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Dominique Starck

Wenn du atmest, chantest du

Reshad Feild auf der Swyre Farm 1972.

Foto: Dominique Starck

Ein Interview mit dem Gitarristen, Komponisten von Meditationsmusik und Chanting-Lehrer Dominique Starck über sein neues Buch Chanting: Himmel und Erde verbinden

Dominique, in deinem Buch schreibst du: »Chanting ist eine Methode, sich durch das Singen oder das Tönen von Vokalen in die Harmonie der inneren und der äußeren Sphären einzuschwingen.« Ist das nicht ein sehr großes Versprechen, wenn du sagst, die Leserinnen und Leser könnten mittels Chanting »Himmel und Erde verbinden«, »ganz ins Hier und Jetzt kommen«, »sich mit den Wesenheiten des Transzendenten verbinden«?

Ja, stimmt. Diesen hohen Anspruch formuliere ich bewusst so, weil in meinem eigenen Leben Chanting bisher das Einzige war, was mich in die Nähe dieser Verbindung von »Himmel und Erde« beziehungsweise von Transzendenz und Immanenz gebracht hat. Klang ist hier das Zentrale. Die Puebloindianer [/], bei denen ich viel zu diesem Thema lernen durfte, sagen: Wir sind Klang. Die moderne Physik drückt im Prinzip dasselbe aus: Wir sind aus Schwingung aufgebaut. Und diese Schwingung wurde ja irgendwann einmal im Kosmos etabliert, wurde also immanent im Prozess einer »hereinkommenden« Oktave. Der Klang – und somit das Chanting, also vibrierende Luft – führt von dieser materiellen Welt wieder zurück über das Feinstoffliche ins Ätherische, Wesenhafte, Geistige.

Diese große Erfahrung durfte ich machen. Ich kann es nicht einfach herbeizaubern; es ist ein Zustand, der manchmal da ist und dann wieder nicht. Es ist nicht etwas, was ich selbst erzeugen kann, aber ich habe es erfahren. Vor allem meine Begegnungen mit nordamerikanischen Indianern haben mich zu dieser Erfahrung geführt, aber auch spirituelle Lehrer wie insbesondere Reshad Feild.

Eine Hörprobe von Dominique Starcks CD Inner Movements [/]

Eine Schlüsselerfahrung für mich als Musiker war Valbella [die von Reshad Feild 1986 in dem schweizerischen Bergdorf organisierte internationale Sommerschule], als er mir eines Tages unvermittelt auftrug: »Du musst heute Abend etwas spielen – aber es muss wirklich neu sein, absolut neu.« Und so schickte er mich komponieren. Diese Aufgabe hat mir damals quasi ein Universum geöffnet; ich habe jeden Ton, den ich an jenem Abend spielte, wie ein Universum erlebt. Es war etwas ganz Verrücktes, ich kann es nicht anders beschreiben.

Das Stück »Valbella«, das daraus entstand und das ich seither sicher tausend Mal gespielt habe, beruht ja auf einer äußerst simplen Melodie. Doch es symbolisiert diese Verbindung zu der feinstofflichen, geistigen Welt. Wenn ich die Aufgabe als Komponist »intellektuell« angepackt hätte, wäre es niemals so weit gekommen; dafür ist dieses Stück viel zu einfach, viel zu trivial. Ein Musiker würde dazu sagen: Hallo, wie bitte? Aber eigentlich ist es ein großartiges Stück, das mir – quasi aus dem Universum – einfach geschenkt wurde.

 

Seit meiner Kindheit interessiert mich das Spirituelle in der Musik

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Du hast dich also
»mit den Wesenheiten des Transzendenten verbunden«?

Ja, sozusagen. Ich muss zur Erklärung vielleicht erwähnen, dass ich damals in meiner persönlichen Entwicklung wie an einem Abgrund stand. Eigentlich wollte ich aufhören, Musik zu machen. Ich wollte irgendetwas anderes tun, wusste aber nicht was. Vielleicht Maurer werden (lacht), irgendetwas Handfestes, um mehr »in die Materie« zu gelangen. Und diese innere Diskrepanz – dieses feine Hören meines Musikerdaseins einerseits und andererseits dieser Wunsch, mich mit Materie zu beschäftigen – war die Grundspannung, aus der heraus Reshads Anstoß an jenem Abend dieses eigenartige Erlebnis ausgelöst hat: nämlich dass ich jeden Ton quasi verstanden habe. Es war, als könne ich mit jedem Ton sprechen und wirklich verstehen, was er mir erzählen will. Und so kamen diese einfachen fünf Noten zu mir.

