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Georges Iwanowitsch Gurdjieff

Ein genaues Studium verlangt eine genaue Sprache

Mathematikerin vor einer Wandtafel

Quelle: Adobe Stock

Wissen wir wirklich, wovon wir reden, wenn wir über Dinge sprechen, über die wir – unserer Meinung nach – Bescheid wissen? Zum Beispiel über die Probleme der »Welt« oder das Wesen des »Menschen«? Die einen sagen so, die anderen so… Ausschnitte aus einem Gespräch des weisen Lebenslehrers Georges Iwanowitsch Gurdjieff mit einer Gruppe seiner Schülerinnen und Schüler vom Februar 1924 in New York

Ein Auszug aus dem neu aufgelegten Buch Aus der wirklichen Welt von Georges Iwanowitsch Gurdjieff

Gurdjieff: Aus der wirklichen Welt

in genaues Studium bedarf einer genauen Sprache. Unsere gewöhnliche Sprache freilich, in der wir unser Wissen und Verständnis mitteilen und Bücher schreiben, ist nicht dazu geeignet, irgendetwas genau auszudrücken. Eine ungenaue Redeweise kann einem genauen Wissen nicht förderlich sein. Die Wörter unserer Sprache sind zu verschwommen und unpräzise und die Bedeutungen, die man ihnen gibt, zu veränderlich und willkürlich.

Sobald jemand ein Wort ausspricht, gibt er ihm jeweils die eine oder andere besondere Bedeutung, er erweitert oder betont diesen oder jenen Aspekt des Wortes, häufig engt er dessen ganze Bedeu­tung auf ein einziges Gegenstandsmerkmal ein, das heißt, er bezeichnet mit dem Wort nicht alle Eigenschaften, sondern irgendein äußeres Kennzeichen, das auf den ersten Blick in die Augen springt. Sein Gesprächspartner legt demselben Wort eine andere Nu­ance bei, fasst es in einem anderen, zuweilen ganz entgegen­gesetzten Sinn auf. Schließt sich nun ein dritter Mensch dem Ge­spräch an, so gibt auch er dem Wort eine eigene Auslegung. Und wenn zehn Leute miteinander sprechen, dann gibt ihm abermals jeder eine persönliche Bedeutung, sodass dasselbe Wort zehn verschiedene Bedeutungen hat.

Und die Menschen, die auf diese Weise reden, sind der Mei­nung, sie wären in der Lage, einander zu verstehen, und könnten Gedanken austauschen!

Ein Auszug aus dem neu aufgelegten Buch Aus der wirklichen Welt von Georges Iwanowitsch Gurdjieff

Cynthia Bourgeault: Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage?

Man kann ohne Bedenken sagen: Die Sprache unserer Zeit­genossen ist so unvollkommen, dass diese, ganz gleich bei welchem Thema, aber vor allem auf wissenschaftlichem Gebiet, nie sicher sein können, dass sie die gleichen Vorstellungen mit denselben Wör­tern bezeichnen.

Im Gegenteil, man kann sich fast darauf verlassen, dass sie jedes Wort anders verstehen und, während sie scheinbar von demselben Thema sprechen, in Wirklichkeit von ganz anderen Dingen reden.

Außerdem wandelt sich bei jedem Menschen die Bedeutung, die er den eigenen Worten gibt, je nach seinen Gedanken und Stim­mungen, den Bildern, die er damit verbindet, und entsprechend den Einwendungen und der Einstellung seines Gesprächs­partners, denn durch eine unwillkürliche Nachahmung oder Ge­gen­­rede kann er unversehens die Bedeutung der Wörter, die er gebraucht, ver­ändern. Schließlich vermag kein Mensch genau zu bestim­men, was er mit dem oder jenem Wort meint, ob die Bedeu­tung dieses Wortes gleichbleibt oder veränderbar ist und aus welchem Grund.

 

Gustave Doré (1865): Die Sprachverwirrung / Turmbau zu Babel

Gustave Doré [/]: »Die Sprachverwirrung«, Bibelillustration von 1865. Quelle: Wikimedia Commons

Jeder leistet seinen Beitrag zur allgemeinen Verwirrung

Sprechen mehrere Menschen miteinander, so spricht jeder auf seine Art, und keiner versteht die anderen.

