Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst

Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Reshad Feild

Die mystische Vermählung von Christentum und Islam

Groll, Neid und Stolz in der Symbolik der Kreuzigung

Foto: Chalice Verlag

ch möchte heute etwas über den Islam und die katholische oder christliche Tradition sagen. Euch mag aufgefallen sein, dass ich sagte: »die katholische oder christliche Tradition«. Wie ihr wisst, gibt es da einen sehr großen Unterschied, einen Bruch, der nach Jesus Christus entstanden ist. Jesus wollte nie eine Religion begründen. Als er auf den Ölberg stieg, um zu beten, sagte er zu seinen Jüngern: »Wachet mit mir!« – doch sie schliefen alle ein. Er hatte sie das Vaterunser gelehrt, das sich im Original natürlich viel besser anhört als so, wie ich es kürzlich auf Aramäisch rezitiert habe. Am Kreuz schließlich sagte er: »Oh mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Die meisten Menschen, die zu mir kommen, sind Katholiken oder sonstige Christen. Ich denke, sie sollten den Klang der Vergebung hören können für all die Menschen, die das Christentum geschaffen, aber nie um Vergebung gebeten haben. Dieser Mensch, Jesus, lebte sein Leben, und er starb wach. Schließlich, so heißt es, ist er auferstanden und lebt in uns allen.

Mein größtes Problem bei der Vermittlung dessen, was mir am Herzen liegt, war seit jeher die religiöse Form. Es ist immer dasselbe. Kürzlich, zum Beispiel, kam mich jemand besuchen, der sieben Jahre lang in einem Kloster gelebt hat. Als er Zeuge unserer Gebete wurde, konnte er sehr deutlich feststellen, dass es hier keine Trennung gibt zwischen uns und dem christlichen Weg. Was ich versuche, euch zu vermitteln – manchmal beispielsweise durch Worte von William Blake oder jemand anderem, obwohl sie eigentlich alle von Gott kommen – ist eine Frage. Aber die Antwort darauf werde ich euch nicht geben; um sie zu finden, müsst ihr euch sehr anstrengen. Die Frage lautet: Worin besteht die mystische Vermählung von Christentum und Islam? Und wie spielt die jüdische Tradition da hinein?

Die Brosche von Ballycotton

Im Jahr 1875 wurde in einem Moor bei Ballycotton in der irischen Grafschaft Cork diese Silberbrosche gefunden (British Museum, Katalog-Nr. 1875, 1211.1), die aus dem achten oder neunten Jahrhundert nach Christus stammt.

Es handelt sich um ein juwelenbesetztes Keltenkreuz mit Tierfiguren, in dessen Mitte ein Glasstein sitzt mit der Inschrift bismillah (»im Namen Gottes«) oder insh’Allah (»so Gott will«) in kufischer Schrift.

Es ist bekannt, dass zwischen dem frühmittelalterlichen Irland und dem karolingischen Europa vielfältige kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen bestanden. Die Periode des achten und des neunten Jahrhunderts wird von vielen Historikern für den Höhepunkt der irischen kirchlich-kulturellen Aktivität und Befruchtung des Kontinents gehalten. Am deutlichsten werden diese personifiziert von Sedulius Scotus und Johannes Scotus Eriugena

Alle diese Traditionen stammen aus einer bestimmten Gegend. Das Christentum ist eine Religion der Vereinigung, und der Islam ist eine Religion der Einheit. Daher könnte man die Frage auch so stellen: Was ist die mystische Vermählung zwischen Vereinigung und Einheit? La illaha il’Allah – »nein, es gibt keinen Gott außer dem einen Gott.« Wenn ihr darauf die Antwort findet, könnt ihr auf die Essenz stoßen der Vollendung der »Linie der Propheten«, und das ist Mohammed (Friede und Segen seien mit ihm). Mein erstes Buch hieß auf Deutsch Ich ging den Weg des Derwischs, und das zweite erhielt den deutschen Titel Das Siegel des Derwischs. Sowohl Jesus als auch Maria sind Propheten in der Linie der Propheten. Der Prophet Mohammed hat die Linie der Propheten besiegelt. Wenn man das Siegel hat, braucht man nichts Weiteres mehr. Wenn ihr das versteht, habt ihr keine Dinge mehr nötig wie Eckankar oder all diese Kristalle und das ganze Zeugs oder irgendwelche Systeme… Warum? Wenn man es erst einmal verstand hat, ist es ganz einfach.

Jesus – abgesehen davon, dass er ein Prophet ist – ist auch das Siegel dessen, was wir »Heiligkeit« nennen. Hazrati Mariam, Maria, ist die Mutter von allem. Ich glaube, ein bisschen davon durften wir vor zwei Tagen, an Maria Himmelfahrt, erleben. In der Sufi-Tradition gibt es die sogenannten »drei Pole«: den Pol der Liebe (Dschalal ad-Din Rumi), den Pol des Wissens (Muhyiddin Ibn Arabi) und den Pol der Macht (Abd al-Qadir al-Dschilani [/]). In aller Bescheidenheit möchte ich erwähnen, dass ich in alle drei initiiert bin. Mein Lehrer, Bülent Rauf, trug zu seinen Lebzeiten den »Hut Ibn Arabis«, des Pols des Wissens. Meine Frau, Penny, weiß eine ganze Menge über Dschilani. Und wir alle hier wissen ein bisschen etwas über die Liebe. Wie ich schon mehrfach sagte: Der Heilige Franziskus, Maulana Dschalal ad-Din Rumi und Christus – sie sind alle eins. Sie alle sind die Liebe.

Eine Frage habe ich euch bereits gestellt. Nun frage ich euch noch etwas. Der Weg, auf dem wir reisen, wird »der Weg der Wahrheit« genannt und »der Weg der Liebe, des Mitgefühls und des Dienens«. Wer repräsentiert das? Steht Jesus für das Mitgefühl? Für das Dienen? Für die Liebe? Er ist einer der Propheten. Was repräsentiert Moses? Wofür steht Adam? Heute Morgen lehnte ich alleine an der Tür meines Cottages, und plötzlich erkannte ich: Heute ist der Tag Josefs; so wie vorgestern der Tag Marias war. Josef besaß einen vielfarbigen Mantel. Das war ein sehr gutes Zeichen, denn »es ist Licht, das die Farben sichtbar macht.« Diese Fragen gebe ich euch mit; aber ich gebe euch auch einen Schlüssel dazu.

Die Linie der Propheten ist also vollendet; wir brauchen keine weiteren mehr. Die Linie der Heiligkeit, das Siegel der Heiligen, ist komplett. Das Siegel des Wissens ist ebenfalls abgeschlossen. Und auch das Siegel der Macht ist vollendet durch das Licht hinter der Sonne.

Groll, Neid und Stolz: Darum geht es bei der Kreuzigung. Groll und Neid sind die beiden großen Räuber. Die beiden Räuber waren nicht aus Zufall dort. Es stimmt, dass Jesus lange genug hier war, um die Welt zu erlösen. Aber die beiden Räuber werden immer vergessen. Erinnert ihr euch nicht, was in der Bibel über die beiden neben ihm Gekreuzigten steht? Ihr lebt in einem christlichen Land, also solltet ihr es wissen, denn es ist wichtig. Wenn es Gott gefallen hätte, eine einzelne große Brust in der Mitte der Frau zu machen, hätte Er eine einzelne große Brust in der Mitte der Frau geschaffen. Aber Er machte deren zwei. Er machte zwei, sogar beim Mann, nur sind sie dort eingedrückt. Bei den Damen sind sie nach außen gedrückt. Das habe ich euch schon oft gesagt, aber niemand scheint zu verstehen, was ich damit sagen will. Die Antwort könnt ihr in Ephesos sehen und im Verständnis der Idee des Hermaphroditen.

Vielleicht ist einigen von euch aufgefallen, dass Jesus, als er nach Golgatha hinaufstieg, um gekreuzigt zu werden, ein paar Mal hinfiel. Die Umstehenden wollten ihm helfen, doch er sagte: »Ich schaffe es irgendwie.« Und das tat er. Er fiel dreimal hin, glaube ich, doch er trug das Kreuz weiter. Das Kreuz ist natürlich das Symbol des Lebens. Die biblische Geschichte erwähnt aber nicht, ob die beiden Räuber bereits da waren oder erst später hinzukamen. Ich spreche nicht von ihren physischen Körpern, ich spreche von den drei Mauern, die uns voneinander trennen und über die ich so viel in meinen Büchern geschrieben habe. Die drei Mauern, die uns voneinander trennen, sind: Groll, Neid und Stolz. Jesus repräsentiert den Stolz – denn er sagte: »Oh mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Das ist Trennung. Wer wurde an die anderen beiden Kreuze neben ihm geschlagen? Und wurden sie dort vorher oder nachher gekreuzigt? Es waren der Groll und der Neid, symbolisiert in der Kreuzigung zweier Räuber. Wenn ihr zornig oder neidisch seid, spielt eure Energie verrückt; und wenn ihr stolz seid, seid ihr in Trennung.

Als Jesus also die Räuber segnete, sagte er zum einen: »Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.« Erinnert ihr euch an diese Bibelstelle? Möglicherweise wissen die Muslime mehr über das Christentum als viele andere. Jesus sagte also: »Ich werde euch im Paradies treffen.« Warum sagte er das? Weil in der Passion jenes Augenblicks Groll, Neid und Stolz erlöst wurden. Und durch das Kreuz traf er im Paradies die wirkliche Person, die nicht mehr verschleiert ist durch Reinkarnation, Groll, Neid, Stolz und andere Illusionen. Das ist das Geheimnis, das wirkliche Geheimnis der inneren Bedeutung Christi.

Manchmal bringt Gott Symbole hervor. Wenn ihr versteht, was ich euch sage, braucht ihr keine Gurus und Scheichs mehr. Schaut auf euren Groll, auf euren Neid und auf euren Stolz in eurem Herzen – denn im Englischen sagt man: Der Stolz sitzt im Herzen. Wenn ihr stolz seid, fühlt ihr euch besonders.

Auch wenn ich fast mein ganzes Leben lang unter körperlichen Schmerzen gelitten habe, bin heute nicht mehr zornig. Neid und Stolz habe ich ganz sicher nicht. Vierzig Jahre lang, seit ich fünfzehn war, hatte ich Schwierigkeiten, Christus zu akzeptieren. Hätte ich Christus und die Bedeutung Christi akzeptiert – ich meine zusätzlich zu meiner Verbundenheit mit der Sufi-Tradition –, hätte ich nicht vierzig Jahre dafür gebraucht. Ich hätte nicht vierzig Jahre heftigster Schmerzen bedurft, in denen mein Körper teilweise zerstört wurde. Ich bin aber kein »wiedererweckter Christ« oder wie immer ihr es nennen wollt. Nein!

Aber das kann ich euch sagen: Wenn ihr Christus nicht akzeptiert, werdet ihr nie annehmen können, worum es im Sufismus geht. Das ist unmöglich. Und wenn ihr Mohammed nicht akzeptiert, werdet ihr Christus nicht annehmen können. Also könnt ihr genauso gut auch gleich damit anfangen. »Dein Wille geschehe« – das ist die mystische Vermählung von Christentum und Islam. 

Redigierte Transkription eines Kurzvortrags von Reshad Feild, gehalten im August 1988 am zweiten Internationalen Sommerseminar der Lebenden Schule in Beatenberg, Schweiz.

© Reshad Feild 1988, 2016
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag

Videos zum Thema
von Reshad Feild