Kannst du uns kurz beschreiben, was dich zum Chanten gebracht hat? Auch für einen mehrfach ausgezeichneten Gitarristen und Komponisten ist das ja nicht zwangsläufig naheliegend.

Aber eine Antwort auf meine Fragen habe ich in der Gregorianik und der Kirchenmusik ebenso wenig gefunden wie in der klassischen Musik.

Eigentlich interessiere ich mich von Kindheit auf für das Spirituelle in der Musik. Chöre, die Gregorianik und die Kirchenmusik haben mich schon immer fasziniert. Aber eine Antwort auf meine Fragen dazu, was Musik überhaupt ist, habe ich dort ebenso wenig gefunden wie in der klassischen Musik. In meiner Jugend habe ich mich dann der Rockmusik zugewandt, und dort habe ich zumindest gemerkt: Hier läuft etwas! Das ist Energie! Aber tiefergehende Antworten erhielt ich auch dort nicht. Und erst recht nicht in meinem anschließenden Musikstudium, das mich ziemlich unglücklich gemacht hat. Niemand am Konservatorium interessierte sich für meine Kernfragen: Was ist Musik eigentlich, welche Aufgabe hat sie in der Gesellschaft, in der Schöpfung und so weiter?

Dann, in den frühen 1980er-Jahren, reiste ich zu den nordamerikanischen Indianern: eine Reise, die eigentlich ganz anders geplant war, als sie in der Folge verlief. Ich war mit dem Flötisten Daniel Neukom auf USA-Tournee und nach unserem letzten Konzert in San Diego beschlossen wir, in die Nationalparks des Südwestens zu fahren. Und dort hatte ich ein ähnliches Glück wie bei diesem späteren Erlebnis in Valbella. Durch einen absoluten »Zufall« begegneten wir damals im Reservat der Hopis im Norden Arizonas Menschen, die noch ein spirituelles Wissen haben. Da war diese sehr alte Indianerin, die mich und meinen Reisebegleiter quasi »gesehen« hat. Sofort war da eine tiefe Verbindung zwischen uns, genauso wie später, als ich Reshad begegnete: Alle Felder der Möglichkeiten, alle Tore waren mit einem Schlag offen.

 

Die Indianer haben mir die Ohren geöffnet für die Energie in der Musik

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Eines dieser Tore war das Chanting. Die Puebloindianer haben mir die Ohren dafür geöffnet, wie groß die Energie von Musik ist und welche Aufgaben sie im Kosmos erfüllt und erfüllen kann.

Diese sehr persönliche Sicht bereichert ja auch dein neues Buch, insbesondere in dem berührenden Eingangskapitel über diese Reise zu den Indianern. Darin sprichst du unter anderem über eine »erwartungsvolle Hoffnung«. Bist du mit einer solchen bereits aufgebrochen oder erst damit zurückgekehrt? Was genau meinst du damit?

Vielleicht beides. Bevor ich jene Indianerfrau traf, erlebte ich ein unvergessliches Déjà-vu. Ich weiß gar nicht, ob ich das im Buch erwähne, ich glaube nicht. Es war so, dass ich mich auf einer Wüstenwanderung dort im Südwesten der USA plötzlich ohne Probleme absolut zurechtfand. Ich »kannte« diese Umgebung so gut, wie ich den Stadtteil in Zürich kenne, in dem ich aufgewachsen bin. Von dem Moment an war mir klar, dass ich dieses Phänomen erforschen muss. Hoffnung ist insofern wichtig, als dass die Hopi-Indianer [/] sagen, sie sterben und dass ihre Kultur in Zukunft keinerlei Sinn mehr machen werde für die Menschheit. Sie sagen, sie gehen. Aber natürlich haben sie dennoch einiges zu überliefern (und zwar oral, sie haben ja nichts aufgeschrieben), was uns möglicherweise helfen könnte – und das ist der hoffnungsvolle Aspekt. Aber wenn man genau hinhört, sind sie der Ansicht, dass wir mit ihnen untergehen. Sie denken, weil sie untergehen, gehen auch wir unter.

Idealerweise würden wir als »entwickelte« Menschen das integrieren, was die Indianer uns gelehrt haben.

