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Rut Sigg

Dank an alle, deren Weg ich kreuzen durfte

Frau beim Wandern

Foto: Pexels / Pixabay

Rut Sigg, die Schweizer Vipassana-Meditationslehrerin, Yogalehrerin, Malerin und Buchautorin (Über die Brücke des Atems), studierte viele Jahre bei den spirituellen Lehrern Reshad Feild und E.J. Gold [/], bevor sie sich intensiver mit dem Buddhismus zu beschäftigen begann. Den folgenden Brief schrieb sie zum Jahreswechsel 2020/21 an ihren Freundeskreis. Wir veröffentlichen ihn im Chalice Magazin, weil er Einsichten enthüllt aus einem langen Leben »auf dem Weg«

 

in Dankesbrief ist für mich die gültigste Art, dieses logisch-unlogische Jahr 2020 ausklingen zu lassen. Und er geht noch einmal an euch alle.

Nach ausgiebigem Räumen von Haus und Garten sind wir hier ziemlich ausgepumpt auf dem Talgrund unseres vermutlich letzten Lebensabschnitts gelandet, auf unserem »Hübeli« am Pilgerweg nach Santiago de Compostela, weit ab von der Aufgeregtheit und Umtriebigkeit in den Städten. Doch: Leben muss leben, egal wie. Wozu diente es sonst?

Reshad Feild und Rut Sigg 1995

Rut Sigg mit Reshad Feild 1995 in dessen spirituellem Zentrum Johanneshof in Kastanienbaum am Vierwaldstättersee

Reshad Feild, mein langjähriger Sufi-Meister, wies in seiner Arbeit mit uns ständig auf die Oktave hin, das Gesetz des 7 + 1, die Grundlage von Existenz, auf die »wachsenden Ringe, die sich über die Dinge zieh’n« (Rilke). Die Schritte des Do–Re–Mi–Fa–So–La–Si… Do bilden die »Ringe«, das Samsara des Buddhismus, »das Rad unaufhörlicher Wiederkehr«.


Jeder Mensch ist für sich allein einzigartig. Nur er sieht sich so, wie er denkt, fühlt, sich definiert und sein Leben gestaltet, den Erfahrungen aus Kindertagen entsprechend. Die Wissenschaft nennt das Ergebnis: den Charakter. Am Charakter, so scheint es, lässt sich nicht rütteln, ebenso wenig wie an den daraus folgenden stereotypen Reaktionen auf Mitmenschen und auf den »Lauf der Welt«: Eine Haltung, die Krankheiten, Kriege, Missgunst – oder einfach Vorlieben und Abneigungen – zur Folge hat. Böse ist, was am persönlichen Selbstverständnis nagt, gut, was dem Charakter flattiert.

So einfach? Nicht ganz – denn die Oktave hält Stolperfallen bereit, Halbtonschritte, die Anlass für schrille Dissonanzen sein wollen.

 
Die 3 Schritte des Do–Re–Mi bilden den »Ring der Normalität«. Auf der Ebene des Mi , des ersten Halbtons, sind Menschen mit Katastrophen, Scheidungen, Todesfällen, Verlusten jeglicher Art bis hin zu Hungersnöten und Hinrichtungen – oder zum Beispiel einen sie total überfordernden Lottogewinn – konfrontiert. Jede Art von Störung des Gewohnten regt auf. Und jeder Charakter reagiert darauf individuell. Lockert sich die Störung, heißt es meist: »Gott sei Dank ist alles wieder gut!« Die Psyche ist zurück im Alltäglichen. Nichts ist geschehen: Glück gehabt!

Zünftige Störungen, die Menschen »aus dem Nichts« überfallen, führen erst dann zur Einsicht: »Ich selbst bin Ursache und Wirkung von dem, was mir geschieht. Meine Haltung, mein Charakter, die Psyche, mein mangelhafter Grad an Verständnis für Zusammenhänge ist schuld.«

Und erst ab hier – nachdem die Psyche, durch zahllose Wiederholungen desselben Erlebens gebeutelt am Boden liegt und weder ein noch aus weiß, kann die so geschärfte Wahrnehmung ein Innen erahnen. Und erst dann entsteht der Wunsch nach einem Meister, nach Schulung, und ist die Psyche bereit aufzugeben, sich auf das Risiko des Weges einzulassen. Wenn Verurteilungen, Ablehnung, Strafen, Schuldzuweisungen nicht mehr fruchten, da ihre Erbärmlichkeit offensichtlich wird, kann Zuhören möglich sein – und somit Demut, Öffnung für anderes, sogar für Unbekanntes.

