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Reshad Feild

Der Pfad des Mystikers

Reshad Feild mit Scheich Suleyman Dede in Kalifornien 1975.

Foto: Chalice Verlag

Wahrer Glaube ist das unsichtbare Gegenstück zum physischen Gefährt, das den Mystiker ans Ziel seiner Reise bringen wird

er Pfad des Mystikers ist unsichtbar, vorgezeichnet im Universum seit Anbeginn der Zeit. Der Anfang des Pfades – falls es einen Anfang gibt – ist gekennzeichnet von der Sehnsucht des Menschen, seinen Gott zu kennen. An seinem Ende – falls es je ein Ende gibt – steht die Gottesgewissheit. Es ist ein Pfad der Liebe, denn nur derjenige kann Gott erkennen, der fähig ist, Ihn wahrhaft zu lieben. Nur durch den Menschen, der gelernt hat, Gott vollkommen zu lieben, kann sich die Liebe Gottes hier auf der Erde vollständig manifestieren.

Dieser unsichtbare Pfad, der Schritt für Schritt vorgezeichnet ist, bestimmten Gesetzen und Mustern folgt und in das Zentrum des Labyrinths führt, stellt die Initiation des Mystikers in die Mysterien dar und auch seinen Tod vor dem Tod, seine Kreuzigung und seine Auferstehung. Seine Führer auf dem Weg sind all jene, die diesen Weg bereits gegangen und zurückgekehrt sind, um andere vor den Fallgruben zu bewahren, die auf den »Verrückten« lauern, wenn er sich mehr als alles andere wünscht, zu entwerden und in Gott wiedergeboren zu werden.

Der Mystiker braucht Glauben; einen Glauben, dem blinden Glauben des kleinen Kindes ähnlich, das zu Gott betet.

Für die Reise sind zwei »Beine« notwendig. Das erste Bein stellt die in aller Ewigkeit vorherbestimmten, im Herzen des Menschen schlummernden Göttlichen Möglichkeiten dar. Das zweite Bein ist die Beharrlichkeit. Das eine ist ohne das andere sinnlos. Die latent im Herzen des Menschen vorhandenen Möglichkeiten bleiben so lange verborgen, bis sie ans Licht geholt werden; damit dies geschehen kann, ist Ausdauer erforderlich. Wenn sich beide Beine bewegen, wird eine kreative Spannung erzeugt. Ohne kreative Spannung können wir nicht zurechtgestutzt werden, und ohne dieses Beschneiden können die Schleier nicht gelüftet werden, die den Menschen von seinem eigenen Erbe, von Freiheit und Wahrheit trennen. Beharrlichkeit erfordert Geduld – eine der ersten Tugenden, die der Mystiker entwickeln muss. Er braucht Mut und Stärke. Er kann es sich nicht leisten, seinen Körper zu schwächen, verantwortungslos mit dem Gefährt umzugehen, das Gott ihm gab, damit er sich selbst darin verwirkliche.

Der Mystiker braucht Glauben; einen Glauben, dem blinden Glauben des kleinen Kindes ähnlich, das zu Gott betet. Wie kann er diesen Glauben finden? Nur wenige von uns sind mit wirklichem Glauben auf die Welt gekommen. Selbst jene, die zu Beginn ihrer Reise meinen, Glauben zu haben, werden so gründlich geprüft und in Versuchung geführt, dass schließlich ihr Glaube in seinen Grundfesten erschüttert wird. Dann muss aus der Asche des Alten eine neue Form des Glaubens erstehen. Wie entsteht dieser neue Glaube, und wie können wir ihn im Herzen des Menschen entwickeln? Wahrer Glaube ist das unsichtbare Gegenstück zum physischen Gefährt, das den Mystiker ans Ziel seiner Reise bringen wird.

Ohne Liebe sind wir nichts, und ohne Liebe werden wir niemals etwas verstehen.