Und in dem Punkt bin ich anderer Ansicht, hier kommt meine Hoffnung ins Spiel. Aufgrund der Geschichte der Evolution wissen wir, dass bereits ganze Kontinente versunken sind, ganze Völker; denken wir nur an die Babylonier, die Ägypter, die Griechen, die Römer. Bereits viele hoch entwickelte Kulturen sind ausgestorben, ohne dass alle anderen mit ihnen untergegangen wären. Das indianische Wissen ist an sich riesig, gelangte jedoch »nur« bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe, nämlich bis zum Mythischen: der dritten Stufe gemäß der Integralen Theorie nach Ken Wilber [/]. Weil eine Kultur stirbt, heißt das nicht, dass es für die Menschheit als Ganzes nicht weitergeht. Idealerweise würden wir als »entwickelte« Menschen das integrieren, was die Indianer uns gelehrt haben.

Sie kennen in ihrer Tradition keine Polizei, keine Diebe, kein Gefängnis. Das alles kennen die Indianer nicht, sondern sie haben eine sehr hohe Ethik. Etwas, das bei uns im Westen erst jetzt langsam wieder zum Vorschein kommt, vor allem durch den Buddhismus und durch den Dalai Lama: einfache ethische Regeln. Zum Beispiel: »Was du nicht willst, dass man dir antut, das füge auch keinem anderen zu« (gedanklich, emotional und körperlich). Würden wir diese Regeln befolgen, bräuchten wir eigentlich keine weiteren Gesetze mehr, alles würde funktionieren.

 

Für Chanting begeistern sich eher solche Menschen, die gemerkt haben, dass Atem etwas Zentrales ist


Du erwähnst die Integrale Theorie, der du im Buch auch ein Kapitel widmest. Inwiefern unterscheidet sich dieser
»neue« Ansatz zum Beispiel von der Gurdjieff-Arbeit, die in deiner Biografie ja ebenfalls sehr wichtig war?

Wenn man nach Rudolf Steiner [/] von einem »emotionalen« und einem »kognitiven Bereich« der Seele sprechen würde, könnte man sagen, Gurdjieff arbeitet eher oder schwerpunktmäßig mit dem emotionalen und Ken Wilber eher mit dem kognitiven Bereich. Meiner Ansicht nach erleben wir zurzeit das Transzendieren von etwas, das unsere Kultur seit Jahrtausenden kannte, nämlich, dass du stets einen Lehrer brauchst, um einen nächsten Schritt zu machen. In der Integralen Philosophie löst sich dieses Konzept vollkommen auf. Diesbezüglich besteht ein großer Unterschied zwischen Wilber und Gurdjieff, und das ist auf keinen Fall wertend gemeint. Aber wir leben heute in einer anderen Welt als damals.

Die jungen Menschen von heute repräsentieren eine Generation, zu welcher eher der Ansatz von Ken Wilber passt, der Spiritualität umfassend zu integrieren versucht.

Ich sehe das, wenn ich mit den jungen Menschen spreche, die meine Chanting-Seminare besuchen: Sie wollen nichts akzeptieren, das sie irgendwie bevormundet. Auch wenn ein Thema noch so interessant ist – sie wollen alles wieder selber machen. Und so repräsentieren sie eine neue Generation der Menschheit, zu welcher der Ansatz von Wilber passt, der Spiritualität umfassend zu integrieren versucht. Aber wir reden hier, meiner Einschätzung nach, nur von höchsten fünf Prozent aller Menschen; der Rest interessiert sich sowieso nicht für Spiritualität. Die meisten trennen oder fragmentieren ihr Leben diesbezüglich. Vielleicht besuchen sie sonntags eine Freikirche oder machen am Wochenende irgendetwas »Spirituelles«, aber die Woche hindurch leben sie wieder anders.

Deine Chanting-Seminare leitest du nun bereits seit vielen Jahren. Für wen, würdest du sagen, ist Chanting überhaupt das Richtige oder ein möglicher Weg?

Wenn Menschen »musikalisch« sind, also zum Beispiel in einem Chor singen oder ein Instrument spielen, und dann in eine Chanting-Klasse kommen und hören, dass dort mindestens die Hälfte der Teilnehmenden nicht »richtig intoniert«, sondern halt einfach chantet, weil sie eben chanten will (das kann dann mitunter recht indianisch klingen…), und wenn sie darum also keinen Wohlklang hören, dann springen sie im Allgemeinen recht schnell wieder ab. Sie können diese Brücke dann gar nicht erst aufbauen, weil sie das, was sie hören, als so schrecklich empfinden.

