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Titus Burckhardt

Von der sufischen Auslegung des Korans

Reshad Feild mit Scheich Suleyman Dede in Kalifornien 1975.

Foto: Alois Alexander

Wahrlich, Wir sandten ihn [den Koran] hinab in der Nacht des Geschicks [Nacht der Bestimmung].
Und was lässt dich wissen, was die Nacht des Geschicks ist?
Die Nacht des Geschicks ist besser als tausend Monate.
In ihr steigen die Engel und der Geist herab mit der Erlaubnis ihres Herrn von jeglichem Befehl.
Frieden ist sie bis zum Aufgang der Morgenröte.

Koran, Sure al-Qadr, 97:1–5

a der Sufismus den »inneren« Islam darstellt, so ist seine Lehre auch wesentlich eine esoterische Auslegung des Korans. Die Schlüssel dazu hat der Prophet selbst in seinen mündlich überlieferten und durch die Übereinstimmung der Vermittler verbürgten Belehrungen gegeben. Von seinen Aussprüchen sind einige für den Sufismus grundlegend, nämlich die, welche er nicht als Gesetzgeber, sondern in seiner Eigenschaft als beschaulicher [kontemplativer, mystischer] Heiliger tat und die er an jene seiner Gefährten richtete, die später die ersten sufischen Meister wurden; dann auch die sogenannten »heiligen Aussprüche« (ahadith qudsiyya), bei welchen Gott selbst durch den Mund des Propheten spricht und die folglich einer gleich unmittelbaren Eingebung wie der Koran entspringen, nur dass sie nicht derselben »gegenständlichen« Weise von Offenbarung angehören; sie geben Wahrheiten kund, die nicht für die Gesamtheit der gläubigen Gemeinde, sondern nur für die beschaulichen Geister bestimmt sind. Das sind die Grundlagen der sufischen Exegese des Korans.

Nach einem Wort des Propheten enthält der Koran sieben »Inwendigkeiten«, das heißt, er besitzt vielfachen Sinn ähnlich anderen geoffenbarten Schriften, da der Vorgang der Offenbarung gewissermaßen den der Kundgebung [Manifestation] überhaupt wiederholt, sodass die verschiedenen Bedeutungen den Stufen des Seins entsprechen.

Muhyiddin Ibn Arabi schreibt:

Die als Göttliches Gesetz (schari‘a) offenbarten Schriften drücken sich, indem sie von Gott sprechen, so aus, dass die Mehrheit der Menschen den nächstliegenden Sinn davon zu fassen vermag, während die Auserwählten jeden Sinn verstehen, nämlich alle Bedeutungen, die jeglichem Wort den Regeln der verwendeten Sprache gemäß innewohnen (Fusus al-Hikam, »Die Weisheit der Propheten«, Kapitel über Noah).

Jede verhältnismäßig urtümliche Sprache, wie die arabische, die hebräische oder Sanskrit, besitzt etwas Vielschichtiges, sodass ein Ausdruck alle Weisen einer bestimmten Idee, vom Gegenständlichen bis zum rein Geistigen in sich birgt. Die esoterische Deutung einer in solcher Sprache geoffenbarten Schrift stützt sich auf diese Vieldeutigkeit der Worte und geht dabei von dem Grundsatz aus, dass nichts, was sich aus einem Satz logisch ergibt, nicht auch vom offenbarenden Geist gemeint sei.

Sehr oft bleibt die Exoterik an einem gewohnheitsmäßig den Worten beigelegten, mittelbaren Sinn haften, wogegen die sufische Deutung vorbehaltlos den unmittelbaren und geistig notwendigen Sinn eines Ausdruckes wahrnimmt.