Glaube entwickelt sich aus Vertrauen. Früher dachte ich, es sei möglich, mit Hilfe irgendeiner Form täglich zu praktizierender intellektueller Disziplin den Glauben an die unausweichliche Richtigkeit allen Lebens zu entwickeln. Also bemühte ich mich, wie viele andere, um Achtsamkeit, machte Übungen, um »aufzuwachen«, und verbrachte viele Stunden in Meditation. Eine Zeitlang schien dies zu genügen. Gewisse innere Erfahrungen bestärkten mich in der Überzeugung, auf dem rechten Weg zu sein. Ich entwickelte eine Art Glauben, das ist wohl wahr; doch dieser Glaube hatte ein äußerst schwankendes Fundament. Wo war der Grundstein, die Liebe? Ohne Liebe sind wir nichts, und ohne Liebe werden wir niemals etwas verstehen. Intellektuelle Übungen und Disziplinen sind für den Mystiker nur insoweit sinnvoll, als sie den Intellekt erwecken und das geistige Streben anspornen können. Ohne die Liebe, die aus dem Herzen kommt, bedeuten sie nichts.

Weil das Fundament unzureichend war, musste ich nach einiger Zeit erkennen, dass ich überhaupt keinen Glauben hatte. Ich hatte nur »gedacht«, ich hätte ihn. Wieder einmal musste ich, wie so viele von uns, von vorn anfangen. Dann kam das Losungswort, der Schlüssel, der die erste Tür öffnete zu einem wahren, lebendigen Glauben an den einen Gott. Der Respekt öffnet uns die Tür zum Vertrauen, und das Vertrauen wiederum ist eine Grundvoraussetzung für die Reise des Mystikers zur Erkenntnis. Um Respekt zu haben, müssen wir bewusst sein. Hierbei erwiesen sich die intellektuellen Übungen, die man mir beigebracht hatte, zum ersten Mal als nützlich. Wenn wir Gott in unserem Nächsten achten, beginnen wir zu verstehen, was dieser Mensch braucht. Wenn wir bewusst sind, können wir Mittler sein und Geburtshilfe leisten für das, was aus dem Inneren des Menschen, aus dem Licht, zur Entfaltung drängt.

Was für eine Freude! Eine ganz neue, unsichtbare Welt eröffnet sich uns. Wir sehen in der Freude des anderen die innere Welt, die tatsächlich eine Welt des Lichts ist. Wir beginnen zu wissen, was Stille ist.

Der Mystiker, welcher Provenienz auch immer (ob Christ, Muslim, Jude oder etwas anderes), durchläuft während seiner Reise verschiedene Stufen der Erkenntnis.

Hier beginnt der Mystiker seine Reise in unbekannte Regionen. Alles, was vorher geschehen ist, alle Disziplinen und Übungen, denen der Mystiker sich unterwarf, während er sich seinem Herrn näherte, dienten nur der Vorbereitung auf das Zerreißen des ersten Schleiers, auf die erste Stufe der Erkenntnis. Plötzlich, fast unerwartet, nimmt er das Licht der Seele wahr, das in einem anderen leuchtet. Aber noch ist in ihm nur ein schwaches Ahnen, dass das, was er sieht, nicht so sehr das Licht jener Person ist, sondern ein Licht, das immer da war und sich danach sehnt, in dieser Welt erkannt und wahrgenommen zu werden. Ein solcher Augenblick kann einen Menschen vollständig verwandeln; plötzlich überfällt ihn große Freude. Das Licht, das sich seinen Weg bahnt, wird diese Person in die Lage versetzen, das gleiche Licht in anderen zu erkennen. Nun kann wahre Kommunikation beginnen. Eine mystische Umarmung wird möglich und vielleicht erste Anfänge eines mystischen Dialogs zwischen Gott und dem Menschen.