Es begeistern sich eher jene Menschen für Chanting, die gemerkt haben, dass Atem etwas ganz Zentrales ist. Auch sind es häufig Menschen, die nicht einfach »Zen machen«, also sich hinsetzen können und dann wird es still. Viele Leute haben mir geschildert, dass sie sich zwar zur stillen Meditation hinsetzen, aber innerlich spüren sie einen riesigen Aufruhr. Ich denke, das kennen wir alle. In solchen Fällen zeigen sich beim Chanting eben sofortige Resultate; weil wenn du einen Laut von dir gibst, kombinierst du bereits verschiedene Seinsebenen miteinander und bist nicht einfach deinem inneren Dialog ausgesetzt.

 

Im Raum dazwischen, in der Zeitnische, erlebst du das Aufgehen von allem


Du meinst, weil man, um einen Ton zu erzeugen und innerlich zu platzieren, doch auch seine Vorstellungskraft einsetzen muss oder vielleicht sogar den
»inneren Beobachter«?

Der Beobachter ist für mich bereits eine höhere Stufe. Der Meditierende, der so tut, als ob er meditieren würde, hat anfangs ja noch gar nicht die Kraft für diesen Beobachter, sondern bleibt zu Beginn ein Opfer seines Gedankenkarussells. Das Chanting kann dir hier eben deshalb helfen, weil du stets mit dem Atem arbeitest. Du spürst und fühlst, dass du atmest – und auf dem Atem entsteht Klang. Beim Platzieren des Atems kommt dann das Kognitive mit hinein; es braucht eine Imaginationskraft, um einen Klang in deinem Körper zu platzieren und zu leiten. In dem Moment hast du alle drei Seinsebenen kombiniert, und deshalb ist auch mein Anspruch an das Chanting derart hoch: nämlich diese Verbindung von Himmel und Erde auf physischer, emotionaler und kognitiver Ebene zu erzielen.

Schon wenn du nur ein bisschen Chanting übst, wird das eintreten. Ich kenne keinen Menschen, bei dem dies nicht eintritt, wenn er oder sie chantet. In der Gruppe ist es sowieso ganz leicht: Du hast die Gruppenenergie und -dynamik, irgendetwas passiert immer während des gemeinsamen Chantens, und danach bist du »happy« und die Oktave ist abgeschlossen. Wenn du aber alleine praktizierst, ist es wieder eine andere Sache; es braucht schon etwas Übung, um einen anhaltenden Benefit zu haben.

Wenn wir dich richtig verstehen, polarisierst du nicht zwischen Chanting und Meditation, beide gehören für dich zusammen, oder?

Reshad Feild in Sanssouci

Reshad Feild auf dem Geomantie-Spaziergang in Sanssouci, 19. Mai 1991. Foto: Chalice Verlag

Die Frage der Unterscheidung zwischen Leere und Form steht immer im Raum. Reshad Feild hat das sehr tief verstanden und immer wieder wunderbar erklärt und veranschaulicht. Davon war ich mehrmals Zeuge. Unvergesslich sind für mich zum Beispiel drei, vier Sekunden im Park von Sanssouci in Potsdam 1991, wo er im Rahmen eines geomantischen Rundganges plötzlich stehen blieb und sagte: »Jetzt versucht mal, in diese Richtung dort wahrzunehmen.« Und alle in unserer damaligen Gruppe von etwa zehn Personen konnten das Energiefeld von diesem »Raum dazwischen« tatsächlich spüren. Was diese wunderbare Erfahrung bewirkte, ob Reshad selbst der Auslöser oder ob er einfach nur der Vermittler war oder ob er es aufgrund seiner enormen Feinfühligkeit schlicht als Erster erkannte, kann ich nicht sagen. Aber es war tief beeindruckend.

Ist es das, was du in deinem Buch »die Zeitnische« nennst?