Der Halbtonschritt vom Mi zum Fa könnte »der Schritt zu echter Menschlichkeit« genannt werden, da von da an persönliche Eingebung, Urteile und Kritik, Zustimmung oder Ablehnung nichts mehr taugen.

Oft weckt ein solches Umdenken eines vormals »angepassten Bürgers« in Mitmenschen Misstrauen: Gefühle von Ausgrenzung, Machtverlust bis hin zu Hass und physischer Gewalt können die Folge sein: Scheinbar solide Freundschaften zerbrechen ohne Erklärungen, man wird gekündigt oder verliert sein Zuhause, um nur einige zu nennen, – denn man gilt als »suspekt«, tickt nicht mehr wie »gewohnt«.

Wandlung stünde nun an. Doch wie? Und wodurch?

Die Kenntnis des Weges – die Lehrer sich genauso erarbeiten müssen wie Herr und Frau Jedermann, bevor sie zu Lehrern werden – ist unabdingbar. Denn der Wust an meist negativen Emotionen, die die Umwelt für gewöhnlich auf »Abtrünnige« loslässt – nach dem Motto: Die Schuldigen sind immer die anderen, und die haben Strafe verdient – ließe Wandlung gar nicht zu. Dazu kommt, dass den Schritt vom Mi zum »erlösenden« Fa niemand alleine bewältigen kann. In welche Richtung sollte er sich denn wenden? Er beträte überall unbekanntes Gelände und verirrte sich hoffnungslos!

Der Halbtonschritt vom Mi zum Fa könnte »der Schritt zu echter Menschlichkeit« genannt werden, da von da an persönliche Eingebung, Urteile und Kritik, Zustimmung oder Ablehnung nichts mehr taugen. Es ist deshalb ab hier Zeit, die Funktionsweisen der Psyche, des Anerzogenen, des Charakters zu durchleuchten, bis man sie von außen schonungslos anschauen kann, einen Schritt hinter sich herlaufend, sozusagen.


Meditation ist vorab einfach eine Technik, so wie Yoga, Zen, das Drehen der Derwische oder andere religiöse Gebräuche. Doch durch jahrelanges Üben, das nie aufgibt, auf keinen Fall locker lässt, nicht stehen bleibt, nicht ausweicht oder gar zurückfällt in Früheres, kann es allmählich stiller werden im Inneren. Irgendwann verliert das Hirnen, Ängstigen, Wehren und Kämpfen seine Macht, wird weniger, dünnt sich aus, bis – als Frucht allen Leidens und Sich-Abmühens – Stille einzieht im Inneren, im »Herzen des Herzens«. Der Mensch – nicht Frau, nicht Mann – sieht nun aus eigener Kraft. Und er erkennt, wie »der Lehrer« in seinem eigenen Inneren wächst und gedeiht – durch den Verzicht auf das Reagieren auf Anwürfe, Kritik und Schelte von außen. Nie aber aus Resignation!

Der Meister lehrt die Technik, die notwendigen Texte dazu, zeigt vor, korrigiert, ist unbeirrt mutig dabei, ist Stütze und Wegweiser, berät, »geht voraus«, straft nicht, trägt nichts nach. In der Stille des Herzens taut die Psyche weg wie das Eis bei geöffneter Kühlschranktür. Der Lehrer definiert sich nicht, er schiebt kein „Ich“ vor – er schaut – und schweigt. Es gibt weder etwas zu sagen noch zu verlieren. Kampf war »gestern«, denn auch Zeit wird bedeutungslos, so wie im Menschen die Illusion von Haut auf den Knochen, von eigenem Körper, von Heute oder Morgen, von Oben oder Unten.

Die Erfahrung, dass Atem immer schon da ist, dass Leben immer schon da ist, ohne darum kämpfen zu müssen, erübrigt wilde Techniken, angstvolles Würgen und Schnaufen.

»Der erste Stromgewinn« (sotapanna), wie dieser Schritt aus dem Persönlichen hinaus im Buddhismus heißt, schafft Weite und wändelosen Raum, den, anstatt Gedanken, Hoffnungen, Wünsche, reine Energie durchflutet. Die Erfahrung, dass Atem immer schon da ist, dass Leben immer schon da ist, ohne darum kämpfen zu müssen, erübrigt wilde Techniken, angstvolles Würgen und Schnaufen. »Schatten (1) und Licht (2) verschmelzen zur 3(-Einigkeit).« Leben wird geradlinig und schlicht, man könnte sagen: »unsichtbar«.