Ein Professor hält eine Vorlesung, ein Gelehrter schreibt ein Buch, und die Zuhörer und Leser folgen nicht den Autoren, sondern vielmehr den Verbindungen, welche deren Worte mit ihren eigenen augenblicklichen Gedanken, Begriffen, Launen und Ge­füh­len eingehen.

Die Menschen von heute sind sich bis zu einem gewissen Grad der Unbeständigkeit ihrer Sprache bewusst. Jeder Zweig der Wis­senschaft entwickelt eine eigene Terminologie, eine eigene Nomen­klatur, eine eigene Sprache. Auf dem Gebiet der Philo­sophie versucht man, ehe man ein Wort verwendet, genau anzugeben, in welchem Sinn es gebraucht wird; aber trotz aller Bemü­hun­gen, den Wörtern eine dauerhafte Bedeutung zu verleihen, hat bisher niemand irgendetwas erreicht. Jeder Autor glaubt sich verpflichtet, eine eigene Terminologie zu entwickeln, er verändert die seiner Vorgänger und widerspricht sodann derjenigen, die er selbst festgelegt hat. Kurz gesagt, jeder leistet seinen Beitrag zur allgemeinen Verwirrung.

Diese Lehre [das heißt: die Lehre des Vierten Weges nach Gurdjieff] gibt uns den Grund dafür an. Die Wörter, die wir verwenden, haben keine dauerhafte Bedeutung und können sie nicht haben.

Wir haben keinerlei Möglichkeit, den Sinn und die besondere Nuance, die wir jedem Wort geben, die Beziehung, in der wir es verwenden, deutlich zu machen, und wir versuchen es übrigens auch gar nicht; ganz im Gegenteil, wir möchten einem Wort stets unsere persönliche Auslegung zuweisen und es ständig in jenem Sinn gebrauchen, was allerdings unmöglich ist, da ja ein und dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten und in wechselnden Zusam­men­hängen verschiedene Bedeutungen hat. […]

Wenn wir ein sehr geläufiges Wort wählen und die vielfältigen Bedeutungen zu erkennen versuchen, die es annimmt, je nachdem wer es verwendet und worauf es sich bezieht, so sehen wir, warum alles, was die Menschen sagen und denken, derart unbeständig und widersprüchlich ist. Abgesehen von den verschiedenen Bedeutun­gen, die jedes Wort haben kann, entspringen die Verwirrung und Widersprüchlichkeit vornehmlich der Tatsache, dass die Men­schen sich selbst niemals klarmachen, in welcher genauen Be­deutung sie dieses oder jenes Wort verwenden; es wundert sie nur, dass die anderen nicht verstehen, was ihnen selbst doch so einleuchtet.

 

»Ah, die Welt… Ich weiß, was das ist«

Wenn wir das Wort »Welt« zum Beispiel vor zehn Zuhörern aussprechen, so versteht ein jeder das Wort auf seine Art. Wären die Menschen in der Lage, die eigenen Gedanken wahrzunehmen und niederzuschreiben, sie würden feststellen, dass dieses Wort keine bestimmte Vorstellung in ihnen hervorruft, sondern dass ihnen einfach ein wohlbekanntes Wort in den Ohren geklungen hat – ein vertrauter Laut, dessen Sinn angeblich jedem bekannt ist. Es ist, als wenn sich jedermann beim Hören dieses Wortes sagte: »Ah, die Welt… Ich weiß, was das ist.« Natürlich weiß er in Wirklichkeit überhaupt nichts davon. Doch das Wort ist ihm vertraut, und so kommen ihm diesbezüglich weder Frage noch Antwort in den Sinn: Sie gelten als vorausgesetzt. Eine Frage entsteht nur in Bezug auf ein neues und unbekanntes Wort, und dann bemüht sich der Mensch sogleich, das unbekannte Wort durch ein bekanntes zu ersetzen, und genau das nennt er »verstehen«.

Der Mensch besitzt kein hinreichendes Beobachtungsvermögen und ist hierbei gegen sich selbst nicht aufrichtig genug.