Ja, das könnte man sagen. Dieser »Raum dazwischen« ist praktisch genau dasselbe wie »die Zeitnische«. Darin geht alles auf. Du kannst zum Beispiel ein virtuoses Klaviersolo spielen und zwanzig Töne pro Sekunde anschlagen und du hast dennoch für jeden einzelnen Ton so viel Zeit, wie du willst. Das ist der Raum dazwischen, die Zeitnische. Was einem solchen Erleben entgegensteht, ist einerseits der unablässige Dialog in uns und unsere permanente innere Fragmentierung. Wir sind auseinandergerissen, tun dieses, tun das, tun jenes – dies zu erkennen, ist grauenvoll. Dem zu entkommen, darum geht es, egal wie du dies erreichst. Die einen schaffen es mit Zen-Meditation, die anderen vielleicht eher mit Chanting.

 

Chanting ist nicht die perfekte Methode, aber eine, die wirklich funktioniert


Du schreibst: » Die Musik erweckt in uns die große Sehnsucht und die Erinnerung an eine Heimat hinter allen Dingen – an ein verlorenes Paradies. Und vieles, was wir in uns verloren zu haben glauben, kann sich durch Chanting zurückgewinnen und regenerieren lassen.« Ist Chanting dafür also die perfekte Methode?

Es ist nicht die perfekte Methode, aber eine derjenigen, die wirklich funktionieren. Chanting eignet sich nicht ausschließlich, aber ganz besonders für Menschen, denen es schwerfällt, sich auf eine andere Art zu sammeln und ruhig zu werden.

Apropos »Sehnsucht«: Du hast unter anderem viele Jahre in einer Gurdjieff-Schule studiert. Was sagt dir als Komponist von meditativen Klängen die sehr besondere Musik Gurdjieffs, in der ja auch viel Sehnsucht mitzuschwingen scheint und die viele Menschen als ungemein berührend empfinden?

Gurdjieffs Stücke sind zu einem großen Teil in Moll und in ihnen klingt immer eine Art von Trauer und Sehnsucht an, etwas Unerfülltes.

Man kann die Musik Gurdjieffs nicht aus ihrem kulturellen und historischen Kontext der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen lösen. Er hat mit Hilfe von Thomas de Hartmann ganz einfache Melodien aus dem Kaukasus mit klassischen Harmonien verbunden. Seine Stücke sind zu einem großen Teil in Moll und in ihnen klingt immer eine Art von Trauer und Sehnsucht an, etwas Unerfülltes. Ich denke, in Kombination mit seinen Movements und mit der richtigen Einstellung ist das ganz wunderbare Musik. Aber um sie mir nur so anzuhören, ist sie mir zu traurig.

Im Kapitel »Urklänge der Heilung und Entfaltung« schreibst du: »Alle Wörter haben einen gemeinsamen ›Urursprung‹. Am Anfang war das Wort, der Klang. Bevor wir also je gesprochen, gesungen oder Musik gemacht haben, hat die Musik uns gemacht.« Warum und wie hat die Musik uns gemacht?

Bevor irgendetwas entsteht, muss eine Oktave »hereinkommen« – da wären wir wieder bei Gurdjieff und Ouspensky [/]. In dieser hereinkommenden Uroktave ist bereits alles enthalten. In der anschließenden Evolution kann nichts geschehen, was in der Involution nicht bereits »vorgegeben« oder »angelegt« wäre. Dieses Vorgegebene kann sich lediglich auf unendlich vielfältige Weise manifestierten. Die Musik ist dafür ein wunderbares Beispiel: Da ist ein Urknall (vielleicht eine Millionstelsekunde, bevor die Materie entstand) und darin sind alle Frequenzen enthalten, die es überhaupt geben kann.

Schon wenn du vor einem Wasserfall stehst, nimmst du jede Frequenz war, die es gibt; merkwürdigerweise sogar jene, die viel tiefer sind als der akustische Klang des Wasserfalls selbst. Das ist heute physikalisch einfach zu beweisen. Du nimmst also von den Sub»tönen« bis ganz hinauf ins Licht jede Schwingung wahr, ja sogar noch höher hinauf über die geistige Welt bis hin zum ersten Klang.

Dominique Starck Wasserfall

Foto: Dominique Starck

Du zitierst hier aber nur den ersten Teil dieses Satzes aus dem Johannesevangelium. Der zweite Teil lautet bekanntlich: »… und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.« Hast du diesen Teil bewusst weggelassen?

