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Richard Hornsby & Bülent Rauf

Christus

»Noch ehe Abraham wurde, bin ich«

Rembrandt: Christuskopf. Philadelphia Museum of Art

edem Propheten wurde gemäß der ihm eigenen Stellung in der Entwicklung der Religion eine Funktion gegeben, und die heilige Funktion jedes Heiligen besteht in Übereinstimmung mit der Vollendung der universellen Heiligkeit. Die prophetischen und die heiligen Aspekte sind zwei zu unterscheidende Eigenschaften der ›offenbarten Ordnung‹. Obwohl im spirituellen Sinn sich die Stellung eines Heiligen von derjenigen eines Propheten, oder vielmehr von der prophetischen Funktion, unterscheidet, ist allen Propheten und allen Botschaftern aufgrund ihrer eigentlichen Natur die Wirklichkeit der Heiligkeit verliehen. In ihrer Beziehung zur Göttlichen Ordnung ist ihnen die Entfaltung einiger besonderer Aspekte der Wahrheit aufgetragen. Die prophetische Funktion ist in erster Linie relativ und damit zeitlich beschränkt, insofern als dass die enthaltene Botschaft nur für einen bestimmten Zeitraum geeignet ist. Es lässt sich erkennen, dass die prophetische Funktion die äußerlichen spirituellen Erfordernisse bestimmter Zeiten schuf, und diese wurden durch Taten und Worte veranschaulicht.

Der Begriff »Heiliger« (wali) kann nur für jene Menschen verwendet werden, die von der Einheit aller Existenz vollkommen durchdrungen sind und ihre Einheit in Ihm verwirklicht haben. Der Heilige verfügt über viele Möglichkeiten des spirituellen Han­delns, wie im Falle von Propheten und Botschaftern, deren essenzielles Wesen zur heiligen ›Veranlagung‹ gehört, die jedoch zeitgemäße Formen von Lehre und Religion manifestieren müssen. Der Zustand der Heiligkeit ist ein Andauern des Seins und der Verwirklichung, denn er ist die Vervollkommnung des Menschen; während die Anforderungen an das Prophetentum nur eine Funk­tion innerhalb des Ganzen darstellen. Das Wissen des Heiligen ist universell, denn es ist gleichzusetzen mit Seinem Wissen über Sich selbst; der Heilige ist der insan-i kamil, der vollkommene Mensch.

»Schau den Heiligen nicht schief an, er hält das Universum in seinen Händen. Er regiert die Welt, die Autorität des Herrschers ist in seiner Hand. Du glaubst, er ist ein Mensch wie du; doch der Heilige besitzt ein Geheimnis, das Geheimnis Gottes liegt in seinen Händen« [Kaygusz Sultan].

Christus ist das vollkommene Vorbild an Heiligkeit in ihrer Uni­versalität, denn deutlicher als alle anderen Propheten und Botschafter verkörpert Christus die Art des Heiligen. Der Charakter und das spirituelle Wesen Christi sind von allen anderen Pro­pheten und Botschaftern dadurch unterschieden, dass sein Ursprung in erster Linie Göttlich ist, und zwar in dem Sinne, dass er im Wesentlichen eine direkte Erscheinung des Geistes Gottes ist. Der von keinem Menschen geborene Christus hat zwei grundsätzlich zu unterscheidende Naturen, diejenige aus leiblicher Materie, geboren durch das Gefäß der Maria, und diejenige, die durch Gabriel in Form des reinen Geistes vermittelt wurde. Und in diesem Sinn liegt der Schlüssel zum exoterischen wie auch zum inneren Verständnis seiner komplexen Natur in seinem Wesen. In seiner wiederkehrenden Funktion enthält seine Botschaft diese beiden Aspekte in einer essenziellen Wirklichkeit.

