotionale Lernfähigkeit
Der politische Alltag kann oder sollte eine andauernde Schulung sein. Zweifellos ist Bildung zum Teil intellektuell: Politisches Führungspersonal, das seinen Job gut machen soll, muss sich zunächst einmal neue Kenntnisse aneignen als Basis für richtige und vernünftige Entscheidungen. Brian Urquhart [/][ein Mitarbeiter und späterer Biograf von Hammarskjöld] schreibt, wie überrascht er gewesen sei von Hammarskjölds Fähigkeit, auch auf unzugänglichen Gebieten genügend Bescheid zu wissen – etwa über die Versicherungspraktiken im Seefrachtgeschäft auf dem Suezkanal [/] oder über die Technologie von Atomwaffen –, um bei wichtigen Entscheidungen eine Rolle spielen zu können. Alle öffentlichen Führungsfiguren stehen vor der Herausforderung, Neues zu lernen. Aber es braucht noch etwas mehr: emotionale Lernfähigkeit.
Ich habe den Eindruck, Hammarskjöld bewegte sich als UN-Generalsekretär auf einer emotionalen Lernkurve, die ihn selbst überraschte; sie war nicht vorhersehbar. Obwohl er als privilegierter Sohn eines Premierministers nie Not an Leib und Leben gelitten hatte, musste er sich als junger Mann verschiedentlich aus heftigsten Gefühlsstürmen retten und in Sicherheit bringen. Und er besaß eine ausgeprägte Fähigkeit und mühelose Art, Freunde zu finden. Auf all dies konnte er zurückgreifen, als er zu den Vereinten Nationen kam. Es war der Beginn seiner emotionalen Reife.
»Es ist unsere Pflicht, für einen Krieg in einem abgelegenen Teil der Welt eine ebensolche moralische Verantwortung zu empfinden, wie wir es im Falle eines Krieges täten, in welchem wir selbst oder Menschen, die uns nahestehen, in einem physischen Sinne direkt betroffen wären.«
Doch seine Begegnungen mit der bitteren Not der einfachen Menschen auf seinen Missionen rund um die Welt erschütterten ihn tief und lehrten ihn viel. In einer Rede im Winter 1954, noch vor Beginn seiner intensiven Reisetätigkeit, hatte er vor einer Gruppe von Studentinnen und Studenten das menschliche Leid bereits aus dem Blickwinkel einer gewissen Vertrautheit zum Thema gemacht: »Es ist unsere Pflicht, für einen Krieg in einem abgelegenen Teil der Welt eine ebensolche moralische Verantwortung zu empfinden, wie wir es im Falle eines Krieges täten, in welchem wir selbst oder Menschen, die uns nahestehen, in einem physischen Sinne direkt betroffen wären.« [14]
Doch ein Tagebucheintrag über ein Jahr danach belegt, dass sich in der Zwischenzeit etwas in ihm verändert hatte. Sein Entschluss, so bewusst wie möglich zu sein, hatte bei ihm zu einer neuen Empathie geführt, zu einem größeren Vermögen, über die Grenzen seiner eigenen Person hinaus zu fühlen und zu verstehen. Mit Zitaten eines schwedischen Dichters und aus dem Markusevangelium 4.25 hielt er eine Entdeckung fest:
»Jene, die gezeichnet sind vom Leiden, jene, die geschaut haben…« – Wenn du dich dafür entscheidest, vermagst du, in deren Bewusstsein einzutreten und – ohne durch ihre harte Schule gegangen zu sein – zu lernen, wie einer zu sehen und zu hören, »der nicht hat« und »dem man auch das nehmen wird, was er hat.« [15]
Vielleicht ist dies eine Mythenbildung; doch anders geht es nicht – selbst ins Innere eines eifrigen und eloquenten Tagebuchschreibers können wir nur bis zu einem gewissen Punkt hineinblicken. Doch etwas hatte sich dort verändert, und sollte sich im Laufe der Zeit noch weiter vertiefen.