Ich glaube, wir sind Geschöpfe, wir sind nicht Gott. Dazu fällt mir ein Zitat ein von Bülent Rauf, Reshads eigenem Lehrer, der sagte: »Wir sind nicht Gott, aber wir sind nicht anders als Gott.« Auch die Schöpfung ist für mich nicht Gott. Diese Aussage ärgert mich immer ein bisschen (aber ich will natürlich nicht zugeben, dass sie mich ärgert). Wenn jemand sagt: »Alles ist Gott«, kann ich dem nicht zustimmen und denke innerlich: So ein Blödsinn. Ich glaube, dass wir einen Funken in uns haben, der entwickelt werden kann oder könnte, wenn wir es richtig anstellen. Aber wir haben, wenn man es salopp ausdrücken will, nichts mit »Gott« zu tun. Wir sind auf dem Weg zurück durch die Vielheit, zurück zur Erkenntnis, dass wir fundamental nicht getrennt sind und nie getrennt waren.

 

Als Mensch lebe ich nicht nur in einem einzigen Zustand, sondern auf vielen Ebenen gleichzeitig

M
Und diesen »Weg zurück« versuche ich persönlich jeden Tag mittels Chanting nachzuvollziehen. Ich gehe die einzelnen Zustände durch, indem ich mich vom Grobstofflichen (Erde, Wasser, Feuer und Luft) bis ins Herz beziehungsweise in den Solarplexus singe oder chante, wo bereits etwas Ätherisches geschieht (Reshad nannte diesen Bereich den »Dom«). Weiter geht es in einen sehr luftigen, aber bereits feinstofflichen, seelischen Bereich hinein und bis in die Stirn, wo der Übergang vom Feinstofflichen ins Wesenhafte und Geistige geschieht. Es geht also darum, dass man merkt: Aha, ich als Mensch lebe nicht nur in einem einzigen Zustand, sondern auf vielen Ebenen gleichzeitig. Aber wenn ich diese anderen Zustände nicht trainiere, weiß ich die meiste Zeit über gar nicht, wo ich bin. Ich kann dann diese verschiedenen Zustände schlicht und ergreifend nicht erkennen. Und hierfür liefert Chanting einen ganz wichtigen Schlüssel.

Bülent Rauf, den du gerade zitiert hast, sagt in einem Kapitel in Reshads Buch Die letzte Schranke:

So wie der Wind den Samen von einem Ort zum anderen trägt, so kann der Atem zu bestimmten Zwecken eine Absicht von einem Körperbereich zu einem anderen tragen. Durch richtiges Platzieren des Atems können wir lernen, den Körper ins Gleichgewicht zu bringen. Wir können beginnen, die Kunst der Umwandlung zu erlernen, die Kunst der Alchimisten. Und wir können anfangen, unsere Verantwortung zu übernehmen als bewusste menschliche Wesen, die sich einem Leben des Dienens auf der Erde verschrieben haben.

In deinem eigenen Buch stellst du den von Reshad gelehrten »Mutteratem« ebenfalls mit einer Übung vor, um den Schwerpunkt des Bewusstseins ins ewige Jetzt zu leiten. Kannst du noch etwas über den Zusammenhang zwischen Atmen und Chanting sagen?

Reshad Feild hat immer betont, dass der Atem bei jedem Menschen etwas sehr Individuelles ist. Im Chanting kommt das besonders zum Ausdruck.

Ja, das ist ein sehr schönes Zitat und eine großartige Aussage, denn im Prinzip ist es ja so (nur ist man sich dessen kaum bewusst): Wenn du atmest, chantest du! Atmen ist Chanten, denn wenn du atmest, ist da immer eine unglaubliche Vielfalt von Frequenzen. Vielleicht sind sie sehr leise, doch die Mehrzahl der Klänge hören wir ja ohnehin nicht. Wir hören einen winzigen Ausschnitt von vielleicht 20 bis 3000 Hertz, und alles unterhalb und oberhalb hören wir nicht.

Reshad hat übrigens auch immer betont, dass der Atem bei jedem Menschen etwas sehr Individuelles ist. Im Chanting kommt das besonders zum Ausdruck, weil man dem Atem mit dem Klang über seine eigenen Stimmbänder eine ganz eigene Färbung, einen persönlichen Ausdruck verleiht. Der Atem ist etwas sehr Persönliches, aber auch Geheimnisvolles, denn du gibst dich ja nicht zu erkennen, nur weil du in einem Raum atmest.