Betrachtet man das Erscheinen der Propheten und Botschafter als die fortlaufende Entfaltung eines einzigen Prinzips, muss es eine logische und beobachtbare Erfüllung dieses Prinzips geben. Ohne Zweifel verläuft durch die Evolution eine vorab festgesetzte Ordnung, deren Grundsatz nur im Licht der Einheit erkannt werden kann. Diese vorherbestimmte Ordnung besteht innerhalb Seines vollständigen Wissens; und man kann aus der Perspektive der Einheit eine logische Übereinstimmung der Erscheinungen erkennen. Um ein ›historisches‹ Verständnis von Christus und seiner Beziehung zur globalen Evolution zu erlangen, ist es notwendig, seine Stellung innerhalb der Entfaltung der Religion vor und nach seinem ersten Erscheinen zu verstehen.

Die prophetische Botschaft Mose, des wichtigsten prophetischen Vorläufers Christi, lag in einer ursprünglichen Haltung vollständiger Unterwerfung unter eine vollkommen transzendente Gottheit. In dieser Vorstellung war Gott derart weit entfernt von den immanenten Wirklichkeiten dieser Welt, dass der gewöhnliche Mensch kaum Aussicht hatte, zu irgendeinem Gefühl von Einheit mit Ihm zu gelangen; seine Hingabe zeigte sich in der Ehr­furcht vor dieser Majestät und Unnahbarkeit Gottes.

Der nächste bedeutende Botschafter nach Moses war Christus, der eine vollständig umgekehrte Perspektive eröffnete, insofern er für seine Mitmenschen die Erscheinung des zur Menschheit hinabgestiegenen Gottes verkörperte. Der wichtigste Grundzug seiner äußeren Lehren basierte nicht auf der Unnahbarkeit Gottes, sondern vielmehr auf einer Religion, die auf der spirituellen Verwirk­lichung des Menschen durch seine potenzielle Liebe zu Gott beruht. Durch Christus sahen die Menschen einen Pfad, der zur Vereinigung führte, denn Gott schien unter ihnen zu leben.

Nachdem diese Religion begründet worden war, erschien der Prophet Mohammed und predigte weder ausschließlich die transzendente Botschaft Mose noch die immanenten Lehren Christi. Sein Ursprung war nicht auf dieselbe Art essenziell Göttlich wie derjenige von Jesus, sondern grundlegend sterblich. Aus diesem Grund wird Mohammed als Urbild des »vollkommenen Menschen« betrachtet, denn Jesus kann nicht etwas repräsentieren, dem er nicht vollständig angehört, nämlich der natürlichen Ordnung dieser Welt.

Wir müssen uns daran erinnern, dass die Funktion eines Propheten in der Begründung einer Religion liegt und in der Verbreitung einer bestimmten Lehre in Übereinstimmung mit der Entwicklung der jeweiligen Zeit; als solche ist die prophetische Botschaft grundsätzlich exoterisch. Sie enthüllt die ihr innewohnenden Wahrheiten, die zu der gegebenen Zeit nur von einer spirituellen Elite verstanden werden konnten, nicht offen. Auf einer exoterischen Ebene stellen Moses, Jesus und Mohammed in gewissem Sinn einen dreifachen Aspekt dar, und die prophetische Funktion fand durch diese Aspekte ihre Vollendung, da Mohammed keine neue Religion begründete, sondern eine Syn­these bildete, basierend auf den Wirklichkeiten sowohl der immanenten als auch der transzendenten Natur Gottes. Seine Religion erfüllte die vollständig exoterische Vorstellung Gottes, und er wird manchmal als das »Siegel der Propheten« bezeichnet, da er, wie im Koran beschrieben, der letzte Vertreter des Prophetentums ist.