Es genügt nicht zu sagen, dass die gewöhnliche Auslegung des Korans den unmittelbaren Sinn der Worte begreife, während die sufische Deutung einen übertragenen Sinn entdecke; sehr oft bleibt die Exoterik an einem gewohnheitsmäßig den Worten beigelegten, mittelbaren Sinn haften, wogegen die sufische Deutung vorbehaltlos den unmittelbaren und geistig notwendigen Sinn eines Ausdruckes wahrnimmt. So heißt es zum Beispiel im Koran, dass derjenige, welcher sich von Gott leiten lässt, »für sich selber« (linafsihi) die Rechtleitung annähme, was aber auch bedeuten kann, dass er sich »zu sich selber« leiten lasse, und ebenso heißt es, dass jener, der in Unwissenheit verharrt, »über sich selber« (’ala nafsihi) blind sei (17:14, 6:104); die »äußere« Deutung dieser Worte nun bleibt beim Gedanken der Göttlichen Belohnung oder Strafe stehen, während der Sufi diese Stelle im Sinne des Ausspruches des Propheten versteht: »Wer sich selber (nafsahu) erkennt, erkennt seinen Herrn«; und diese Auslegung ist nicht weniger wortgetreu als jene der Exoteriker, im Gegenteil: Sie enthüllt, ohne den erst­genannten Sinn auszuschließen, die logische Folgerichtigkeit der betreffenden Sätze, die sich übrigens in der Fortsetzung des Textes bestätigt findet, denn hier heißt es im Hinblick auf das Jüngste Gericht, an welchem der Mensch das offene Buch seines Lebens dargereicht bekommt: »Lies dein Buch; es genüge, dass du selbst heute die Rechnung über dich machst«, was auf einen Zustand der Selbst­erkenntnis hindeutet, bei welchem der Mensch nunmehr völlig duldig ist.

Desgleichen, wenn der Koran aussagt, dass die Erschaffung der Himmel und der Erde und aller lebenden Wesen für Gott »wie die Erschaffung einer einzigen Seele« war, so sieht der Exoteriker darin allenfalls die Gleichzeitigkeit des Erschaffens, während der Esoteriker daraus des Weiteren auf die wesentliche Einheit des Welt­alls, das wie ein einziges, allseitiges Wesen gebildet ist, schließt.

Muhyiddin Ibn Arabi schreibt ebenfalls:

Die Propheten bedienen sich einer dinghaften Sprache, denn sie wenden sich an die Allgemeinheit und verlassen sich dabei auf das Verständnis des Weisen, der sie vernehmen mag. Wenn sie in Bildern sprechen, so tun sie es mit Rücksicht auf die gewöhnlichen Menschen und weil sie wohl wissen, welcher Einsicht jene, die wirklich verstehen, fähig sind. […] Alles, was die Propheten an Wissenschaften gebracht haben, ist in Formen gekleidet, die den allgemeinsten geistigen Fähigkeiten zugänglich sind, damit jener, der den Dingen nicht auf den Grund geht, bei dieser Einkleidung stehen bleibt und sie für das Schönste hält, was es gibt, während der Feinverständige, der Taucher nach den Perlen der Weisheit, sehr wohl zu sagen weiß, warum diese oder jene Göttliche Wahrheit in gerade diese irdische Form gekleidet erscheint« (Fusus al-Hikam, Kapitel über Moses).

Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Vieldeutigkeit eines offenbarten Ausspruchs einer Berechnung des betreffenden Propheten entspringe; das Gestaltwerden des Wortes ist hier blitzhaft, und sein Gerinnen entspricht Göttlichem Gesetz, wenn es auch auf die empfangende Umwelt Antwort gibt. Ibn Arabi fasst das nicht anders auf, sonst könnte er nicht auch von der heiligen Wissen­schaft der Buchstaben (huruf) Gebrauch machen, nach welcher jeder Buchstabe des heiligen Buches, das heißt jeder seiner Laute – denn die arabische Schrift ist lautgebunden – eine gewollte Bestimmung der einen Offenbarung ist.

Um diese, dem neuzeitlichen Abendländer schwer fassbare Wertung einer heiligen Schrift – die doch sichtlich von gewissen geschichtlichen Umständen mitbedingt ist – verständlicher zu machen, sei darauf hingewiesen, dass sich jede Offenbarung, eben darum, weil sie »Offenbarung« und nicht bloß wortlose innere »Eingebung« ist, notwendigerweise durch die Form ausdrückt, und zwar kraft der Entsprechung, die zwischen den reinen, unergründlichen Eigenschaften des Göttlichen Seins und dem eigenschaftlichen – »qualitativen« – Wesen der Form besteht; dieses Wesen der Form aber besteht auch auf der elementaren Ebene des Lautes.

