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Paul Coutinho

Wahrheit: eine Erfahrung, keine Philosophie

Wir brauchen eine lebendigen Beziehung mit dem Göttlichen statt das bloße Praktizieren einer Religion

Reshad Feild mit Scheich Suleyman Dede in Kalifornien 1975.

Foto: Fotolia / Iakov Kalinin

Wahrheit ist, was unser Herz berührt und unser Leben verändert. Mit einem östlichen Blick auf unser westliches Denken ermuntert uns Paul Coutinho zu einer lebendigen Beziehung mit dem Göttlichen statt dem bloßen Praktizieren einer Religion.

ch wurde in Goa geboren und verbrachte die meiste Zeit meines Lebens in Indien. Jedoch habe ich an der Universität von Saint Louis im Herzen Amerikas meinen Doktor in Theologie gemacht und die letzten fünfzehn Sommer damit verbracht, Studenten jeden Alters zu unterrichten. Ich kann Ihnen aus voller Überzeugung versichern, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem östlichen und dem westlichen Verständnis von Wahrheit.

Das westliche Verständnis von Wahrheit ist eine Philosophie; es ist eine Reihe von Ansichten, über die man nachdenken und die man kennen kann. Das östliche Verständnis von Wahrheit ist eine Erfahrung; es ist eine Erfahrung, die der Philosophie widersprechen, der Wissenschaft trotzen und die heiligen Schriften herausfordern kann und dennoch, nach östlicher Auffassung, die Wahrheit ist.

 

Wahrheit ist, was unser Herz berührt und unser Leben verändert

Während meines ersten Semesters als Student an der Uni wurde mir von einem meiner Lehrer entgegnet, ich sei ein Häretiker und werde zur Hölle fahren. Ich hatte zu ihm gesagt: »Ich weiß, dass Jesus eine historische Person ist – ich weiß das. Aber was, wenn uns Schriftgelehrte plötzlich unwiderlegbar erklären würden, dass Jesus niemals existiert habe, dass alles nur ein Mythos sei, eine erfundene Geschichte?« Ich fragte ihn: »Was würde mit Ihnen geschehen?« Mein Lehrer, ein Priester, der seit vielen Jahren Theologie unterrichtete, antwortete: »Wenn diese Gelehrten mir unwiderlegbar beweisen würden, dass Jesus nicht existiert hat, würde ich mein Priesteramt niederlegen, meiner Religiosität abschwören und mein Christentum aufgeben.« Er sagte, er könnte sein Leben nicht auf einem Mythos aufbauen. Dann fragte er mich: »Und was ist mit Ihnen?« Ich antwortete, dass ich weiterhin für den Mythos sterben würde. Mein Lehrer hatte aus seinem westlichen Verständnis von Wahrheit heraus geantwortet, und ich aus meinem östlichen. Wahrheit ist das, was unser Herz berührt und unser Leben verändert.

Nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen ist es so, dass diejenigen, die ohne eine aktive Beziehung zu Gott Religion praktizieren, Wohltätigkeit praktizieren, während diejenigen, die eine Beziehung zu Gott haben, ein Leben im Mitgefühl führen.

Ich möchte Sie einladen, sich selbst die folgenden Fragen zu stellen: Möchte ich einem großen Gott begegnen, einem grenzenlosen Gott? Habe ich den Willen, das Göttliche zu erleben – mit all seinen erstaunlichen und unbeschränkten Möglichkeiten?

 

Wohltätigkeit oder Mitgefühl?

Wie kann jemand in seinem Leben den Unterschied erkennen zwischen dem bloßen Praktizieren einer Religion und der tatsächlichen Entwicklung einer lebendigen Beziehung zu Gott? Nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen ist es so, dass diejenigen, die ohne eine aktive Beziehung zu Gott Religion praktizieren, Wohltätigkeit praktizieren, während diejenigen, die eine Beziehung zu Gott haben, ein Leben im Mitgefühl führen. Um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, was ich mit diesen Wörtern meine, würde ich es so beschreiben: Ich tue Wohltätigkeitsarbeit, wenn ich die Situation selbst steuern kann. Ich kann entscheiden, wem ich helfen will, wie lange ich diesen Dienst ausüben werde und welchen Preis ich bereit bin, dafür zu zahlen. Schlussendlich entscheide ich. Wenn ich hingegen mitfühlend bin, entscheide nicht ich. Nicht ich steuere – ich werde in die Situation hineingezogen. Es ist mir egal, wer diese Person ist oder was sie von mir braucht oder wieviel Zeit ich mit ihr verbringen werde oder welchen Preis ich dafür zu zahlen habe. Die Konsequenzen, die sich aus dem Ruf nach mitfühlendem Handeln im gegenwärtigen Moment ergeben, sind zweitrangig.

