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Bülent Rauf

Über das Einssein

Ansprache am World Symposium on Humanity, London 1979

Das Monument of Man, die letzte Ruhestätte von Bülent Rauf, im schottischen Chisholme House. Foto: Christopher Ryan

Ein Ausschnitt aus dem Buch Unterwegs in der Einheit des Sein

ür uns von Beshara [/] ist es in der Tat eine besondere Freude, über das Einssein zu sprechen. Es ist unsere tägliche Nahrung, weil unser beständiges und einziges Ziel darin liegt, jenen Punkt in der Einheit des Daseins zu erreichen, den wir »Einssein« nennen. Folglich grüßen wir mit Freude alle diejenigen, die sich diesem Einssein ernsthaft widmen und ihm in dieser Welt Geltung verschaffen oder es fördern wollen. Der einzige Grund und der ausschließliche Zweck der Menschheit auf der Erde ist nämlich dieses Einssein.

Wir glauben fest daran, dass es nur ein unteilbares und einzigartiges Daseiendes gibt, und, um es einfach auszudrücken, dass die ganze Vielfalt, die wir scheinbar sehen, nichts anderes ist als das relative Abbild des einen absoluten und vollständigen Seins. Dies ist es, was wir »die Einheit der Daseins« nennen.

Seit Jahrhunderten hat die Menschheit von einem Ende der Welt bis zum anderen um diese Wahrheit gewusst, über sie gesprochen und auf ihr beharrt. All jene, die uns in der bekannten Menschheitsgeschichte als Weise, Propheten und dergleichen begegnen, haben immer wieder dieselbe universale Wirklichkeit in unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt. Alle Religionen, von den allerältesten bis zu den neuesten, haben ihre inneren Grundlagen auf derselben fundamentalen Wahrheit errichtet: auf dem Dasein dieses einzigartigen Seins, Welches die absolute Selbstheit (Ipseität) Dessen ist, Was wir »Tao«, »Gott«, »Elohim«, »Allah« und so weiter nennen.

In jedem Menschen gibt es einen geheimen Ort in dieser Selbstheit. Wer seine eigene Wirklichkeit kennt, kennt seinen Ort in der Selbstheit. Durch Dienen, Wissen und Liebe streben wir nach Vervollkommnung des Menschen. Der vervollkommnete Mensch ist eins mit der Selbstheit. Philon von Alexandria, der ungefähr zur selben Zeit wie Jesus Christus lebte, schrieb: »Der vollkommene Mensch ist theos (Gott), obschon er nicht o theos (der Gott) ist.« Der Mensch ist nicht anders als seine Wirklichkeit, obwohl er nicht die Wirklichkeit ist.

Istanbul im August 1972: Bülent Rauf u.a. mit John G. Bennett, Reshad Feild (linke untere Ecke) und Reverend Peter Dewey (rechter Bildrand). Bildquelle: J.G. Bennett Foundation [/]

Das Streben nach einem Bewusstsein dieses Ausmaßes ist jedem Menschen möglich. Wenn er es bewusst erreicht, ist er eins mit seiner Essenz, welche die Selbstheit ist.

Um sich dieser Möglichkeit bewusst zu werden, muss der Mensch sich nur umschauen. Unter allen Geschöpfen dieser Erde vermag allein er diese Vorstellungen zu fassen, sich zu eigen zu machen und sie seine »Tatsachen« zu nennen.

Auf Basis dieser Tatsachen – etwa von Einsteins E=mc² oder der Expansion des Universums mit all seinen Quasaren, Pulsaren, schwarzen Löchern, Sternennebeln, Galaxien und so fort – kann der Mensch weitere, ebenso überwältigende Tatsachen erkennen, um darauf wieder andere Welten aufzubauen. Wie Sufis es manchmal gesagt haben, macht dieses Potenzial den Menschen sicherlich zum Makrokosmos, und das, was er mit seinem Verstand zu fassen vermag, nämlich das Universum, ist der Mikrokosmos.

Zweifellos ist es wahr, dass Gott den Menschen nach Seinem eigenen Bild erschaffen hat. Mit solch einem Potenzial, diesem Vermögen, in seinem Verstand Universen zu beschreiben und zu fassen, mit seiner Fähigkeit, das Einssein zu erlangen mit dem absoluten und daher einzigartigen Sein, wovon er selbst nicht verschieden ist, ist der Mensch ganz gewiss von überragender Wichtigkeit. Nichts anderes kann zu der Entwicklungsstufe und Höhe gelangen, die der Mensch zu erreichen vermag. Wenn der Mensch sich dieser Realität seiner Wichtigkeit ständig bewusst ist, ist er ein vollkommener Mensch. Und für diesen vollkommenen Men­schen wurde das Universum, zu dem seine Erde gehört, überhaupt erst erschaffen, sodass er es kennen, ihm dienen und es lieben kann.

Liebe ist die Bewegung von Schönheit. Schönheit ist das letztendliche Ziel der Liebe. Wo keine Schönheit ist, ist Elend. Als der tibetische Lama Akong [Rinpoche /] vor drei oder vier Jahren an unserer Schule Vorträge hielt, fragte ihn einer meiner Mitstudenten, weshalb es auf der Welt so viel Elend gebe. Akongs Antwort war ebenso großartig wie seine Weisheit. Er erwiderte: »Warum gibt es das Ich«, die erste Person Singular? Der Mensch, dessen Zentrum in seiner ersten Person Singular liegt, kann weder wissen noch dienen, noch kann er lieben. Um ins Einssein zu gelangen, muss der Mensch lieben. Wenn nicht, dann nicht. Wenn der Glaube eines Menschen die Liebe ist, wird er das Einssein ersehnen, danach streben, daran arbeiten und es erlangen.

Ich zitiere Muhyiddin Ibn Arabi, einen andalusischen Mystiker aus dem zwölften Jahrhundert:

Welche Herrlichkeit! Ein Garten inmitten von Flammen!
Mein Herz hat sich für jegliche Form geöffnet:
Es ist eine Weide für Gazellen,
und ein Kloster für christliche Mönche,und ein Tempel für Götzenbilder, und die Kaaba der Pilgernden,
und die Tafeln der Thora, und das Buch des Korans.
Ich folge der Religion der Liebe:
Welchen Weg auch immer die Reittiere der Liebe einschlagen,
das ist meine Religion und mein Glaube.

© Meral Arim
Deutsche Übersetzung ©  Chalice Verlag