Nun bedeutet dieses »Siegel des Propheten« nichts weiter als das Besiegeln des prophetischen Zyklus’ in der menschlichen Evolution. Die wirkliche und ewige Natur aller Propheten ist diejenige des Heiligen, ein Zustand, der getrennt ist von ihrer rein zeitlichen Funktion und ihr essenzielles Wesen und ihre Verwirklichung umfasst. Die Propheten durften und konnten den Massen nicht alles enthüllen, was sie wussten, denn dies wäre über das hinausgegangen, was zu sagen sie innerhalb der Grenzen einer religiösen Lehrverfassung beauftragt waren. Alle Propheten und Botschafter sind in der einen Realität enthalten und daher in ihrer Essenz voneinander noch nicht einmal unterscheidbar außer aufgrund ihrer individualisierten Funktion. Das meinte Dschalal ad-Din Rumi mit seinen Worten: »Er war es, Der kam und ging, in jeder Generation, die du gekannt hast.«

Christus war bei seinem ersten Kommen das perfekte Vorbild des universellen Heiligen und betraut mit den äußerlichen Auf­gaben eines Propheten. Bei seinem zweiten Kommen wird die Situation umgekehrt sein und er wird das »Siegel der Heiligkeit der Propheten und Botschafter« verkörpern. Damit ist gemeint, dass Christus bei seiner Wiederkunft auf einer universellen Ebene kommen und daher keine neue Religion begründen wird, die dann nur für eine Minderheit annehmbar wäre, sondern er wird vielmehr die innere heilige Wahrheit aller Religionen zum Vorschein bringen. Aufgrund der Tatsache seiner Natur als Einheit von Mensch und Gott ist Christus der vollkommene Heilige, und er wird diesen Zustand auf einer inneren Ebene auf der ganzen Welt verkörpern.

Muhyiddin Ibn Arabi schrieb in den Fusus al-Hikam:

Der Geist (ruh) [das heißt Christus] wurde offenbart aus dem Wasser Marias und vom Hauch Gabriels, // In der Form des Menschen, aus Ton gemacht, // In einen Körper gereinigt von [verderblicher] Natur, den er »Gefängnis« nennt; // Und wohnet darin seit mehr als tausend Jahren. // Ein »Geist von Gott«, von keinem anderen: // Darum erweckte er die Toten zum Leben und schuf den Vogel aus Ton. // Seine Beziehung zu seinem Herrn ist so, dass er mit ihr in den höheren und niederen Welten wirkt. // Gott reinigte seinen Körper und erhob ihn im Geiste, // Und machte aus ihm das Sinnbild Seiner schöpferischen Handlung. [1]

Das bedeutet, dass Christus in seiner Manifestation die Form seiner Mutter Maria und ebenso die Verkörperung des Geistes der universellen Natur oder »reiner Geist« war. Der Atem Gabriels, der durch Maria den essenziellen Geist Christi übermittelte, war tatsächlich nichts anderes als der Göttliche Atem, manifestiert in der besonderen Form Gabriels. Dieser Göttliche Atem wird gleichgesetzt mit dem universellen Logos, der als wichtigste Komponente der Manifestation der Göttlichen Ordnung existiert.

Christus sagte: »Noch ehe Abraham wurde, bin ich« [Johannes 8.58], was bedeutet, dass sein grundsätzlich spirituelles Wesen in keiner Art und Weise auf seine physische Erscheinung begrenzt sein kann. Diese Aussage fasst klar und deutlich die Verwirrung zusammen, die in Bezug auf die zwei unterschiedlichen Naturen Christi entstanden ist, und bestätigt eindeutig die vollkommene Unabhängigkeit und Transzendenz Gottes. Die Streitereien über die eigentliche Natur Christi entsprangen aus einem späteren Mangel an Verständnis seiner zweiseitigen Natur. Aufgrund ihres Missver­stehens Christi haben die Menschen die wesentliche Transzendenz des Absoluten verleugnet. Es ist irreführend und eine Begriffsverwirrung, Christus den »Sohn Gottes« zu nennen. Er war sowohl Gott als auch Mensch, eine duale Natur, die von vielen unrichtigerweise zum »Sohn Gottes« verschmolzen wurde.