Die Übersetzung der ungeteilten Göttlichen Erkenntnis in Worte geschah aus kosmischer Notwendigkeit, etwa so, wie der Blitz aus übersättigten Wolken herabfährt.

Es wird von Nutzen sein, hier die Lehre von der Offenbarung des Korans, wie sie in der Sure des »Geschicks« [oder: »Bestimmung«] (Sure 97, al-Qadr) enthalten ist, kurz zu erwähnen: In der »Nacht des Geschicks«, die eine Auslöschung alles zeitlichen Geschehens bedeutet – weshalb sie »besser als tausend Monate ist« –, wurde der Koran gesamthaft, als ungeteilter Zustand Göttlicher Erkenntnis auf den Propheten »herabgesandt« und gleichsam ihm einverleibt.*

* René Guénon schreibt über die »Nacht des Geschicks« (lailat al-qadr), in der die Herabsendung (tanzil) des Korans stattfand:

Nach dem Kommentar von Muhyiddin Ibn Arabi ist diese Nacht eins mit dem Leib des Propheten. Was hier besonders zu beachten ist, das ist der Umstand, dass die Offenbarung nicht etwa im Denkvermögen, sondern im Leib des Wesens, das »gesandt« wurde, den Urgrund auszudrücken, Aufnahme findet: Et Verbum caro factum est, sagt auch das Evangelium (caro und nicht mens), und das ist, in einer der christlichen Überlieferung eigenen Form ausgedrückt, das ganz genaue Gegenstück zu dem, was die lailat al-qadr in der islamischen Überlieferung bedeutet (aus: «Les deux nuits» in: Etudes traditionelles, nos d’avril et de mai 1939).

Dieser für Gedanken unergründliche Zustand der Erkenntnis, der in sich selbst reiner »Frieden« ist, übersetzte sich dann beim »Aufgang der Morgenröte« – das heißt mit der Rückkehr des Bewusstseins zur äußeren Welt – in Worte, und zwar in dem Maße, als die äußeren Ereignisse diese oder jene ihm innewohnende Wahrheit hervorriefen. Daher die wie in tausend Bruchstücke zersplitterte Form des koranischen Textes und seine endlose, stets in neue Wendungen gefasste Wiederholung derselben einfachen und doch gedanklich unausschöpfbaren Wahrheiten. Die Übersetzung der ungeteilten Göttlichen Erkenntnis in Worte geschah aus kosmischer Notwendigkeit, etwa so, wie der Blitz aus übersättigten Wolken herabfährt, und ohne verstandesmäßige Ausgestaltung, weshalb auch die Form so unmittelbar ist in ihren gedanklichen Bildern sowohl als auch in ihrem klanglichen Ausdruck, in dem noch die geistige Macht, die ihn kundgab, weiterschwingt.

Um Missdeutung vorzugreifen, sei noch gesagt, dass das nichts zu tun hat mit irgendwelchem seelischen Ausbruch aus unbewusster Quelle von der Art, wie sie die moderne Psychologie wahrnimmt; denn das, was wir hier im überlieferten Sinne »kosmisch« nennen, setzt keine Unbewusstheit voraus, wenigstens nicht für die Wirklichkeit, die Ursache solcher »Herabsendung« ist. Die Offenbarung ist übernatürlich, da sie Göttlich ist; sie ist jedoch in bestimmter Hinsicht auch »natürlich«. Es gibt sogar auf der sinnlichen Ebene Geschehnisse, die zwar natürlich sind, aber doch die gewöhnliche Stetigkeit dieses Bereichs durchbrechen und in dieser Hinsicht wie Abbilder der Offenbarung erscheinen: Wir nannten schon den Blitz; auch der Schnee ist das Abbild einer Göttlichen »Herabsendung«, die die Welt verklärt und ihre Unreinheiten auslöscht; er gleicht weniger der Eingebung als dem ruhenden Zu­stand der Heiligkeit.

Die überlieferte Lehre von der Offenbarung des Korans ist übrigens wesentlich dieselbe wie die von der Offenbarung der Veden im Hinduismus: So wie der Koran bestehen auch die Veden von Ewigkeit an im Göttlichen Geist. Die Rishis empfingen sie – gleich wie die Propheten – sowohl durch das innere Gesicht wie auch durch das innere Gehör und gaben sie so, wie sie sie gesehen und gehört hatten und ohne gedankliche Auslese ihrerseits weiter.