 

Machen Sie den Test

Hier ist ein kleiner Test, mit dem Sie herausfinden können, ob Sie eine lebendige Beziehung zu Gott haben oder ob Sie lediglich eine Religion praktizieren: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Passagier auf der Titanic, die gerade am Sinken ist. Dann malen Sie sich aus, wie Sie ganz allein, sicher und geborgen, in einem Rettungsboot sitzen. Um Sie herum kämpfen Kinder darum, sich über Wasser zu halten. Sie sind in der Lage, diese zu fassen zu bekommen und sie alle zu retten. Doch etwas weiter entfernt schwimmen Ihre Angehörigen – Ihr Vater, Ihre Mutter, Ihre Brüder und Schwestern, vielleicht Ihre Kinder, vielleicht der Mensch, mit dem Sie verheiratet sind, vielleicht die Liebe Ihres Lebens. Wenn Sie nicht versuchen, zu ihnen hinzukommen, werden ihre Angehörigen ganz gewiss alle untergehen und ertrinken. Unglücklicherweise können sie nicht die Kinder und Ihre Lieben retten. Wen würden Sie aus dem Wasser ziehen?

Hören Sie nicht auf, wohltätig zu sein, doch bitten Sie um die Gnade, mehr und mehr mitfühlend zu sein. Denn wenn Sie eine Beziehung zu Gott haben, wenn Sie mitfühlend sind, werden Sie Gott überall erfahren.

Nun, wenn Sie die Kinder, die näher bei Ihnen sind, retten und schmerzerfüllt dabei zusehen, wie Ihre Lieben sterben, sind Sie erfüllt von Mitgefühl, das aus einer tiefen Beziehung mit dem Göttlichen stammt. Ihr Gott ist ein unendlicher Gott, Der alle miteinander verbindet und vereint. Wer ist mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern? Jeder ist es. Und wenn Sie Ihre Hand nach Ihren Lieben ausstrecken, weil diese Sie unterstützt und sich um Sie gesorgt haben und Sie sich aufgrund gegenseitiger Zuneigung und Verpflichtung irgendeiner Art mit ihnen verbunden fühlen, ist das gut; doch dann praktizieren Sie Wohltätigkeit, die von Religion herrührt und bei der das Selbst der Beweggrund ist. Diese Handlung der Wohltätigkeit ist gut, doch wir müssen danach streben, das Ideal des Mitgefühls zu verwirklichen.

 

Wie groß ist Ihr Gott?

Lassen Sie uns also um die Gnade bitten, mitfühlend sein zu können. In einer lebendigen Beziehung zu Gott sind wir damit verbunden und davon betroffen, was irgendjemandem in diesem Leben zustößt. Mit einem unendlich großen Gott verblasst die Hautfarbe, verblasst das Glaubensbekenntnis. Gut und Böse verblassen. Wir können hinausschauen über Hautfarbe, über Religion, über das moralisch Richtige oder Falsche einer Person. So wie Jesus sagte: »Ich verurteile die Sünde, doch niemals den Sünder«. Der Sünder bin auch ich. Ich lobe die Tugend, doch auch die tugendhafte Person bin ich. Dann weiß ich, dass ich in einer lebendigen Beziehung zum Göttlichen stehe: Wenn ich mich in einem Zusammenhang mit dem inneren Wesen einer anderen Person sehe und mich genauso um die Welt wie um mich selbst sorge.

Als ich den oben geschilderten Fall meinen Studenten an der Universität vorlegte, erhob einer den Einwand: »Also gibt es im Mitgefühl keine Freiheit!« Doch ich erwiderte ihm: Zur Freiheit gehören die Antwort und die Fähigkeit. Die Fähigkeit zu antworten, bedeutet Freiheit. In der Wohltätigkeitsarbeit ist meine Fähigkeit zu antworten begrenzt: auf die Menschen, denen zu helfen ich mir aussuche, auf die Zeit, die zu investieren ich gewillt bin, und auf den Preis, den zu zahlen ich bereit bin. Im Mitgefühl ist die Fähigkeit zu antworten vollkommen.

 

Groß genug für die Verbundenheit von allem?

Hören Sie nicht auf, wohltätig zu sein, doch bitten Sie um die Gnade, mehr und mehr mitfühlend zu sein. Denn wenn Sie eine Beziehung zu Gott haben, wenn Sie mitfühlend sind, werden Sie Gott überall erfahren. Wenn Sie eine Beziehung zu einem mitfühlenden Gott haben, geschehen gute Dinge, wunderbare Dinge. Im Mitgefühl feiere ich das Gute, weil dieses Gute ebenso ein Teil von mir ist. Wenn irgendein Mensch in der Welt etwas ganz Besonderes tut, bin ich zu dieser Person hingezogen und auch ich fühle mich besonders. Ich habe teil an dieser Erfahrung, weil jene Person Teil von mir ist. Wenn jemand feiert, feiere ich mit dieser Person. Wenn jemand verletzt, verletze ich mit dieser Person. Ich bin also Teil des Lebens eines jeden Menschen, und jeder Mensch ist Teil meines Lebens. Diese menschliche Verbundenheit durch unsere Göttliche Verbindung zu erfahren, ist der Übergang von der Wohltätigkeit zum Mitgefühl.

© Paul Coutinho
Übersetzung © Chalice Verlag

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