»Das Goldene Zeitalter bricht im Schweigenden Herzen an.«

Charaktere gehorchen dem Stolz – Lehrer folgen dem unbeirrbaren »Blick«. Der Weg dahin scheint lang, entbehrungsreich und extrem hart. Doch da »Zeit« nicht ist…, wo bliebe dann Leid?


»Lass dich ans Kreuz von Bruderschaft schlagen«, wird gesagt, wie Jesus: die Arme weit offen, ohne Qual, als Wegweiser, in Regen und Sonnenschein, unbeirrt, auf den »einen Punkt« deutend, der längst nicht mehr schmerzt – über zahllose Oktaven hinweg, »in wachsenden Ringen«, ins Nirvana – zum letztendlichen Si ohne Wiederkehr. Etwas rustikaler sagt’s der Koran, sozusagen auf den Stockzähnen lächelnd: »Hunde bellen – die Karawane zieht vorüber.«

Hat der »Schüler«, der mittlerweile zum »Vermittler« geworden ist, den »ersten Stromgewinn« realisiert, ist er bereit, selbst Lehrer zu sein – oder Mönch, Einsiedler (nicht Mann noch Frau) – oder er lebt weiter wie »bisher«. Das hängt von seinen persönlichen Veranlagungen und Umständen ab. Auf jeden Fall muss er von jetzt an seinen Weg selbstständig finden, »in wachsenden Ringen«, die sich über immer mehr »Dinge« ziehen, bis hin zur Vollendeten Schau, die keine Sprache mehr kennt.


Modernes Lebensverständnis fußt fast ausschließlich auf der Psychologie und auf jeglicher Art von Therapien. Physischer und psychischer Schmerz gilt als Übel, das weggemacht werden muss und weggemacht werden kann, weil es den Alltag, das Wohlgefühl, die Arbeit stört. Die Idee: »Ich gehe zum Therapeuten, der kriegt das wieder hin«, scheint gängig.

Krisen und Katastrophen sind die Werkzeuge, die Menschen zum Stoppen bringen, weil sie keinen Ausweg zeigen. Um Auswege geht es in der Arbeit auch nicht. Der Fokus liegt auf dem Hindurchgehen.

In der Arbeit mit einem spirituellen Lehrer ist es umgekehrt. Schmerz, ob physischer oder psychischer, sollte keinesfalls unterdrückt oder weggemacht werden – denn Schmerz gilt als kostbarstes Werkzeug. Ohne Schmerz bestünde keinerlei Anlass zu Arbeit. Schmerzfrei käme niemand auf die Idee, sich zu rühren, seine Vergangenheiten zu durchleuchten und sich und seine Reaktionen darauf zu hinterfragen. Menschen sind Weltmeister im Verdrängen!

Krisen und Katastrophen sind die Werkzeuge, die Menschen zum Stoppen bringen, weil sie keinen Ausweg zeigen. Um Auswege geht es in der Arbeit auch nicht. Der Fokus liegt auf dem Hindurchgehen. Das zu akzeptieren, erscheint vielen als verrückt. »Wie käme ich dazu!«, wird geschimpft.

Nicht jeder ist reif für Schulung. Nicht jeder braucht sie: noch nicht…

Nicht weiter zu wissen, ist ein Privileg. Es bedeutet – siehe oben – dass Widerstand zwecklos, Kampf überflüssig geworden ist.

Erst dann findet ein potenzieller Schüler einen, beziehungsweise seinen Lehrer.

Zufall ist das nicht. Nichts, was Menschen widerfährt, ist Zufall. Es gibt »Vorleben«. Wie sollten Menschen einander sonst »erkennen«, lieben, hassen oder gleichgültig aneinander vorbeilaufen? Leben ist unglaublich vielschichtig. Und wie sollte jemand eine Schule suchen – und finden – ohne Affinität, gewachsen über Existenzen hinweg? Das ist eine innere Haltung, die unumgänglich ist in der Arbeit mit einem Lehrer. Mitläufer, die hobbymäßig »meditieren«, aus Freundschaft zu jemandem etwa, steigen irgendwann aus, frustriert und enttäuscht. Denn ohne tiefe Notwendigkeit, sich vollständig einzubringen, kriegt keiner etwas mit.


Zurzeit ist vielfach von häuslicher Gewalt die Rede. Bedingt durch die Pandemie, ist die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt. Man hockt zu nahe aufeinander, und das tagsüber und die ganze Nacht lang. Menschen drehen durch, Aggression flammt auf, man geht aufeinander los.