 

Chanting ist auch eine Art von Erinnern

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Ich bin fest davon überzeugt, dass Chanting, so wie ich es verstehe und lehre, ganz genau dasselbe ist, was in diesem schönen Zitat gesagt wird. Ich platziere den Atem in den sieben Chakren, lerne dadurch die verschiedenen Seinsebenen und die Übergänge zwischen ihnen kennen und übe, mich an sie zu erinnern. Chanting ist also auch eine Art von Erinnern.

Du schreibst: »In dem Moment, in dem ein Ziel in Zeit und Raum visualisiert ist, passiert etwas wahrhaft Magisches.« Was meinst du damit und wie äußert sich das im Alltag? Wir können ja nicht immer chantend durch die Gegend laufen.

Nein, schade eigentlich. Und ebenso wenig können wir uns dauernd unseres Atems bewusst sein. Bei den Indianern habe ich etwas Großartiges gelernt: Wenn du in deinem Leben irgendetwas anpacken willst, gehst du erst einmal hinaus in die Natur, denkst darüber nach und dann baust du dir ein Medizinrad. In einem solchen Medizinrad führen von der Mitte (deinem geistigen Selbst) Speichen oder »Gänge« hinaus in die Peripherie der Welt »da draußen«, und in dem Moment, wo du deinen Weg bewusst beschreitest (oder eben dein Vorhaben bewusst anpackst), kommt dir aus der Peripherie (der Zukunft) etwas entgegen. Offenbar besitzen also auch die indianischen Völker dieses Wissen um die hinausgehende und die hereinkommende Oktave, und zwar schon seit zwanzig- oder dreißigtausend Jahren. Beim Begehen eines solchen Medizinrades chanten die Indianer natürlich. Also könnte man sagen, ich chante auch im ganz normalen Alltag; nur ist es dann meistens eine »stille« Atemübung.

An zwei, drei Stellen schreibst du über den »Seelenverbindungspunkt« als so etwas wie das achte Chakra, das etwa eine Handbreit über dem Scheitel zu finden sei. Was hat es damit auf sich?

Die 7 Chakren und der Seelenverbindungspunkt

Es ist schwierig das genau zu beschreiben. Ich bin ja selbst noch immer auf der Reise und ich kann nur sagen: Bis jetzt erlebe oder erfahre ich nicht mehr als acht Punkte oder Chakren, aber ich glaube, es gibt viele weitere. Sicherlich gibt es zwölf ganz große Chakren, aber ich nehme an, diese sind der hereinkommenden Oktave der Menschheit vorbehalten. Wenn du die ersten sieben Chakren wahrnimmst (vom Do im Bereich des Steißbeins bis hinauf zum Ti auf dem Scheitel) und dann den achten Punkt darüber erlebst, dann hast du die Oktave wirklich erfahren. Das ist nichts »Übermenschliches«, ganz und gar nicht.

Dieser achte Punkt ist wie das Zusammenfallen der Frequenzen; du merkst plötzlich, dass die doppelte und die halbe Frequenz eines Tones essenziel dasselbe sind. Und dennoch hast du eine völlig neue Perspektive. Erst in diesem »achten« Chakra beginnt eigentlich diese Doppeloktave, die ich in den letzten Jahren immer stärker erleben durfte. Man begreift dann, und das ist ganz essenziell, dass es eben nicht sieben Töne sind, sondern vierzehn (analog den vierzehn Modi in der Gregorianik). Reshad hat übrigens immer wieder auf die Bedeutung der Zahl Vierzehn hingewiesen. Indem man sie, einen nach dem anderen, kennenlernt und viel damit übt, erlebt man irgendwann ihr Miteinander. Sie erklingen ja nicht nacheinander, sondern immer miteinander.

 

Zuhören und Geben sind dasselbe – und beides bedeutet Heilen


Kannst du noch etwas sagen über den Zusammenhang von Chanting und Heilen?

Für mich besteht da ein ganz wichtiger Zusammenhang. Mit meinen sechzig Jahren Lebenserfahrung kann ich heute sagen: Ein »wirklicher« Mensch ist ein hörender Mensch. Sobald ein Mensch zuhören kann, gibt er. Wenn mir jemand zuhört, werde ich beschenkt. Zuhören und Geben sind für mich dasselbe. Und zuhören kann man nicht, ohne wirklich bescheiden zu sein. Wenn du arrogant bist, kannst du deinem Gegenüber doch nicht wirklich zuhören; das ist unmöglich. Entweder du hörst dann gar nicht zu oder hast dir die Antwort bereits zurechtgelegt. Zuhören hat mit Bescheidenheit zu tun, und beides sind Formen von Geben. Und das ist Heilen.

