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Annemarie Schimmel

Halladsch: Märtyrer der Gottesliebe

»Anderes nicht spricht die Zunge als meine Liebe zu Dir«

Indische Miniatur, 17. Jahrhundert. Walters Art Museum

Mansur al-Halladsch

»Wenn Sie islamische Mystik wirklich verstehen wollen, dann studieren Sie die Werke al-Halladschs!«, wurde ich als junge Studentin von meinem Professor, Hans Heinrich Schaeder, belehrt, der lange zuvor über Halladsch geschrieben hatte:

Er zog aus den tiefsten in der islamischen Religion angelegten Tendenzen persönlicher Aneignung und Bewährung die letzte und reinste Konsequenz der vollkommenen liebenden Hingabe an die Einheit des Göttlichen Wesens – nicht, um so im Verborgenen und für sich allein die Heiligkeit zu gewinnen, sondern um sie zu predigen, in ihr zu leben und für sie zu sterben.

Seit jenen Tagen hat die Figur Halladschs nicht aufgehört, mich – wie so viele Mystiker und Dichter, Kritiker und Gelehrte in den tausend Jahren seit seinem Tode – zu fesseln. Der Märtyrer-Mystiker, 922 grausam hingerichtet, schien fast allgegenwärtig zu sein: Sein Ruf ana’l-Haqq, »Ich bin die schöpferische Wahrheit«, hallte wider aus Hunderten und Aberhunderten von ekstatischen Versen in der islamischen Welt, vor allem aber in der Türkei und der persischen Kultur, und in den Regionalsprachen des indischen Subkontinents. In verlorenen Winkeln des unteren Industales konnte man die Sänger an mondhellen Abenden singen hören:

Fragt die Liebenden nach dem,
was die Liebe verlangt!
Wenn ihr mir nicht glaubt, fragt solche,
die Mansur gleich sind!

In Kaschmir erklangen ähnliche Lieder, und in der hinreißenden Musik des Pandschab und des Dekkan wurde die Gestalt »Mansurs«, wie Halladsch meist mit seinem Vatersnamen bezeichnet wird, immer wieder beschworen. Er war zum Vorbild exzentrischer Mystiker geworden, welche die Grenzen zwischen Islam und Unglauben zu überschreiten und in Verzückung nur noch die eine Wahrheit zu künden suchten, und in ihren Werken erscheint Halladsch als Pantheist, dessen Ausspruch ana’l-Haqq nun nicht in seinem ursprünglichen Sinne als »Ich bin die schöpferische Wahrheit« verstanden, sondern als »Ich bin Gott« interpretiert wird: Haqq, einer der neunundneunzig schönsten Namen Gottes im Islam, wird schon früh zur Bezeichnung Gottes in jenen mystischen Kreisen, die sich auf Halladsch beriefen.

Der Name des Mystikers war auch weithin im Volke bekannt: Der Halladsch (Baumwollkämmer), der in Istanbul die verfilzte Baumwolle unserer Betten in rhythmischen Schlägen mit seinem Bogen und Schlägel reinigte und entwirrte, erzählte ausführlich vom Leiden und Sterben des großen Mansur, des Schutzheiligen der Baumwollschläger-Zunft. Und für die modernen Dichter des islamischen Orients ist der Mann, der willentlich und wissentlich Verfolgung und Leiden auf sich nahm, zum Modell des fortschrittlichen Frommen geworden, der jenseits der verfestigten Riten steht und versucht hat, die persönliche Religiosität zu beleben, aber auch gewisse Sozialreformen einzuführen.

Selbst wenn man diese letztere Interpretation nicht ganz wörtlich nehmen darf, ist eine solche moderne Interpretation von Halladschs Tätigeit ein Grund für die breite Wirkung, die sein Name unter zeitgenössischen Intellektuellen hat, und viele der progressiven Schriftsteller, die um ihrer nicht konformistischen Ideen willen im indischen Subkontinent gefangen gesetzt oder vor Gericht gestellt wurden, haben sich damit getröstet, dass »Galgen und Strick« der Schicksalsanteil des wahrhaft Liebenden (oder, wie man sagen könnte, des Kämpfers für eine bessere Zukunft) gewesen sind und bleiben werden. Hat er nicht Dinge ausgesprochen, die das Establishment nicht begriff, nicht begreifen wollte?

Das Geheimnis, das im Herz ist –
keine Predigt wird es sein!
Auf dem Galgen kannst du’s sagen.
Aber auf der Kanzel? Nein!