Die sufischen Ausleger des Korans wissen, dass diese Sprache dem Vorgang der Göttlichen Kundgebung entspricht, in dem Sinne, dass es der Göttliche Geist gewissermaßen liebt, sich in bildhafte und nicht bloß verstandesmäßige Formen zu kleiden, worin mittelbar die Unvergleichbarkeit Gottes zum Aus­druck kommt.

In diesem Zusammenhang sei noch eine andere indische Lehre erwähnt, die ebenfalls dazu dienen mag, gewisse Wesenszüge des Korans zu erklären: Dieweil der offenbarte Wortlaut die Erkenntnis Gottes (und im Hinblick auf den Koran könnte man auch sagen: die Erkenntnis des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott) zum einzigen Gegenstand hat, müssen die Dinge dieser Welt, die darin als Beispiele oder Gleichnisse genannt sind, gemäß dem allgemeinen, natürlichen Erleben der Menschen und nicht im Sinne von wissenschaftlichen Behauptungen verstanden werden; so wird zum Beispiel die Bewegung der Gestirne selbstverständlich nach dem menschlichen, das heißt nach dem geozentrischen Stand­punkt beschrieben.

Auf den ersten Blick mag ein metaphysischer Kommentar zum Koran geistig dem Text selber überlegen erscheinen, weil die koranische Sprache glaubenshafter Form und dementsprechend an das menschliche Gefühl und an die menschenähnlichen Formen der Einbildungskraft gerichtet ist, während der Kommentar unmittelbar die allhaften Wahrheiten darlegt. Allein, der metaphysische Kommentar leidet an den Nachteilen der abstrakten Ausdrucks­weise, wogegen der heilige Wortlaut die Eigenschaften des konkreten Sinnbilds, nämlich dessen gesamthaftes Wesen besitzt, sodass eine gedrängte Form unbegrenzt mannigfache Bedeutungen zu enthalten vermag. Die sufischen Ausleger des Korans wissen auch, dass die menschenhafte und gleichsam kindliche Form des heiligen Wortlauts nicht nur nützlich ist, weil sie einer ganzen Gemeinde oder jedem Menschen einleuchten kann, sondern dass diese Sprache zugleich auch dem Vorgang der Göttlichen Kundgebung entspricht, in dem Sinne, dass es der Göttliche Geist gewissermaßen liebt, sich in bildhafte und nicht bloß verstandesmäßige Formen zu kleiden, worin mittelbar die Unvergleichbarkeit Gottes zum Aus­druck kommt, Der Sich »nicht schämt, eine Mücke zum Sinn­bild zu nehmen«, wie der Koran sagt.*

* Der heilige Dionysius Areopagita schreibt in gleichem Sinne:

Wenn also in Bezug auf die Göttlichen Dinge die Bejahung weniger richtig und die Verneinung wahrer ist, so geziemt es sich nicht, dass man versuche, jene in heilige Dunkelheit gehüllten Geheimnisse in Gestalten kundzutun, die ihnen ähnlich sind; denn man erniedrigt nicht die himmlischen Schön­heiten, im Gegenteil, man erhöht sie, indem man sie mit offensichtlich ungenauen Zügen darstellt, weil man damit zugibt, dass zwischen ihnen und den stofflichen Dingen eine ganze Welt klafft. […] Übrigens muss man sich daran erinnern, dass nichts von alledem, was Dasein hat, ganz und gar der Schönheit bar ist; denn alle Dinge sind wesentlich gut, sagt die Wahrheit selbst (aus: Von der himmlischen Hierarchie, II, nach der französischen Übersetzung von Mgr Georges Darboy).

Wenn die dem Glauben entgegenkommende Ausdrucksweise des Korans einen »subjektiven« Anblick hat, so ist sie deswegen nicht minder »objektiv« an sich genommen und von der Göttlichen Seite gesehen, womit gemeint ist, dass die Weise, nach welcher die Göttliche Wahrheit sich in menschliche Formen hüllt, allgültigen Gesetzen gehorcht.

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