Von Christi Geburt wird überliefert, dass Gabriel der Maria in Gestalt eines Mannes erschien und sie aufgrund der Reinheit ihres Wesens in ängstlicher Reaktion auf diese Erscheinung Zuflucht bei Gott suchte. Sie suchte bei Gott Schutz vor diesem Mann, und so zog sie sich selbst in die Göttliche Gegenwart zurück. Nun war es Gabriel nicht möglich, in diesem Moment seinen Atem in sie zu hauchen, denn in diesem Augenblick war ihr Wesen vollkommen identifiziert mit der Göttlichen Präsenz; und wenn Gabriel zu diesem Zeitpunkt gehaucht hätte, wäre Jesus in seinem menschlichen Aspekt in einem Zustand geboren worden, der gleich gewesen wäre wie der seiner Mutter im Moment der Empfängnis. Dies hätte sein Wesen vollkommen kompromisslos werden lassen, denn er hätte in seiner Anlage nicht die Aufnahmefähigkeit und die Passivität gehabt, die für jegliches menschliche Dasein notwendig sind. Somit wäre seine Existenz auf der menschlichen Ebene unmöglich zu ertragen gewesen, da sein Wesen in keiner Weise der menschlichen Natur entsprochen hätte. Doch als Gabriel seine wahre Natur enthüllte und Maria Gottes Absicht erklärte, unterwarf sie sich in ihrem Glauben und ihrem Vertrauen vollständig – und in diesem Moment war es Gabriel erlaubt, in sie zu hauchen. Jesus war das Wort Gottes, projiziert in Maria durch den Vermittler Gabriel, und sein Atem war nichts anderes als der Atem Gottes, der durch die Erscheinung eines Geistes übermittelt wurde.

Durch die Art seiner Geburt wurde Christus mit der Macht geschmückt, allem, was ihn umgab, Leben einzuflößen. Die Fähigkeit, Leben wiederherzustellen und einzuhauchen, wird durch die Erlaubnis oder den Willen Gottes verliehen; und als Christus die Kranken heilte und die Toten zum Leben erweckte, war dies eine Handlung Gottes. Jesus war zu dieser Wiederbelebung befähigt aufgrund seines Wesens als der Verkörperung jenes reinen Geistes.

Alle Geister, die Verkörperungen des Göttlichen Geistes sind, sind fähig, allem, was sie berühren, Leben zu geben, weil sie in ihrer Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ausschließlich gemäß Seiner Erlaubnis handeln. Der Göttliche Atem ist das Ausatmen oder die Manifestation des reinen Geistes und findet seinen Träger [oder: sein Gefäß] in der relativen Welt im Element Wasser. Denn es gibt in dieser Welt nichts Lebendiges, das nicht Wasser als ersten Bestandteil hätte; Wasser stellt in der Natur wie auch in der Alchimie den passiven und empfänglichen Vermittler der Schöpfung dar. Dieses Prinzip der Empfänglichkeit gilt sowohl wörtlich als auch metaphorisch. Es liegt an den besonderen Umständen seiner Geburt, dass Christus fähig war, in dieser Art und Weise wundersame Handlungen zu vollbringen.

Es gibt einen Grund dafür, dass Gabriel der Maria in Gestalt oder im Bild eines Mannes erschien. Denn als Geist ist seine Er­scheinung auf keine spezifische Form limitiert; er hätte sicherlich die Gestalt irgendeines anderen Geschöpfes annehmen können, wenn er dieses gewollt hätte oder er dazu angewiesen worden wäre. Oder er hätte auch in keinerlei greifbarer Form erscheinen müssen; beispielsweise hätte er als weißes Licht auftreten können.