 

Über das Bekenntnis der Göttlichen Einheit

Einer seiner Schüler erzählte:

Ich trat bei Halladsch ein und sagte zu ihm: »Gib mir einen Hinweis auf das Einheitsbekenntnis!«

Er sprach: »Das Einheitsbekenntnis liegt außerhalb der Worte; daher kannst du es nicht aussprechen.«

Ich fragte: »Was bedeutet dann ›Es gibt keinen Gott außer Gott‹?«

Er sprach: »Ein Wort, mit dem Er das gewöhnliche Volk beschäftigt, damit sie nicht mit den wahren Einheitsbekennern vermischt werden.

Das ist die Erläuterung des Einheitsbekenntnisses von jenseits des Religionsgesetzes.«

Dann färbten sich seine Wangen rot, und er sprach: »Soll ich es dir kurz zusammenfassen?«

Ich sagte: »Ja.«

Er sprach: »Wer behauptet, er erkläre Gott als Einen, der hat Ihm bereits etwas zugesellt.« [1]

 

Gottesnähe und Gottesferne

Der Punkt ist der Ursprung jeder Linie, und die Linie insgesamt besteht aus gesammelten Punkten. So kann die Linie des Punktes nicht entbehren, noch der Punkt der Linie. Und jede Linie, gerade oder gebogen, geht eben von dem Punkte aus. Und worauf immer der Blick eines Menschen fällt, das ist ein Punkt zwischen zwei Punkten.

Und dies ist ein Hinweis darauf, dass die Göttliche Wahrheit durch alles erscheint, was mit Augen erblickt werden kann, und durch alles hindurchscheint, was mit Augen gesehen werden kann. Und daher sage ich: »Ich sehe nichts, in dem ich nicht Gott sehe.«

 

Glaube und Unglaube

Ein Schüler Halladschs erzählte:

Ich stritt mich mit einem Juden auf dem Markt von Bagdad, und es passierte mir, dass ich sagte: »Du Hund!« Husain ibn Mansur [al-Halladsch] ging an mir vorüber, sah mich ärgerlich an und sagte: »Lass deinen Hund nicht bellen!«, und ging rasch fort. Als der Streit zu Ende war, ging ich zu ihm und trat ein, aber er wandte sein Gesicht von mir ab. So bat ich ihn um Verzeihung. Da wurde er wieder ruhig und sagte dann:

»Lieber Sohn, alle Religionen sind Gottes des Erhabenen. Er hat mit jeder Religion eine Gruppe von Menschen beschäftigt – nicht, dass sie diese Religion erwählt hätten, sondern weil Er sie für sie erwählt hat. Und wer einen tadelt, weil das, was er glaubt, nicht richtig sei, so hat er geurteilt, dass jener seine Religion für sich selbst gewählt habe. Das aber ist die Art der Qadariten, und die sind die Zoroastrier dieser Religionsgemeinschaft.[2]

Wisse, dass Judentum und Christentum und andere Religionen nur verschiedene Beinamen und unterschiedliche Namen sind; aber das, was damit bezweckt wird, ändert sich nicht und ist nicht verschieden.

Ich dachte ernsthaft nach: Was sind Religionen?
Und fand: Ein Wurzelgrund mit mannigfachen Zweigen.
Verlang’ nicht, dass ein Mensch sich einen Glauben wähle,
Der ihn absperren wird von Bindungen, von festen.
Er suche jenen Grund, aus dem der Sinn erwächst,
Die hohen Ziele auch, dass er’s versteht am besten!«

 

Gottesliebe

Du nahmst Dir zur Wohnung mein Herz,
Geheimnisse sind drin von Dir,
Willkommen seist Du im Haus,
Gefalle die Nachbarschaft Dir!
Kein and’res Geheimnis als Du,
Das je ich gewusst, ist nun dort.
Mit eigenen Augen sieh zu:
Ist wohl noch ein Eindringling hier?
Die Nacht, da Du Dich von mir trennst,
Ob lang sie auch sei oder kurz –
Gedenken und Hoffnung ist dann
Mein trauter Gefährte allhier.
Ich bin ganz zufrieden damit,
Wenn Dir mein Verderben gefällt –
Oh der Du mich tötest! Was Du
Erwählest, erwähle ich mir.

