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Ladislaus Boros
Heimatlosigkeit: das metaphysische Problem unseres Jahrhunderts
Eine Ukrainerin vor den Trümmern ihres Hauses nach einem der systematischen Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung durch die russischen Truppen. Foto: Adobe Stock / Pavlo
Der Frage, was Christsein in Wahrheit bedeutet, ging der ungarisch-schweizerische Theologe und Philosoph Ladislaus Boros (1927–1981) mit kompromissloser Konsequenz auf den Grund – in seinem persönlichen Leben ebenso wie in seinem schriftstellerischen Werk. Von beispielhafter Relevanz für unsere heutige Zeit sind seine nachfolgenden, auf einem Text von Günther Anders basierenden »Gedanken zu einer ›personalen‹ Flüchtlingshilfe« aus dem Jahr 1962
n unserem Jahrhundert vollzieht sich die größte Völkerwanderung aller Zeiten. Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mussten schätzungsweise 150 Millionen Menschen auf der ganzen Erde ihre Heimat verlassen. Davon entfallen auf Europa annähernd 68 Millionen Flüchtlinge. Seit 1945 haben allein in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 12,5 Millionen Menschen aus den Ostgebieten Aufnahme gefunden. In der Schweiz leben gegen zwanzigtausend Flüchtlinge, davon rund zehntausend Ungarn. Im »Weltflüchtlingsjahr« [1959] wurden große Anstrengungen gemacht, die Flüchtlingsnot überall auf der Erde wenn nicht zu beseitigen, so doch zumindest zu lindern. Heute sind allenthalben selbstlose Menschen am Werk, um die Heim- und Heimatlosigkeit aus der Welt zu schaffen. Der Strom der »Heimatlosen« verstärkt sich aber täglich. Die Bewegung der Fremdarbeiter schafft zusätzliche Probleme.
Die Heimatlosigkeit ist sozusagen das metaphysische Problem unseres Jahrhunderts geworden.
Hinter diesen trockenen Angaben verbirgt sich eine menschliche Misere, an der kein Christ schweigend vorbeigehen kann. Die Gewissenserforschung des heutigen Christen sollte immer wieder die Frage einschließen: »Was habe ich heute für die Heimatlosen getan?« Leider fehlt diese Frage heute noch in unseren Beichtspiegeln. Und diese Frage sollte nicht nur in Bezug auf das Portemonnaie gestellt werden, sondern in erster Linie auf der Ebene des personalen Mitseins. Die Heimatlosigkeit ist sozusagen das metaphysische Problem unseres Jahrhunderts geworden.
Der Heimatlose ist in seinem Sein bedroht. Diese »metaphysische Erkrankung« des Seins kann nicht mit administrativen oder karitativen Mitteln aus der Welt geschafft werden. Um überhaupt helfen zu können, muss das Problem der Heimatlosigkeit klar gesehen werden. Der christliche Philosoph hätte heute die dringende Aufgabe, es seinen Mitmenschen sichtbar zu machen. Unser Bericht möchte zu dieser philosophischen Arbeit einige Anhaltspunkte geben. Er stützt sich auf den autobiografisch gefärbten Aufsatz von Günther Anders [/]: »Der Emigrant« in Merkur, Juli 1962, Seiten 601–622 [eine neue Ausgabe ist 2021 im C.H. Beck Verlag erschienen]. Es sollen hier drei Stellen sichtbar gemacht werden, an denen das Sein selbst des Emigranten erkrankt und gleichsam gebrochen ist.
Dies ist ein Artikel aus unserer Gesamtausgabe von Ladislaus Boros, Band 10: Essays und Artikel zu Theologie, Philosophie, Kunst und Kultur 1958–1963
Dies ist ein Artikel aus unserer Gesamtausgabe von Ladislaus Boros, Band 10: Essays und Artikel zu Theologie, Philosophie, Kunst und Kultur 1958–1963
Zerfall des Lebens
Das Leben gliedert sich in Phasen auf. Jede dieser Phasen hat ihre unvertauschbare Eigenart, ihr Eigengewicht und ihr eigenes Gepräge: Die eine kann nicht durch die andere ersetzt werden. Durch die einzelnen Lebensphasen steuert der Mensch wachsend Krisen entgegen. Gewöhnlich unterscheidet man fünf solcher Krisenzeiten: Krise der Geburt, der Reifung, der Erfahrung, der Grenze und der Loslösung. Der Mensch soll diesen Krisen so begegnen, dass er sich von der überlebten Existenzweise löst und doch das Wertvolle und Lebentragende aus der alten Lebensphase in die neue hinüberrettet. So entsteht das »gelebte Leben«, das eine Einheit bildet und den Menschen einem vollendeten Personsein entgegenwachsen lässt. Diese Vereinheitlichung des Lebens wird dadurch erleichtert, dass sich die Übergänge von einer Phase zur anderen im Rahmen einer Umwelt abspielen, die als eine Konstante empfunden wird. Diese Umweltkonstante sichert weitgehend den Zusammenhang, die Einheit des Lebens.