Als Christus seine Wunder vollbrachte, schöpfte er notwendigerweise aus demselben Zustand und derselben Erscheinungsform, die ihn selbst zur Zeit seiner ›wundersamen‹ Geburt hervorgebracht hatten. Mit anderen Worten wurde seine Form derselben gleichgestellt, die Gabriel angenommen hatte, als er Maria erschienen war. Denn es war nicht der körperliche Leib Jesu, durch den seine Wunder vollbracht wurden, sondern durch die Erscheinung des Göttlichen Geistes. Hätte Gabriel nicht die Form eines Mannes angenommen, sondern die eines anderen Wesens, hätte Christus bei der Vollbringung seiner Wunder in jener Form erscheinen müssen unter Beibehaltung seiner physischen, körperlichen Gestalt, die von Maria stammte. Denn die Wirkung seiner Wunder durch den Göttlichen Atem war die wirkliche Erschaffung von Leben; und diese kann nur von Gott stammen oder durch Seine Erlaubnis, und nicht auf die verworrene Art, mit welcher die Menschen die Handlungen Christi als von dessen rein körperlichem Zustand ausgehende Handlung übersetzt haben. Obschon der Atem – in Wirklichkeit die Ursache aller von Chris­tus vollbrachten Wunder – von ihm zu kommen schien, kann er nicht auf die Art und Weise beschränkt werden, wie dies die dogmatische Lehrmeinung häufig versucht. Genauso wie bei Christi Geburt oder bei seiner ursprünglichen Empfängnis Gabriel in Maria hineinhauchte, in Tat und Wahrheit jedoch der Atem nicht von Gabriel stammte, sondern nur durch dessen bildhafte Form übermittelt wurde.

Die einzigartige Stellung Christi liegt darin, dass in jedem anderen Fall der Mensch durch einen natürlichen Prozess mit seinem physischen Vater verbunden ist, und nicht mit dem, was ihm sein essenzielles Leben gegeben hat. Jede Form entstandenen Lebens besitzt sein Leben ausschließlich durch die Erlaubnis Gottes und durch die Wirkung des Göttlichen Atems. Der Göttliche Atem entspringt der Verengung, die zwischen dem Manifestierten und dem Unmanifestierten liegt. Sie besteht aufgrund des Entschlusses des Absoluten, Sich selbst zu enthüllen und die Mannigfaltigkeit der Schöpfung zu begründen.

Weil dieser Teil der Natur Christi dem reinen Geist entspricht, findet Christus darin seine Identifikation mit der Göttlichen Liebe, denn als Symbol des Schöpfungsaktes wird er notwendigerweise mit dem der gesamten Schöpfung zugrundeliegenden Faktor gleichgesetzt. Liebe ist in ihrer reinsten essenziellen Form Gött­liche Liebe, und dies ist das Antriebsprinzip aller Manifestation. Die Göttliche Liebe ist vom Wesen der Liebe verschieden, obwohl die gewöhnliche Liebe Teil der Göttlichen Liebe ist. Die rein menschliche Liebe ist das natürliche Gesetz der Anziehung, die zwischen Menschen und Objekten besteht, und eine noch stärker verfeinerte Liebe liegt in der spirituellen Suche zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Sie ist die Sehnsucht nach Voll­endung und Einheit und weist als solche eine Richtung auf; die Göttliche Liebe jedoch ist weder irgendwohin gerichtet noch auf etwas bezogen, denn sie kennt weder Subjekt noch Objekt außer sich selbst. Es gibt keine Besonderheit oder Form, die geliebt oder angebet wird. Es ist die Liebe, die weiß und sieht, dass es in allen Dingen nichts außer Ihm und dass es kein Dasein außer Seinem Dasein gibt; und die IdentiWkation Göttlicher Liebe im menschlichen Gefäß ist lediglich Seine Liebe Seiner selbst, die sich in Sei­nem Bild manifestiert.