– – –

Wie lang’ noch tadelst du mich, Tadler, dass ich Ihn liebe?
Wüsstest du, was ich gemeint, tadeltest du mich nicht mehr.
Pilgerfahrt ist für das Volk – ich pilgre hin zum Geliebten;
Schafe bringen sie dar – ich bring’ mein eigenes Blut.
Manche kreisen ums Haus, ganz ohne äußere Glieder,
Denn sie kreisen um Gott, brauchen die Kaaba nicht mehr.[3]

– – –

Gepriesen sei, Dess’ Menschheit klar erzeigte
Das strahlende Geheimnis Seiner Gottheit,
Der Sich dann Seiner Schöpfung offenbarte
In der Gestalt dess’, »welcher isst und trinkt«,[4]
Bis Seine Schöpfung Ihn mit Augen schaute,
Gleich einem Blick, da Braue rührt an Braue.

 

Gefangenschaft und Tod

Als Husain ibn Mansur [Al-Halladsch] gehängt wurde, sprach [sein Weggefährte] Schibli in jener Nacht zu Gott: »Wie lange noch willst Du die Liebenden töten?

Und Er sprach: »Bis sie Mein Blutgeld finden.«

Und Schibli sagte: »Oh Herr, was ist Dein Blutgeld?«

Er sprach: »Die Begegnung mit Mir und Meiner Schönheit ist das Blutgeld der Liebenden.«

 

Über das Verstehen und die Schau

Das Verständnis der geschaffenen Wesen hat keine Beziehung zur Wirklichkeit,
Und die Wirklichkeit hat keine Beziehung zum Geschaffenen.
Die Gedanken sind Bande,
Und die Bindungen der erschaffenen Wesen erreichen nicht die Wirklichkeiten.
Das Erfassen des Wissens von der Wirklichkeit ist schwer –
Das der Wirklichkeit der Wirklichkeit – wie viel mehr!
Die Wahrheit liegt hinter der Wirklichkeit
Und die Wirklichkeit diesseits der Wahrheit.

Der Falter fliegt um das Kerzenlicht,
Bis der Morgen anbricht,
Und kehrt zu seinesgleichen zurück,
Berichtet ihnen von des Zustandes Glück
Mit lieblichstem Wort;
Dann vereint er sich mit der koketten Schönheit,
Begierig, zur Vollkommenheit zu gelangen.

Das Licht der Kerze ist das Wissen von der Wirklichkeit.
Ihre Wärme ist die Wirklichkeit der Wirklichkeit.
Das Gelangen zu ihr die Wahrheit der Wirklichkeit.

Er begnügt sich nicht mit ihrem Licht,
Mit ihrer Wärme nicht,
Und wirft sich ganz hinein,
Und seinesgleichen erwarten seine Rückkehr,
Damit er ihnen von der Schau berichte,
Da er nicht mit der Kunde sich begnügt.
Und da entschwindet er, vermindert sich, verflüchtigt sich
Und bleibt ohne Spur oder Leib, ohne Namen und Zeichen.
Weshalb sollte er zu den Formen zurückkehren
Und in welchem Zustand, nachdem er gewonnen hat?
Wer zu Schau gelangt, bedarf nicht mehr der Kunde;
Wer zum Geschauten gelangt, bedarf nicht mehr der Schau.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, 1985

Anmerkungen

[1] Da nur Gott alleine das Recht hat, »Ich« zu sagen, wie Halladschs älterer Zeitgenosse Kharraz es ausdrückte, kann der Mensch auch das Glaubensbekenntnis »Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt«, im Grunde nicht selbst aussprechen; denn solange er es äußert, bestätigt er damit ja seine eigene Existenz, die so zum »Nebengott« wird.

[2] Das heißt: Sie sind Dualisten. Die Qadariten (von qadar, »Geschick«) glaubten im Gegensatz zu den Dschabriten (von dschabr, »Zwang«), dass der Mensch für seine Werke Eigenverantwortung trage und nicht, dass jede, auch die kleinste Handlung, vorausbestimmt sei. Da sie dem Menschen Eigenverantwortlichkeit zuschrieben, konnten sie von den Extremisten mit den dualistischen Zoroastriern verglichen werden, die ja gleich starke Prinzipien, das Gute und das Böse, annahmen: Ähnlich sehen die Qadariten den Menschen sozusagen als ›eigenständig‹ neben Gott an.

[3] Halladsch will nicht, wie andere Menschen, am Opferfest ein Schaf schlachten, sondern sich selbst hingeben; die Pilgerfahrt nach Mekka wird spiritualisiert.

[4] Dieses Gedicht hat verständlicherweise besonderen Anstoß erregt, da Halladsch hier die christlichen Ausdrücke nasut, »menschliche Natur«, und lahut, »Göttliche Natur«, verwendet und mit den Worten »der isst und trinkt« auf das koranische Jesusbild anspielt (vgl. Sure 5:79).