Im Februar 1956 auf einer Wanderung in Neuseeland mit seinem Kommunikationschef George Ivan Smith. Foto: UN Photo
Dafür gab es einen schönen Moment der Bestätigung anlässlich einer Pressekonferenz, die er kurz nach seiner Rückkehr von einer Reise rund um die Welt im Winter 1956 abhielt. Er begann mit Gedanken, von denen er sagte, »sie besitzen keinen Neuigkeitswert, sind aber von beträchtlicher Wichtigkeit für mich selbst und für meine Reaktionen.« Er fuhr fort:
Diese Reise war eine große emotionale Erfahrung. Sie war eine emotionale Erfahrung, weil sie mich in Kontakt mit Menschen in sehr vielen Mitgliedsländern brachte, und zwar auf eine Weise, die erheblich beigetragen hat zu meinem Verständnis der menschlichen Aspekte jener Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben. Ich erinnere mich an sehr viele Persönlichkeiten und sehr viele Situationen. Ich erinnere mich an den Enthusiasmus, die schiere Begeisterung der Jugendlichen in den Kibbuzim in Israel. Ich erinnere mich an die alte, einsame Frau in einem Flüchtlingslager in Beirut, ihre Angst vor Menschen, ihre Müdigkeit. Ich erinnere mich an die jungen Arbeiter in einem indischen Dorf, die am Ende eines langen Tages in einen Tanz ausbrachen mit einer Lebensfreude, die über alles hinausging, was ich jemals gesehen habe. Ich erinnere mich an die betagten Frauen in der Friedenspagode in Rangun, die mit Blumen in den Händen für Frieden beteten – mittellose, arme Menschen, die nicht viel kennen vom Lauf dieser Welt, aber wissen, dass sie ohne Frieden keine Zukunft haben.[16]
Manchmal sollte man die Vorstellung eines Kodexes [des politischen Verhaltens] beiseitelegen. Die Erfahrungen von bewussten und menschlichen politischen Führungspersönlichkeiten gehen über alles Formelle und alle festgelegten Strukturen hinaus. Doch wenn man ein zweites Mal hinschaut, nachdem man sich eingestanden hat, was gewissenhafte Politiker erreichen und was solche Männer und Frauen verstehen können, erkennt man, dass sie den Kodex tatsächlich erweitert, ihm neue Dimensionen und Farben verliehen haben.
© Roger Lipsey 2020
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag 2021
Webseiten zum Thema
www.daghammarskjold.se – Die Webseite der Dag-Hammarskjöld-Stiftung in Uppsala bietet umfassendes Material zu Hammarskjölds Leben und Werk.
www.dag-hammarskjold.net – Die Webseite von Roger Lipsey widmet sich der Politik Hammarskjölds während seiner Jahre bei den Vereinten Nationen.
Anmerkungen
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[1] »Ansprache zum Semesterbeginn am Amherst College vom 13. Juni 1954 in Amherst, Massachusetts« in Public Papers of the Secretaries-General of the United Nations, New York: Columbia University Press, 1972–1975, fünf Bände [hier abgekürzt PP], PP2, Seiten 303–304.
[2] Brief an David Ben-Gurion vom 5. September 1961, Archiv der Königlichen Bilbiothek zu Stockhlom [nachfolgend KB].
[3] »Abschrift einer Pressekonferenz vom 22. Dezember 1955 in New York« in PP2, Seite 637.
[4] Brief an Bo Beskow vom 3. Mai 1953, KB.
[5] Brief an Eyvind Johnson vom 12. März 1958, KB.
[6] Brief an Bo Beskow vom 22. April 1966, KB.
[7] Tagebuch, 30. August 1956.
[8] Tagebuch, 25. Dezember 1955.
[9] Tagebuch, 1953.
[10] Tagebuch, 1955.
[11] »Personalversammlung zu Beginn seiner zweiten Amtszeit am 10. April 1958 in New York« in PP4, Seite 66.
[12] Tagebuch, 29. Juli 1959.
[13] Tagebuch, 6. Oktober 1957.
[14] »Aus einer Rede an der Abschlussfeier der University of Pennsylvania, Philadelphia, 13. Februar 1954« in PP2, Seite 256.
[15] Tagebuch, 1. August 1955, mit einleitenden Zeilen aus einem Gedicht von Hjalmar Gullberg.
[16] »Abschrift einer Pressekonferenz vom 27. Februar 1956 in New York« in PP2, Seite 681.