Christus ist der »Pol der Liebe«, denn er ist tatsächlich die Achse oder das Zentrum der Göttlichen Liebe. Der Mensch muss sich der Liebe durch eine universelle Assimilation von Wissen annähern, denn das Wissen ist im Hinblick auf irgendeinen Aufstieg zur vollständigen Identifikation mit Seiner Liebe im Grunde vorrangig. Dieses Wissen wurde vorbereitet und gegeben, doch kann es nur durch ein umfassendes Absorbieren vervollständigt werden. Damit Christus wieder kommen kann, muss sich der Mensch spirituell auf eine universelle Stufe weiterentwickeln, und durch Wissen wird hierfür eine »Plattform« errichtet. Denn bei seiner Wiederkunft wird Christus nur auf einer inneren Stufe sprechen, denn er wird, wie bereits erklärt, nicht als Stifter irgendeiner Religion handeln, sondern die innere Wahrheit aller Religionen auf­zeigen. Daher kann er nicht kommen, solange nicht auf globaler Ebene ein gewisser Grad an Wissen erreicht worden ist, denn ohne ein solches müsste seine Funktion hauptsächlich exoterisch bleiben.

Jeder Mensch, der die Station eines Gnostikers erreicht, ist für sich selbst schon vor seinem physischen Tod gestorben und daher auf eine Art von den Gesetzen der Zeit befreit, sogar dann, wenn er aus diesem Dasein hinweggenommen wird. Dies kann auch die Form einer scheinbaren Existenz innerhalb des Lebens, wie wir es kennen, annehmen. Es ist im Licht dieser Universalität zu verstehen, dass selbst der Tod die essenzielle Präsenz eines Heiligen nicht aus dieser Welt entfernen kann; und die Gegenwart Christi besteht durch alle Zeit hindurch im Äußeren und im Inneren im Sinne ihrer relativen Existenz. Die Heiligen sind jene, die die Einheit erreicht haben.

Im Apokryphon des Johannes spricht Christus über dieses Geheimnis, seine Natur und sein Missverstehen durch die Menschen:

»Denn was du bist, siehst du, das habe ich dir gezeigt. Was aber ich bin, das weiß allein ich, sonst keiner. Das Meine also lass mich haben, das Deine aber sieh durch mich; mich aber wirklich zu sehen, ist, so sagte ich, nicht möglich, vielmehr [nur] das zu erkennen, was du, weil du verwandt bist, zu erkennen vermagst. Du hörst, dass ich gelitten habe – und doch habe ich nicht gelitten –, dass ich nicht gelitten habe – und doch habe ich gelitten, dass ich gestochen worden sei – und doch bin ich nicht geschlagen worden –, dass ich aufgehängt worden sei – und doch bin ich nicht aufgehängt worden –, dass Blut aus mir geflossen sei – und doch ist es nicht geflossen –, kurz, dass ich das, was jene von mir sagen, nicht zu erdulden gehabt habe, jenes aber, was sie nicht gesagt haben, gelitten habe. Was es aber ist, sage ich dir in Rätselworten, denn ich weiß, dass du es verstehen wirst. Erkenne mich daher als die Gefangennahme [oder: die Misshandlung] des Logos [oder: Wortes], das Durchbohren des Logos, das Blut des Logos, die Verwundung des Logos, das Aufhängen des Logos, das Leiden des Logos, das Anheften [oder: An­nageln] des Logos, den Tod des Logos.« [2]

Historisch betrachtet stehen wir heute am Beginn des Übergangs in einen neuen Zyklus, doch dieser wird nicht geschehen ohne zahl­reiche Veränderungen und Unruhen, die in naher Zukunft auftreten werden. Der Mensch muss zur Entschlossenheit finden, seine Bestimmung zu erfüllen.