Ist das wirklich einfach pandemiebedingt? Ist das nicht schlicht »Mensch«? Charakterbedingt? Der Psycho, der ausflippt – weil er nicht weiterweiß? Weil er nicht weiter sieht? An der Enge erstickt? Und keinen Ausweg erkennt als Strafe, Mitmenschen hassen muss – obwohl er hat, was er sich wünscht, sogar weit mehr?

Dadurch lernte ich, »danke« zu sagen – für alles und jedes, ungeachtet, ob mir gefiel oder nicht, wofür ich dankte. Und daraus lernte ich, um Vergebung zu bitten, wegen allem und jedem.

Als ich als Kind mit Papa in den Ferien weilte, zwang er mich dazu, allen Menschen, denen wir begegneten, laut »Guten Tag« zu sagen. Dafür war ich ihm später sehr dankbar. Denn dadurch lernte ich auch, »danke« zu sagen – für alles und jedes, ungeachtet, ob mir gefiel oder nicht, wofür ich dankte. Und daraus folgend lernte ich, um Vergebung zu bitten, wegen allem und jedem – ob mir gefiel oder nicht, wofür ich um Vergebung bat – und immer weiter »bitte«.

Menschen sind ehrgeizig, müssen sich ständig beweisen. Gut sein. Alles richtig machen. Und dafür gelobt werden? Wozu? Am »Ausgang« wartet der Sensenmann, und dann…?


Bevor ich auf meine Reisen zur Recherche für Reshads Biografie ging, bevor ich Initiationen erhielt, bevor ich den Abt im Kloster bat, mich in Meditation zu unterweisen, und nicht zuletzt als ich mit E.J. Gold in Kalifornien besprach, welche nächste Briefserie anstehe: Immer bat ich bei unterdrückten Konflikten mit Mitmenschen oder offenen Fragen, in sorgfältig verfassten, handgeschriebenen Briefen um Vergebung, um den Weg für einen nächsten Schritt freizuschaufeln – so wie mit diesem Brief hier.

Auch an Verstorbene schrieb ich: an meine Mutter etwa, zu der ich nach Jahrzehnten übelsten Hasses, die tief im Herzen verborgene Liebe fand. Auf E.J.s Rat trug ich den Brief tagelang am Herzen, bevor ich ihn »abschickte«, ohne bestimmte Adresse. Es macht einen riesigen Unterschied. Und ich fahre fort damit. Wie sollte ich auch fürbass gehen können, auf einem Weg, auf dem psychischer Unrat sich haufenweise türmt?

Das ist eine Frage richtigen, lauteren Verständnisses von Zusammenhängen, gewachsen durch die Arbeit.

Es gibt so viele Menschen, denen es nicht in den Sinn kommt, je »danke« zu sagen – und schon gar nicht, um Vergebung zu bitten. Das sollen gefälligst die anderen ihnen gegenüber tun, die die sie kritisieren, ihnen Böses nachsagen, Steine in den Weg werfen. Die Anschuldigungen sind Legion; doch zurückzuführen auf einen einzigen, schäbigen Begriff: »verletzter Stolz«. Die Psyche schreit es hinaus: »Ich zahle es dir heim!«

Klingt vertraut: nicht wahr? In der Arbeit mit einem Lehrer hat das keinen Platz. »Vergebung« beim Aufstehen, »Vergebung« beim Sich-Hinlegen – und den Rest des Tages: »danke«, »danke«, »danke«, für was auch immer! In etwa so sieht das Tagewerk eines Schülers aus: Arbeit zuhauf.


Reshad hieß mich immer mal wieder, den Gefühlskessel der Gruppe zünftig umzurühren, bis er koche und spucke. Nun denn: Genügt das? Wetten, dass nur wenige diesen Brief überhaupt lesen? Oder vielleicht wieder einmal mein Buch Über die Brücke des Atems, das gerade, verteilt vom Abt, erstaunlich begehrt zu sein scheint…


Von Herzen bitte ich also um Vergebung für Forsches, Lautes, Hartes, Unerkanntes – und sage tausendmal allen, die »meinen« Weg – den Weg – kreuzen oder gekreuzt haben: DANKE – DANKE – DANKE. Möge jedem von euch Freude und Frieden daraus erwachsen! Die Türe steht offen, allezeit. Huuuuuuu…

Auf ein frohes, gesundes, »Neues Jahr«!

© Rut Sigg 2021

Bücher zum Thema

Das Buch Über die Brücke des Atems von Rut Sigg kann bezogen werden bei Ruwasca Editions [/]

Reshad Feild: Atmen Sie, um Gottes Willen