Fragen wir nun jenen Menschen, was er unter »Welt« verstehe, so wird ihn diese Frage in große Verlegenheit bringen. Wenn er das Wort »Welt« gewöhnlich im Gespräch gebraucht oder hört, fragt er sich nicht, was es bedeute, da er ein für alle Mal entschieden hat, er wisse es und jeder Mensch wisse es. Jetzt sieht er zum ersten Mal, dass er es nicht weiß und niemals darüber nachgedacht hat; doch bei dem Gedanken an seine Unwissenheit vermag und versteht er nicht auszuharren.

Der Mensch besitzt kein hinreichendes Beobachtungsvermögen und ist hierbei gegen sich selbst nicht aufrichtig genug. So wird er sich schnell wieder fangen, das heißt sich selbst betrügen; und indem er in aller Eile aus vertrautem Gedan­ken- oder Erkenntnismaterial sich eine Bestimmung des Wortes »Welt« ins Gedächtnis ruft beziehungsweise neu bildet oder aber die erste beste Bestimmung, die ihm in den Sinn kommt, von jemand anders übernimmt, gibt er sie als sein eigenes Verständnis aus, selbst wenn er nie in der Weise über das Wort »Welt« nachgedacht und keine Ahnung hat, was er tatsächlich dazu dachte.

Ein Mensch, der sich für Astronomie interessiert, wird sagen, die »Welt« bestehe aus ungeheuer vielen Sonnen, die, umgeben von Planeten, unermesslich weit voneinander entfernt sind und die sogenannte Milchstraße bilden, jenseits deren, in noch größeren Entfernungen und jeder Erforschung sich entziehend, wahrscheinlich weitere Sterne und weitere Welten liegen.

Wer sich für Physik interessiert, wird von der Welt der Schwin­gun­gen und elektrischen Entladungen sprechen, von der Energie­theorie oder von der Analogie zwischen der Welt der Atome und Elektronen und der Welt der Sonnen und Planeten.

Ein zur Philosophie neigender Mensch wird anfangen, von der Unwirklichkeit und Scheinhaftigkeit der gesamten sichtbaren Welt zu sprechen, die durch unsere Sinne und Gefühle in Raum und Zeit entstehe. Er wird sagen: Die Welt der Atome und Elektronen, die Erde mit ihren Bergen und Meeren, ihrem Tier- und Pflanzen­leben, die Menschen und Städte, die Sonne, die Sterne und die Milchstraße, sie alle gehören zur Welt der Phänomene, einer trügerischen, künstlichen, durch unsere eigenen Vorstellungen hervorgerufenen Scheinwelt. Jenseits dieser Welt, jenseits der Grenzen unserer Erkenntnis bestehe eine uns unverständliche Welt der Noumena, von der die phänomenale Welt nur Schatten und Abglanz sei.

Wer sich mit der modernen Theorie der Mehrdimensionalität des Raumes vertraut gemacht hat, wird sagen, dass die Welt gewöhnlich als eine unendliche dreidimensionale Kugel gelte, dass in Wirklichkeit allerdings eine dreidimensionale Welt als solche nicht existieren könne, sondern nur den imaginären Schnitt durch eine andere – vierdimensionale – Welt darstelle, von der alle Vorkomm­nisse, deren Zeuge wir sind, ausgegangen seien und wohin sie zurückkehrten.

Ein Mensch, dessen Weltanschauung in einem religiösen Dog­ma gründet, wird sagen, die Welt sei die Schöpfung Gottes und hänge von Dessen Willen ab; und jenseits der sichtbaren Welt, wo unser Leben nur kurz sei und durch alle möglichen Umstände und Zufälle bedingt, gebe es eine unsichtbare Welt, wo das Leben ewig währe und wo der Mensch Belohnung oder Bestrafung für alles empfange, was er in diesem Leben getan habe.

Alle diese Bestimmungen des Wortes »Welt« haben ihre Vorzüge und Nachteile; ihr Hauptfehler besteht darin, dass jede das ausschließt, was ihr widerspricht.

Ein Theosoph wird sagen, dass die Astralwelt die sichtbare Welt nicht als Ganzes umfasse, sondern dass es sieben Welten gebe, die sich wechselseitig durchdrängen und aus immer feinerem Stoff beständen.

Ein Bauer in Russland oder in irgendeinem orientalischen Land wird sagen: Die Welt sei die Dorfgemeinschaft, zu der er gehört. Es ist die Welt, die ihm am nächsten steht. Bei öffentlichen Versamm­lungen redet er seine Mitbürger sogar als »die Welt« an.