Es wird überliefert, Gott habe bei der Erschaffung der Welt Satan, dem »gefallenen Engel«, die ganze Macht der Verführung und der Täuschung über all jene verliehen, die ihm in die Hände fallen, dass aber bei Christi Wiederkunft diese Verführungskraft, die über alle vorangegangenen Generationen geherrscht hat, zurückgebunden werden wird. In der Offenbarung des Johannes [20.2–3] steht dazu: »Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange – das ist der Teufel oder der Satan –, und er fesselte ihn für tausend Jahre. Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit freigelassen werden.«

Nun ist es in der gesamten relativen Existenz bestimmt, dass es ein Gesetz der Polarität gibt, und da es in der vorherbestimmten Ordnung liegt, dass es eine Zeit des vollständigen Friedens auf der Erde gebe, ist es notwendig, dass vor und nach diesem Zeitalter ein Verführer existiert – jenen, den wir für gewöhnlich »Teufel« nennen. Die »tausend Jahre« sind das Zeitalter, auf das sich in beinahe allen Traditionen ein Hinweis findet, manchmal heißt es »das Goldene Zeitalter« und manchmal anders. Es ist das Zeitalter der Vervollkommnung des spirituellen Potenzials des Menschen auf globaler Ebene, wenn die universelle Natur durch Christus als innere Verwirklichung aller Menschen bestehen wird. Christus als das Symbol dieser Vollendung wird die innere Wirklichkeit der Heiligkeit in die Erfüllung der globalen Evolution einbringen, denn er ist der Führer aller walis (Heiligen).

Aufgrund des unumgänglichen Prinzips der Polarität wird nach dieser Zeit der Vollkommenheit auch eine Zeit anbrechen, in der das Chaos herrschen wird. Satan wird die Menschheit erneut täuschen, und die Menschen werden aus ihrem vorangegangenen Zustand des Friedens und der spirituellen Erfüllung zurückfallen in ein Unwissen über jegliche spirituelle Realität. Ihre Mentalität wird auf diejenige eines tierischen Daseins reduziert, in welchem Gier und Selbstsucht ihr Leben beherrschen und nichts in der Welt verbleibt, was der spirituellen Wirklichkeit des Menschen entspricht. Ibn Arabi sagt, dass nur ein Mensch übrig bleiben wird, der noch irgendein Wissen besitzt:

In jenen Tagen wird Unfruchtbarkeit sich bei den Männern und Frauen ausbreiten, so dass es viel Beischlaf ohne Zeugung geben wird. Er wird die Leute zu Gott rufen, aber keine Antwort erhalten. Nachdem Gott seinen Geist und die letzten Gläubigen jener Zeit hinweg genommen haben wird, werden die Überlebenden wie Rohlinge sein, das Erlaubte werden sie nicht von dem Verbotenen scheiden. Sie werden rein nach ihren natürlichen Neigungen handeln und der Begierde folgen, die losgelöst von Vernunft und Gesetz ist – und über ihnen wird es sein, dass die letzte Stunde anbricht. [3]

Das ist die Zeit, wenn diese Erde zerstört und das Dasein auf eine »neue Erde« versetzt werden wird. Aber in Wirklichkeit gibt es keinen Tod, sondern nur die kontinuierliche Evolution und Ver­vollkommnung des Daseins. Sogar Satan wird schließlich zu seiner Quelle zurückkehren, denn alles Leben kehrt unvermeidlich zur essenziellen Einheit zurück, aus der es stammt.

© Meral Arim
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag

Dieser Text wurde 1974 von Rashid Hornsby mit Hilfe von Bülent Rauf geschrieben und 2003 von Hakim Young leicht redigiert. Er kursierte viele Jahre lang als Studienmaterial im Chisholme House sowie in der von Reshad Feild geleiteten Lebenden Schule.

Anmerkungen

[1] Muhyiddin Ibn Arabi: Die Weisheit der Propheten, Seite 92. Übersetzung: Wolfgang Herrmann.

[2] Wilhelm Schneemelcher, Edgar Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Mohr 1959, Band 1, Seite 170.

[3] Muhyiddin Ibn Arabi: Die Weisheit der Propheten, Seite 51. Übersetzung: Wolfgang Herrmann.