Dein Buch enthält auch zwei äußerst interessante Kapitel über Oktaven in der Natur. Du hast vor Jahren an einem Vortrag gesagt, man solle versuchen, mit den Augen zu hören und den Ohren zu sehen. Ist es denn so, dass Orte in der Natur, zum Beispiel sogenannte Kraftorte, für dich »klingen«? Wie »siehst« du solche Orte?

Eigentlich weder mit den Augen noch mit den Ohren. Denn die Oktave ist an sich ja nichts materiell Physisches; sie in der Natur zu erleben, ist etwas Feinstoffliches. Du musst bereits vorher die Erfahrung der Oktave gemacht haben. Natürlich kannst du mit etwas Übung auch mit dem optischen Auge erkennen, wo sich eine gewisse Harmonie in der Natur zeigt oder wo etwas in der Umgebung merkwürdig erscheint. Aber die eigentliche Wahrnehmung der Oktave geschieht auf einer feinstofflichen Ebene.

Die 7 Chakren und der Seelenverbindungspunkt

Ein besonderer Kraftort im Tessin. Foto: Dominique Starck

Das ist doch auch eine der Grundlagen der Geomantie, oder nicht?

Natürlich ist dies in der Geomantie wichtig. Aber diese widmet sich ja nicht ausschließlich der Oktave oder dem Gesetz der Sieben, sondern auch anderen Zusammenhängen. Darum tausche ich mich zum Beispiel regelmäßig und sehr gerne mit drei Geomanten im Tessin aus, und in dieser Zusammenarbeit bereichern wir uns gegenseitig, sodass sie ihr geomantisches Wissen einbringen und ich mein Verständnis der Oktave. Das ist sehr befruchtend. Auch die katholische Kirche besitzt übrigens ein sehr weitgehendes Wissen über die Oktave, wie sich etwa in den vierzehn gregorianischen Modi oder den vierzehn Stationen des Kreuzweges zeigt.

Einen solchen Kreuzweg im Tessin beschreibst du ja auch in deinem Buch. Wie reagieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf solche Kraftort-Führungen [/], die du dort zum Beispiel gemeinsam mit diesen Geomanten anbietest?

Das ist schwierig zu beantworten, zum einen weil es sehr individuell wirkt, zum anderen weil es fast unmöglich ist, solche inneren, sehr persönlichen Erfahrungen in Worte zu fassen und sie mit anderen Menschen zu teilen. Ich würde sagen, im Schnitt ist es ungefähr so, dass etwa zwei Drittel der Menschen an solch einem Kraftort zutiefst berührt sind und am liebsten gar nicht mehr weg möchten, während das restliche Drittel schlicht und ergreifend sagt: »So ein Quatsch habe ich noch selten erlebt oder gehört.« Aber ich bin mit diesem Verhältnis absolut zufrieden, das ist völlig okay.

Chiara Fiorini

Chiara Fiorini: Über alle Berge (2012). Mehr zur Künstlerin unter www.chiarafiorini.ch [/]

Das schöne Titelbild deines Buches stammt von der Schweizer Künstlerin Chiara Fiorini. Wieso hast du gerade dieses Bild ausgesucht? Was »bedeutet« es für dich im Zusammenhang mit Chanting?

Zum einen illustriert es für mich natürlich diese Verbundenheit, oder auch befruchtende Spannung, zwischen Himmel und Erde. Und dann ist da dieses Stück »Zaun« (von dem Chiara selbst sagt, es ist eigentlich gar kein Zaun…), der vielleicht die Notwendigkeit der Arbeit an sich selbst symbolisieren könnte, aber auch relativ einfach – eben zum Beispiel durch Chanting –  »überwunden« werden kann, wenn deine Absicht aus dem Herzen kommt, das hier in Violett gemalt ist, was nach der Chakrenlehre übrigens für das Spirituelle steht. Und dann ist da natürlich diese Weite im Hintergrund, diese große Weite, die mir sehr gefällt.

 

Wir danken dir, Dominique, für dieses sehr persönliche und lehrreiche Interview.

© Dominique Starck / Chalice Verlag 2019