Alle diese Bestimmungen des Wortes »Welt« haben ihre Vor­züge und Nachteile; ihr Hauptfehler besteht darin, dass jede das ausschließt, was ihr widerspricht, während sie nur einen einzigen Aspekt der Welt beschreibt und diese nur von einem einzigen Blick­winkel aus betrachtet. Eine einwandfreie Bestimmung wäre diejenige, die alle diese einzelnen Verständnisweisen in sich vereinigt, da­bei die Stelle einer jeden bezeichnet und die einem zugleich erlaubt, in jedem Fall genau anzugeben, über welchen Aspekt der Welt man spricht, von welchem Blickpunkt aus und in welcher Hinsicht.

Diese Lehre erklärt: Wenn die Frage »Was ist die Welt?« in der richtigen Weise erörtert würde, so könnten wir sehr genau fest­legen, was wir unter diesem Wort verstehen. Und diese aus einem richtigen Verständnis hervorgehende Bestimmung würde alle Weltansichten und alle Zugangsweisen zu der Frage einschließen. Wären die Menschen sich erst einmal über diese Bestimmung einig, dann könnten sie im Gespräch über die Welt einander verstehen. Nur von diesem Ausgangspunkt aus ist man in der Lage, über die Welt zu sprechen. […]

Von der Logik her ist das einsehbar und scheint unumgänglich, aber leider kommt es nie dazu, aus dem einfachen Grund, weil die Menschen die verschiedenen Bestandteile und Beziehungen eines Begriffes zumeist nicht kennen und nicht herauszufinden vermögen.

Die Relativität jeden Begriffes deutlich zu machen, nicht nur im Sinne der allgemeinen abstrakten Idee, dass alles in der Welt relativ sei, sondern durch genaue Angabe, worin und wie er mit dem Übrigen in Relation, in Beziehung, stehe – dies ist eine wichtige Funktion der Prinzipien dieser Lehre. […]

 

Francis Picabia: Hera

Francis Picabia [/]: »Hera«, Öl auf Karton, von 1929. Quelle: Wikimedia Commons

Auch beim Gebrauch des Wortes »Mensch« glaubt jedermann zu verstehen, was es bedeutet

Nehmen wir jetzt den Begriff »Mensch«, so entdecken wir hierbei das gleiche Missverständnis, wir sehen, dass dieselben Wider­sprü­che darin verfrachtet sind. Beim Gebrauch des Wortes »Mensch« glaubt jedermann zu verstehen, was es bedeutet, aber in Wirklich­keit versteht es jeder auf seine Art – und jeder auf andere Weise.

Der gelehrte Naturforscher sieht im Menschen eine vervollkommnete Affenart und bestimmt ihn durch den Bau der Zähne und so weiter. Der religiöse Mensch, der an Gott glaubt und an das Leben im Jenseits, sieht im Menschen eine unsterbliche Seele, gefangen in einer vergänglichen irdischen Hülle, die, von Versuchungen heimgesucht, den Menschen in Gefahr bringt. Der Volkswirtschaftler betrachtet den Menschen als Erzeuger und Verbraucher. Alle diese Standpunkte scheinen einander entgegengesetzt zu sein, sich zu widersprechen, nichts miteinander zu tun zu haben.

Das Problem wird noch komplizierter durch die Tatsache, dass wir unter den Menschen vielerlei Unterschiede feststellen, die so groß und hervorstechend sind, dass es einen oft seltsam anmutet, den allgemeinen Ausdruck »Mensch« zur Bezeichnung von Wesen so verschiedenen Schlages verwendet zu sehen.

Und falls wir uns zuletzt selbst fragen, was ein Mensch sei, so sehen wir, dass wir die Frage nicht beantworten können. Wir wissen nicht, was der Mensch ist. Weder anatomisch noch physiologisch noch psychologisch noch wirtschaftlich kann irgendeine Bestimmung als hinreichend gelten, da sie sich ja gleichermaßen auf alle Menschen bezieht, ohne die Unterschiede zu berücksichtigen, die wir gleichwohl unter ihnen beobachten.

Diese Lehre weist uns darauf hin, dass unser Informations­material über den Menschen zur Bestimmung dessen, was er ist, durchaus genügt. Nur verstehen wir es nicht, in einfacher Weise an das Thema heranzugehen.

Der Mensch ist ein Wesen, das »tun« kann, sagt diese Lehre. Tun bedeutet: bewusst und aus eigenem Willen handeln. Und wir müssen eingestehen, dass wir keine vollständigere Bestimmung des Menschen zu finden vermögen.

Die Tiere unterscheiden sich von den Pflanzen durch die Fä­hig­keit zur Fortbewegung. Und wenn auch die an einem Felsen haftende Molluske oder einige Algen, die gegen den Strom schwimmen können, dieses Gesetz zu brechen scheinen, bleibt es dennoch völlig richtig: Eine Pflanze kann weder jagen, um sich zu ernähren, noch einem Stoß ausweichen, noch sich vor ihren Verfol­gern verbergen.

Ohne Übertreibung können wir sagen: Alle Unterschiede, die uns an den Menschen auffallen, lassen sich auf die Unterschiede im Bewusstseinsniveau ihrer Handlungen zurückführen.

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine Fähigkeit zu bewusster Handlung, durch seine Fähigkeit zum Tun. Dies können wir nicht leugnen und wir sehen, dass diese Bestimmung allen Anforderungen genügt. Sie erlaubt uns, die Menschen gegen eine Reihe anderer Wesen, die dieses Vermögen zu bewusstem Handeln nicht besitzen, abzuheben und sie zugleich nach dem Bewusstseinsgrad ihrer Handlungen einzustufen.

Ohne Übertreibung können wir sagen: Alle Unterschiede, die uns an den Menschen auffallen, lassen sich auf die Unterschiede im Bewusstseinsniveau ihrer Handlungen zurückführen. Und wenn uns die Menschen als derart verschieden erscheinen, so deshalb, weil die Handlungen einiger von ihnen, unserer Ansicht nach, zutiefst bewusst sind, während es uns bei anderen Menschen so vorkommt, als überträfen ihre Handlungen an Unbewusstheit sogar die Steine, die zumindest auf äußere Erscheinungen richtig reagieren.

Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, fügt es sich, dass ein und derselbe Mensch neben anscheinend völlig bewussten Willensakten häufig andere, ganz und gar tierische, mechanische und unbewusste Reaktionen zeigt. Daher erscheint uns der Mensch als ein ungewöhnlich kompliziertes Wesen. Unsere Lehre bestreitet diese Kompliziertheit und schlägt uns eine für den Menschen sehr schwierige Aufgabe vor.

 

Es gibt nichts, was die Menschen zu »tun« in der Lage wären, bei ihnen »tut sich« alles

Der Mensch ist der, der »tun« kann, doch unter den gewöhn­lichen Menschen wie auch unter denen, die als außergewöhnlich gelten, gibt es nicht einen einzigen, der »tun« kann. Bei ihnen »tut sich« alles von Anfang bis Ende; es gibt nichts, was sie zu »tun« in der Lage wären.

Im persönlichen, im familiären und gesellschaftlichen Leben, auf dem Gebiet der Politik, Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion »tut sich« alles von Anfang bis Ende; niemand kann etwas »tun«. Wenn zwei Personen, die ein Gespräch über den Menschen beginnen, sich einig sind über die Bestimmung des Menschen als ein zum »Tun« fähiges Wesen, so werden sie sich immer verstehen. Vorausgesetzt natürlich, dass sie die Bedeutung des Wortes »tun« hinreichend geklärt haben.

Zum »Tun« bedarf es einer sehr hohen Seins- und Wissensstufe. Der Durchschnittsmensch versteht nicht einmal, was dieses Wort bedeutet, weil für ihn und um ihn herum alles »sich allemal tut« und »sich allemal getan hat«. Und trotzdem kann der Mensch »tun«.

Ein schlafender Mensch kann nicht »tun«. Bei ihm tut sich alles im Schlaf. Schlaf ist hier nicht im wörtlichen Sinn als organischer Schlaf zu verstehen, sondern als ein Zustand assoziativen Exis­tierens. Der Mensch muss zuerst aufwachen. Erwacht, sieht er ein, dass er so, wie er ist, nicht zu »tun« vermag. Er muss willentlich sterben. Stirbt er, so kann er wiedergeboren werden. Das Wesen jedoch, das nun geboren ist, muss heranwachsen und lernen. Wenn es herangewachsen ist und sich auskennt, dann kann es »tun«.

Wenn wir das soeben Gesagte analysieren, nämlich dass der Mensch nichts »tun« kann und dass alles »sich in ihm tut«, so stellen wir fest, dass dies mit dem übereinstimmt, was die empirische Wissenschaft sagt. Für diese ist der Mensch ein sehr komplizierter Organismus, der sich auf dem Wege der Evolution aus dem einfachsten Organismus entwickelte und der in der Lage ist, in sehr komplexer Weise auf äußere Eindrücke zu reagieren. Diese Re­ak­tionsfähigkeit ist beim Menschen so kompliziert, und die Gegen­bewegungen können von den Ursachen, die sie hervorriefen und bedingten, so weit entfernt sein, dass seine Handlungen oder zumindest ein Teil davon einem naiven Beobachter völlig willentlich und selbstständig vorkommen.

So erkennt die Lehre, von der ich spreche, an, dass im Men­schen große Möglichkeiten ruhen, weit größere als die, welche die positivistische Wissenschaft zugibt, aber sie spricht dem Men­schen, wie er heute ist, allen Wert als unabhängiges und willensstarkes Wesen ab.

Tatsächlich ist der Mensch nicht einmal zur kleinsten unabhängigen oder spontanen Handlung fähig. Alles in ihm ist nur das Ergebnis äußerer Einflüsse und nichts anderes. Der Mensch ist ein Prozess, ein Umspannwerk von Kräften. Stellen wir uns einmal einen Menschen vor, der von Geburt an allen Eindrücken ent­zogen sei und den irgendein Wunder am Leben erhalten habe; er ist nicht zu der geringsten Handlung oder Bewegung imstande. In Wirklichkeit könnte er nicht leben, da er weder atmen noch sich ernähren könnte. Das Leben ist eine sehr komplexe Handlungs­folge – Atmung, Ernährung, Stoffwechsel, Wachstum von Zellen und Geweben, Reflexe, Nervenimpulse und so weiter. Für einen Menschen ohne äußere Eindrücke könnte nichts von all dem existieren, und noch weniger könnte er jene Handlungen vollbringen, die gemeinhin als willentlich und bewusst angesehen werden.

 

Nur sehr wenige vertreten den positivistischen Standpunkt aufrichtig und konsequent

Vom positivistischen Standpunkt aus unterscheidet sich daher der Mensch vom Tier nur durch die größere Komplexität seiner Reaktionen auf äußere Eindrücke und durch den größeren Zeitabstand zwischen Eindruck und Reaktion. Aber gleich dem Tier ist der Mensch unfähig zu unabhängigen, von ihm ausgehenden Handlungen; und was man beim Menschen »Willen« nennen kann, ist nichts anderes als die Resultante seiner Wünsche.

Dies ist der positivistische Standpunkt. Allerdings vertreten ihn nur sehr wenige Menschen aufrichtig und konsequent. Die meisten Leute bilden sich zwar ein und versichern den anderen, dass sie auf dem Boden einer streng positivistisch-wissenschaftlichen Welt­anschauung ständen, in Wirklichkeit jedoch machen sie sich ein Theoriengemisch zu eigen; das heißt, sie erkennen die positivis­tische Sicht der Dinge nur bis zu einem gewissen Grad an, nämlich bis zu dem Punkt, von wo ab diese allzu streng wird und nur noch wenig Tröstliches bietet. So behaupten sie einerseits, alle körper­lichen und psychischen Vorgänge im Menschen seien ihrem Wesen nach nur Reflexe, und andererseits bestätigen sie ihm unabhängiges Bewusstsein, ein geistiges Prinzip und freien Willen.

Der Wille ist, vom Gesichtspunkt dieser Lehre aus betrachtet, eine bestimmte Verbindung aus einigen eigens entwickelten Eigenschaften, die in einem zum Tun fähigen Menschen vorhanden sind. Der Wille ist das Kennzeichen eines Wesens von sehr hoher Seinsstufe im Vergleich zu der eines Durchschnittsmenschen. Nur Menschen mit einem solchen Sein können tun. Alle anderen sind bloß Automaten, die wie einfache Maschinen oder aufziehbares Spielzeug durch äußere Kräfte in Bewegung gesetzt werden und so lange funktionieren, wie die aufgezogene Triebfeder in ihnen abläuft, die jedoch außerstande sind, zu deren Kraft irgendetwas hinzuzufügen.

So erkennt die Lehre, von der ich spreche, an, dass im Men­schen große Möglichkeiten ruhen, weit größere als die, welche die positivistische Wissenschaft zugibt, aber sie spricht dem Men­schen, wie er heute ist, allen Wert als unabhängiges und willensstarkes Wesen ab.

 

Jean Tinguely: Heureka

Jean Tinguely [/]: »Heureka«, Plastik von 1973, am Zürichsee. Quelle: Wikimedia Commons

Der Mensch, so wie wir ihn kennen, ist eine Maschine

Diesen Gedanken der Mechanität des Menschen muss man gut verstehen und sich vergegenwärtigen, um seine ganze Bedeutung zu erfassen, und all die Folgen bedenken, die sich daraus ergeben.

Zunächst sollte jedermann seine eigene Mechanität verstehen. Doch dieses Verständnis kann nur das Ergebnis einer richtig durchgeführten Selbstbeobachtung sein. Und was die Selbstbeobachtung anbelangt, so ist sie nicht so einfach, wie es auf den ersten Blickerscheinen mag. Deshalb erachtet die Lehre das Studium der Prinzipien einer richtigen Selbstbeobachtung für grundlegend.

Ehe ein Mensch freilich zum Studium dieser Prinzipien übergehen kann, muss er den Entschluss fassen, gegen sich selbst ganz und gar aufrichtig zu sein, das heißt, die Augen vor nichts zu verschließen, sich von keiner Feststellung abzuwenden, wohin sie ihn auch führen mag, vor keiner Folgerung zurückzuweichen und sich durch keine im Voraus aufgerichteten Mauern zurückhalten zu lassen. Wer es nicht gewohnt ist, in dieser Richtung zu denken, braucht oft viel Mut, um die Ergebnisse und Schlussfolgerungen hinzunehmen, zu denen er gelangt. Diese erschüttern die gesamte Denk­weise des Menschen und rauben ihm seine angenehmsten und teuersten Illusionen. Vor allem sieht er seine völlige Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber buchstäblich allem, was ihn umgibt. Alles ergreift von ihm Besitz, alles hat ihn in der Gewalt. Er besitzt nichts, hat nichts in seiner Gewalt. Die Dinge ziehen ihn an oder sind ihm zuwider. Sein ganzes Leben ist nichts anderes als blinde Ergebenheit gegenüber dessen Anzie­hungen oder Widerwärtig­keiten. Des Weiteren sieht er, wenn er sich nicht vor den Schluss­folgerungen fürchtet, wie sich das gebildet hat, was er seinen »Charakter«, seinen »Geschmack« und seine »Gewohnheiten« nennt, kurz gesagt, wie seine Persönlichkeit und Individualität entstanden sind.

Doch wie ernsthaft und ehrlich ein Mensch die Selbstbeobach­tung auch durchführt, sie allein vermag ihm kein völlig wahrheitsgetreues Bild seines inneren Mechanismus zu geben.

Die erste Forderung dieser Lehre ist die, dass nichts in gutem Glauben angenommen wird.

Die hier dargelegte Lehre liefert die allgemeinen Bauprinzipien dieses Mechanismus, und mit Hilfe der Selbstbeobachtung kann sie der Mensch überprüfen. Die erste Forderung dieser Lehre ist die, dass nichts in gutem Glauben angenommen wird. Das Bau­schema der menschlichen Maschine soll dem Menschen nur als Plan für seine eigene Arbeit dienen, die für ihn der eigentliche Schwerpunkt bleibt.

Diesem Schema zufolge wird der Mensch mit einem Mecha­nismus geboren, der zum Empfang verschiedenartiger Eindrücke dient. Die Wahrnehmung einiger dieser Eindrücke setzt schon vor der Geburt ein. Später, während er heranwächst, treten immer mehr Empfangsgeräte in Erscheinung und vervollkommnen sich.