Die wahre Reise hat begonnen! Auf dieser Stufe scheint sie fast einfach zu sein. Wir könnten uns fragen, weshalb so viel über diesen Pfad geschrieben werden musste, denn er liegt doch jetzt klar vor uns. Indem wir uns öffnen, sodass Sein Licht durch uns hindurchscheinen kann, werden wir zu Mittlern, die dieses Licht an andere weitergeben, und so herrscht Freude. Wir sehen Sein Licht im anderen leuchten, und einen Augenblick lang wissen wir vielleicht, wie es ist, sich vor dem Gott im Menschen zu verneigen, die »Inwendigkeit der Dinge« zu erkennen oder Essenz ohne Form zu erleben. Und in der Tat fallen die Formen um uns herum in sich zusammen, wenn wir das Licht erkennen.

Der Mystiker, welcher Provenienz auch immer (ob Christ, Muslim, Jude oder etwas anderes), durchläuft während seiner Reise verschiedene Stufen. Dies sind die verschiedenen Stufen der Erkenntnis. In dem Maße, wie die Formen sich durch die Erkenntnis der Essenz auflösen, wächst die Verzückung im Herzen des Mystikers. Um diese Etappen zu erklären, muss ich mich eines besonderen Vokabulars bedienen. Ich wähle die Sprache der Sufis, insbesondere die des Meisters Muhyiddin Ibn Arabi, um zwei dieser Stufen zu erläutern, und zwar fana’ und baqa’. Fana’ bezeichnet das Schwinden aller Illusionen, an deren Stelle baqa’ tritt, das Verbleiben des Wirklichen. Auf jedes Stadium von fana’ muss ein Stadium von baqa’ folgen. Dies ist eine Warnung an uns alle. Der Pfad des Mystikers ist ein Weg auf Messers Schneide. Er ist lang und in gewissem Sinne auch gefährlich, denn in seinem Wunsch zu sterben, bevor er stirbt, könnte der Mystiker in einen Zustand von fana’ abgleiten, den Ibn Arabi »unvollkommen« nennt. Einen Augenblick lang könnte er erkennen, dass er – in seinem begrenzten Ichbewusstsein – per se nicht existiert. Gott aber gab ihm eine Form, mit Hilfe derer er zur Erkenntnis gelangen kann. Wenn der Mystiker an diesem Punkt aufhört, bewusst zu sein, gerät er in einen Zustand, der als »Schlaf« beschrieben wird. Er ist dann weder bei seinem Selbst noch bei seinem Herrn.

Der Satz: »Ich war ein verborgener Schatz und liebte es, erkannt zu werden«, wurde verwirklicht, und das Schöpfungsgeheimnis verstanden.

Auf der letzten Stufe, auf dem Höhepunkt seiner Verzückung, schaut der Mystiker Gott nicht mehr als Ursache des Universums, sondern als dessen Essenz. Er ist nun nicht mehr imstande zu sagen, das Universum sei die Wirkung einer Ursache; für ihn stellt es jetzt die »Erscheinungsform einer Wirklichkeit« dar. Er erkennt, dass Kausalität ohne jede Bedeutung ist. Damit ist das höchste Ziel des Mystikers erreicht, denn er erkennt, dass beide Welten eins sind. Er weiß jetzt, dass Immanenz und Transzendenz in Wirklichkeit ein und dasselbe sind. Dies ist die Gewinnung des Goldes in der Alchimie, die Sonne im Herzen. Das Ego ist verwandelt worden, an seine Stelle tritt die Essenz. Das Ziel ist jedoch nicht Gott. Wie könnte Gott das Ziel sein, da doch Er Derjenige ist, Der am Ziel »angekommen« ist? Der Satz: »Ich war ein verborgener Schatz und liebte es, erkannt zu werden«, wurde verwirklicht, und das Schöpfungsgeheimnis verstanden. Das höchste Glück des Mystikers hat sich erfüllt, denn er ist seiner essenziellen Einheit mit Gott gewiss. Und in diesem Augenblick Göttlichen Staunens schaut Gott Sich selbst, in aller Vollkommenheit. Nur im vollkommenen Menschen, der – aufgrund seiner mystischen Station – imstande ist, Gott vollkommen zu lieben, kann der Schatz, die verborgene Essenz, sich auf der Erde manifestieren.

© Reshad Feild 2019
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag