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Annemarie Schimmel

Jesus in der Theosophie Ibn Arabis

Sultan-Ahmed-Moschee oder Blaue Moschee in Istanbul.

Jesus im Gespräch mit einem Frommen und einem Sünder. Persisches Manuskript (1497)

ar Jesus für die frühislamischen Mystiker und Asketen ein Modell asketischen Lebens, so war er in den Werken der mystischen Dichter, die alte Legenden übernahmen und ausschmückten, das Vorbild für die Menschen in Güte und Reinheit, während er in der Dichtung im Allgemeinen zum Symbol des Geliebten wurde, der durch seinen erhofften Kuss dem vor Sehn­sucht halbtoten Liebenden neues Leben einhaucht, aber auch zum Geist, der mit dem vergänglichen materiellen Leib kontrastiert wird.

In den hochfliegenden theosophischen Spekulationen Muhyiddin Ibn Arabis aber nimmt er einen besonderen Platz ein.

Ibn Arabi, 1165 in Murcia geboren und nach langen Wanderungen 1240 in Damaskus gestorben, hinterließ, abgesehen von Hunderten kleinerer Werke, zwei Hauptschriften, die Futuhat al-Makkiyya (die »Mekkanischen Eröffnungen«), in denen er in 560 Kapiteln jene Offenbarungen mitteilt, die er in einem Moment der Erleuchtung beim Umwandeln der Kaaba in Mekka empfangen hatte, und die Fusus al-Hikam (die »Ringsteine der Weisheitsworte« oder Die Weisheit der Propheten), die, vom Propheten Mohammed selbst inspiriert, Auslegungen der speziellen Stellung jedes der Mohammed vorausgehenden siebenundzwanzig Propheten enthalten, deren Lehre dann mit Mohammed, dem abschließenden Gottesgesandten und »Siegel der Propheten« vollendet wurde.

In den hochfliegenden theosophischen Spekulationen Muhyiddin Ibn Arabis nimmt Jesus einen besonderen Platz ein.

Jesus spielt eine außerordentlich wichtige Rolle in diesem komplizierten System, wie sich aus den Ibn Arabi in jüngster Zeit gewidmeten Studien erschließen lässt. Seine Biografie von Claude Addas, La quête du soufre rouge, (»Die Suche nach dem roten Schwefel«; der wichtigsten Ingredienz in der Alchimie), kommt immer wieder auf Jesu Rolle für den großen mystischen Denker zurück, und es wäre zu wünschen, dass Claude Addas oder ihr Vater, Michel Chodkiewicz, einmal ein zusammenfassendes Werk über die Rolle Jesu und Marias verfassen würden, einem Thema, das in ihren Werken immer wieder anklingt.

Hier können nur einige wichtige Punkte hervorgehoben werden. Dabei ist das Kapitel über Jesus in den Fusus al-Hikam besonders lesenswert, obgleich es von zahlreichen theoretischen Bemerkungen durchdrungen ist. Im Folgenden sind die zentralen Sätze übersetzt:

Vom Wasser Marias oder Gabriels Hauch,
in Gestalt eines Menschen, geschaffen aus Ton,
so formte der Geist sich im Wesen, gereinigt
von aller Natur, die genannt wird sidschin (Gefängnis).
Deswegen währte sein Bleiben so lange
auf Erden, wohl tausend Jahre und mehr.
Ein Geist von Gott und von anderen nicht,
so belebte er Tote, schuf Vögel aus Ton,
bis dass er verbunden ganz mit seinem Herrn
und wirkte durch Ihn in der Tiefe, der Höhe.
Gott reinigte ihn im Leibe und klärt’ ihn
im Geist und macht’ ihn gleich Sich im Erschaffen.

Und Jesus zeigte sich und belebte die Toten, weil er Göttlicher Geist war, denn das Beleben gehört Gott und der Hauch Jesus, so wie einst der Hauch Gabriel gehört hatte und das Wort Gott.

So beginnt das Kapitel über Jesus, und der wichtigste Punkt, auf den Ibn Arabi immer wieder zurückkommt, ist die Tatsache, dass Jesus durch das in ihn gelegte Wort Gottes, den Geist Gottes, seine Wunder vollbrachte – wie ja auch im Koran immer wieder darauf hingewiesen wird, dass er Kranke heilte und Tote belebte »mit Erlaubnis Gottes«.

Als sich der getreue Geist, das ist Gabriel, Maria als »wohlgestalteter Mensch« darstellte [vergleiche Sure 19:17], bildete sie sich ein, er sei ein Mann, der mit ihr schlafen wollte. Da bat sie Gott um Schutz vor ihm, ganz und gar, damit Gott sie von ihm befreie, weil sie wusste, dass solches nicht erlaubt ist. So erfuhr sie völlige Gegenwart mit Gott, und das ist der »unsicht­bare Geist«. Hätte dieser in dem Augenblick in sie gehaucht, als sie in diesem Zustand war, dann wäre Jesus so erschienen, dass ihn keiner hätte ertragen können wegen seiner harten Natur, [die sich aus dem] Zustand seiner Mutter [erklärt]. Aber als er zu ihr sagte: »Ich bin nur ein Gesandter deines Herrn«, ich kam, »um dir einen reinen Knaben zu schenken« [Sure 19:19], da entspannte sie sich von diesem Zusammengepresstsein und ihre Brust weitete sich. In diesem Augenblick hauchte er ihr Jesus ein. Gabriel übertrug Gottes Wort an Maria, so wie der Prophet das Wort Gottes an seine Gemeinde überträgt. Das ist Seine Rede »und Sein Wort, Er legte es in Maria, und Geist von Sich« [4:171]. Da erwuchs Lust in Maria, und der Leib Jesu wurde aus dem wirklichen Wasser Marias und dem hypothetischen Wasser Gabriels geschaffen […] und er erschien in menschlicher Gestalt seiner Mutter wegen und weil Gabriel sich in menschlicher Gestalt manifestiert hatte, und diese Schöpfung in menschlicher Art geschah nach gewohnter Anordnung. […]

Und Jesus zeigte sich und belebte die Toten, weil er Göttlicher Geist war, denn das Beleben gehört Gott und der Hauch Jesus, so wie einst der Hauch Gabriel gehört hatte und das Wort Gott. Dass Jesus die Toten erweckte, war ein wirkliches Beleben, insofern es sich durch seinen Atem zeigte, so wie er aus der Form seiner Mutter erschien. Doch war das Beleben auch hypothetisch, da es ihm zuzukommen [schien], in Wirklichkeit aber nur von Gott kam. […]

Jesus ging in Demut so weit, dass seiner Gemeinde befohlen wurde: »Zahlet die Sondersteuer vollkommen, euch erniedrigend« [Sure 9:29], und jemand, dem man auf eine Wange schlägt, soll auch die andere Wange hinhalten und nicht zurückschlagen oder Vergeltung suchen. Das kommt zu ihm von Seiten seiner Mutter, denn die Frau ist niedrig, und sie ist demütig, weil sie dem Mann virtuell und gefühlsmäßig untersteht. […]

Aber die Kraft zur Belebung und Lossprechung (ibra), kommt daher, dass Gabriel in Gestalt eines Mannes in sie hauchte. Und Jesus belebte menschliche Tote. Wäre Gabriel nicht in menschlicher Gestalt gekommen, sondern in einer anderen Gestalt aus den Elementarwesen – Tieren, Pflanzen oder Mineralien –, dann hätte Jesus nur das auferwecken können, was sich in solcher Gestalt zeigte. Und wäre Gabriel in seiner lichtvollen Gestalt außerhalb von Elementen und Substanzen erschienen und nicht aus seiner [himmlischen] Natur herausgegangen, dann hätte Jesus die Toten nur in dieser lichtvollen natürlichen Form beleben können, aber nicht in der aus Elementen bestehenden Form in menschlicher Gestalt [, die er von] seiner Mutter [erhalten hatte]. Und manches Mal hatte man gesagt, wenn er die Toten belebte: »Er und nicht er«. [Das heißt, er tut es scheinbar, aber in Wirklichkeit tut Gott es, sodass der eigentlich Handelnde verborgen bleibt.]

Ibn Arabi empfand, dass Jesus sein erster geistiger Meister »unendlich liebevoll« zu ihm war und ihn »nicht einen Augenblick vernachlässigte«, und er fühlte deutlich, dass er unter dem Schutz von Jesus, Maria und Mohammed stand.

Das Kapitel führt die Rolle Jesu noch theoretisch weiter aus; doch für den gelehrten Autor war Jesus noch mehr, als man aus seinen Worten in den Fusus al-Hikam erkennt: Jesus war sein erster wirklicher geistiger Lehrer, und er schreibt: »Ich wandte mich um [das heißt, ich brach in Reue mit meinem bisherigen Leben] durch und in seiner Hand (‘ala yadihi)«, das heißt, Jesus war der eigentliche geistige Meister, dem er den Treueid in die Hand schwur, und so in den Weg des Glaubens initiiert wurde. Der junge Sucher erzählt dann:

Er betete für mich, dass ich in der Religion in dieser und der nächsten Welt beständig bliebe, und er nannte mich seinen geliebten Freund; und er befahl mir, Askese und Isolation zu üben.

Ibn Arabi empfand, dass dieser sein erster geistiger Meister »unendlich liebevoll« zu ihm war und ihn »nicht einen Augenblick vernachlässigte«, und er fühlte deutlich, dass er unter dem Schutz von Jesus, Maria und Mohammed stand.

Wundersame Dinge geschahen ihm nach seinem eigenen Zeugnis dank dem geistigen Einfluss Jesu; er erreichte sogleich den mystischen Standplatz von Qadib al-Ban, einem legendären Gottesfreund, der die verschiedensten Gestalten annehmen konnte.

In Mekka erfuhr Ibn Arabi auch, dass Jesus die vollkommenste Manifestation der »Mohammed-Heiligkeit« ist.

Aber nicht nur die direkte Verbindung mit Jesus prägte Ibn Arabi. Einer der einflussreichsten geistigen Führer, der in Ibn Arabis Entwicklung eine wichtige Rolle spielte, war der illiterate al-‘Uryabi – auch bei ihm erkannte der junge Sucher, dass er »zu Füßen Jesu« lebte. Und noch mehr! Bei der Pilgerfahrt nach Mek­ka wurde ihm klar, dass ar-rukn al-yamani, die südöstliche Ecke der Kaaba, geistig dem gehört, der »am Herzen Jesu« ist – und wer die zentrale Rolle der rukn al-yamani in der islamischen Tradition kennt, versteht, was diese Zuschreibung bedeutet. In Mekka erfuhr Ibn Arabi auch, dass Jesus die vollkommenste Manifestation der »Mohammed-Heiligkeit« ist – jeder Prophet nimmt ja an einem bestimmten Aspekt des abschließenden Propheten Mohammed teil –, und wenn Mohammed nach dem Koran das »Siegel des Prophetentums« ist, dann erscheint Jesus (und abgeleitet davon also auch sein enger Freund Ibn Arabi) als »Siegel der Gottesfreundschaft«.

Besonders aufschlussreich ist in dieser Verbindung eine Vision Ibn Arabis, der in der ‘alam al-mithal, der mundus imaginalis, den Propheten Mohammed erblickte. Rechts von ihm stand sein erster Nachfolger, Abu Bakr, links von ihm sein zweiter Nachfolger, der gestrenge ‘Omar; auch der dritte und der vierte Kalif, ‘Uthman ibn ‘Affan und ‘Ali ibn Abi Talib, waren anwesend. Aber das »Siegel« (der Heiligkeit), Jesus, saß mit gekreuzten Beinen vor ihm und sprach über die Geschichte der Frauen. Der Prophet, so sah es Ibn Arabi, erblickte ihn (Ibn Arabi) hinter dem »Siegel« (Jesus), »weil sein und mein Status so ähnlich sind«, und er sagte: »Dieser Mann ist dir gleich, und er ist dein Sohn und dein Freund.«

Solche nicht gerade bescheidenen Visionen scheinen typisch für Ibn Arabi mit seinen allumfassenden geistigen Ansprüchen, wenngleich sie einem nüchternen Leser – sei er Muslim oder Christ – doch nicht ganz akzeptabel erscheinen.

Gott wird durch Jesus die »größere Gottesfreundschaft« besiegeln: »Er ist Gottes Geist und Gottes Wort, und die Worte der wahren Wirklichkeit werden niemals erschöpft.«

Für Ibn Arabi ist Jesus ein »echter Mohammedaner«; deswegen wird er am Ende der Zeiten wiederkehren und, wie bereits bemerkt, die Menschen nach der Tradition Mohammeds richten. Gott wird durch ihn die »größere Gottesfreundschaft« besiegeln: »Er ist Gottes Geist und Gottes Wort, und die Worte der wahren Wirklichkeit werden niemals erschöpft.«

So erscheint Jesus in dem Gedankengebäude des großen mittelalterlichen Denkers in der Tat als das, was das Johannesevangelium aussagt: Er ist der Logos, ist wesenhaft Wort und Odem Gottes und damit der reine Geist.

Merkwürdigerweise traf Ibn Arabi bei seinem Himmelsaufstieg Jesus wie auch Johannes den Täufer im zweiten Himmel, nicht, wie in anderen Traditionen, im vierten (wo er Idris, ebenfalls lebendig in den Himmel aufgenommen, lokalisiert). Jesus erzählt dabei dem Besucher, dass seine Fähigkeit, Tote zu beleben, aus seiner geistigen Natur käme, die er von Gabriel erhalten hatte, als dieser seiner Mutter Maria erschien; diese Gedanken sind dann in dem schon zitierten Kapitel der Fusus al-Hikam theoretisch weiter ausgebaut.

© Kösel-Verlag, München / Random House