Die Bauart dieser Empfangsgeräte ist in allen Teilen des Me­chanismus die gleiche. Sie erinnert an die der unbespielten Wachs­walzen eines Edison-Phonographen. Auf diesen Walzen und Trommeln werden vom ersten Lebenstag an, und sogar vorher, alle jemals empfangenen Eindrücke aufgezeichnet. Der Mechanismus umfasst zudem eine automatische Vorrichtung, dank der alle neu empfangenen Eindrücke mit den gleichartigen, früher aufgezeichneten Eindrücken in Verbindung stehen. Zugleich erfolgt auch eine chronologische Klassifizierung.

So findet sich jeder irgendwann erlebte Eindruck an mehreren Stellen auf mehreren Walzen verzeichnet. Und auf diesen Walzen bleibt er unversehrt erhalten. Was wir »Gedächtnis« nennen, ist eine sehr unvollkommene Vorrichtung, durch die wir nur über einen geringen Teil unseres Eindrucksbestandes verfügen können. Doch die einmal erlebten Eindrücke verschwinden niemals; auf den Walzen, worin sie eingezeichnet sind, bleiben sie erhalten. […] Es kommt allerdings vor, dass diese Walzen infolge eines sichtbaren oder geheimen Schocks ganz von allein ablaufen und dass dadurch anscheinend seit Langem vergessene Szenen, Bilder oder Gesichter plötzlich wieder an die Oberfläche steigen.

Edison-Phonograph

Edison-Home-Phonograph [/] mit Wachswalze von 1900. Quelle: Wikimedia Commons

Das gesamte psychische Leben des Menschen bedeutet nichts anderes, als dass auf diesen Walzen aufgezeichnete Eindrücke vor dem inneren Blick ablaufen. Alle Eigentümlichkeiten der Weltanschauung, alle charakteristischen Züge der Individualität eines Menschen hängen von der Reihenfolge ab, in der diese Aufzeich­nungen gemacht wurden, und von der Beschaffenheit der Walzen, die er in sich trägt.

Nehmen wir an, irgendein Eindruck sei gleichzeitig mit einem anderen, der nichts damit zu tun hat, empfangen und aufgezeichnet worden, zum Beispiel: Ein Mensch habe zum Zeitpunkt einer intensiven psychischen Erschütterung wie Angst oder Sorge ein fröhliches Tanzlied vernommen. Dieses Lied wird in ihm stets das gleiche negative Gefühl hervorrufen, und umgekehrt wird ihn das Angstgefühl an jenes Tanzlied erinnern. Dies nennt die Wissen­schaft »assoziatives Denken und Fühlen«; doch die Wissenschaft be­greift nicht, in welchem Maße der Mensch durch diese Asso­ziationen gefesselt ist, ohne sich jemals davon freimachen zu können. Natur und Umfang dieser Assoziationen bestimmen unumschränkt das Weltbild des Menschen.

Wir können jetzt fast begreifen, weshalb die Leute einander nicht verstehen, wenn sie vom »Menschen« reden. Um einigermaßen ernsthaft über dieses Thema zu sprechen, muss man vieles wissen, andernfalls wird der Begriff »Mensch« zu unbestimmt und ver­worren. Nur wenn man die Grundprinzipien des menschlichen Mechanismus von Grund auf kennt, vermag man genau anzugeben, über welche Seite und über welche Eigenschaft man spricht. Wer diese Prinzipien nicht kennt, wird nur sich selbst und die Zuhörer in Verwirrung bringen. Ein Gespräch zwischen mehreren Personen, das den Menschen zum Thema hat, ohne ihn jedoch zu bestimmen und ohne anzudeuten, um welchen Menschen es geht, ist niemals ein ernsthaftes Gespräch, sondern einfach eine Anein­anderreihung sinnloser Worte. Wenn wir also verstehen wollen, was der Mensch ist, so heißt es zunächst anerkennen, dass es mehrere Kategorien von Menschen gibt, und verstehen, worin sie sich voneinander unterscheiden. Als Erstes müssen wir uns freilich klar machen, dass wir es nicht wissen.

© Triangle Editions Inc., New York, 2021
Deutsche Übersetzung: Hans-Henning Mey