Nun weist Günther Anders darauf hin, dass diese Voraussetzung der Lebenseinheit beim Emigranten, der von Umwelt zu Umwelt gestoßen wird, dahinfällt.
Die Kerben, die die Phasen unseres Lebens voneinander trennen, reichen viel tiefer als jene Kerben, die Lebensphasen gewöhnlich gegeneinander abgrenzen; so tief, dass die Zugehörigkeit der Phasen zum Leben als einem unspürbar, sogar objektiv fraglich, geworden ist (Seite 601).
Nicht als ob das Leben des Heimatlosen an Lebensstoff dürftig wäre. Der Menge nach würde er sogar für ein reiches Menschenleben auslangen. Der Heimatlose bekommt aber das Ganze des Lebens nicht mehr in den Griff. Er ist zu einer Vielheit verurteilt und es kommt ihm oft so vor, als hätte er überhaupt kein Leben hinter sich.
Da es unser Schicksal war, aus jeder Welt, in die wir geraten waren, in eine nächste gejagt zu werden, und da wir unter dem Zwang standen, uns mit immer neuen Inhalten zu saturieren, und zwar mit solchen, die auf die alten nicht verwiesen, liegen nun die (den verschiedenen Welten zugeordneten) Zeiten quer zueinander. Nach jeder Knickung wurde das der Knickung vorausliegende Stück Leben unsichtbar (Seite 604).
Das »neue Leben« des Heimatlosen zweigt sich vom Stamm seines bisherigen Lebens in eine völlig neue Richtung ab.
Das zweite Leben steht im Winkel vom ersten ab, und das dritte wieder vom zweiten, jedes Mal findet eine ›Wegbiegung‹ statt, eine Knickung, die den Rückblick – beinahe hätte ich geschrieben: physisch – unmöglich macht (Seite 604).
Anders bringt ein Beispiel, das als Grenzfall die Normalfälle beleuchtet.
Als ich Herrn K., den ich in Deutschland flüchtig gekannt hatte, in Kalifornien als Siebzigjährigen wiedersah, hatte er eine Odyssee hinter sich, die ihn von Berlin nach Paris, von dort nach Lissabon, von dort nach Shanghai, von dort nach Los Angeles verschlagen hatte. Um den Mann stand es folgendermaßen: Die Existenz seiner bereits hinter ihm liegenden vitae war ihm natürlich nicht unbekannt, an deren Einzelheiten aber konnte er sich nicht erinnern. Erkundigte man sich nach diesen, dann reagierte er so, als fragte man ihn nach Details aus dem Leben seines Vaters oder Großvaters, also vage und unwirsch (Seite 605).
Diese erstaunlich genaue Zeichnung der ersten Komponente der Heimatlosigkeit zeigt uns deutlich, dass das Flüchtlingsproblem viel tiefer in die Existenz des Heimatlosen hinunterreicht, als dass es auf administrativer, sozialpsychologischer oder karitativer Ebene zu lösen wäre.
Wir sollen den Fremden nicht nur in unser Haus und Heim aufnehmen, sondern in unser Inneres. Erst so bieten wir ihm nämlich richtig Heimat.
Ohne Heimat zerfällt die Existenz selbst. Da muss eine menschliche Hilfe einsetzen, und zwar auf der Ebene des existenziellen Mitseins. Man kann einem Menschen durch die Freundschaft gleichsam eine neue Heimat schaffen. Das Gebot der christlichen »Fremdenliebe« – sie ist ja ein Wesensmerkmal eschatologischer Verheißung: »Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, denn ich war fremd und ihr habt mich beherbergt« (Mt 25.34–35) – sollte heute ganz personal, in der Form der Freundschaft geübt werden: Wir sollen den Fremden nicht nur in unser Haus und Heim aufnehmen, sondern in unser Inneres. Erst so bieten wir ihm nämlich richtig Heimat.
Mehr noch als in anderen Freundschaften muss hier die »schöpferische Treue« eine ausgezeichnete Rolle spielen. Indem wir dem Heimatlosen »treu« sind, verleihen wir seinem zerfallenden Leben eine neue Festigkeit. Dies ist durchaus realontologisch gemeint: Die Freundschaft verbindet uns in eine existenzielle Einheit; sie versetzt ihn in unser Inneres, oder umgekehrt, sie baut aus unserem eigenen Leben seine Innerlichkeit auf; die Treue verleiht dann seinem Leben eine echte Kontinuität; und diese Kontinuität ist jetzt, nachdem wir mit ihm durch die Freundschaft in eine existenzielle Einheit verbunden worden sind, nicht mehr äußerlich, sondern gehört zu seinem eigenen Seinsbestand.
Dies kann aber nur in einem sehr langsamen Prozess geschehen, der an uns – vor allem an unsere Geduld – enorme Forderungen stellt. Doch muss diese Heilung ihrem Wesen gemäß langsam sein, da es sich hierbei um die Genesung der inneren Zeit des Heimatlosen handelt. Wir müssen also in unserer Gewissenserforschung uns folgendermaßen befragen: »Habe ich einen heimatlosen Freund, und habe ich ihm heute meine Treue bewiesen?
Günther Anders und Hannah Ahrendt [/] um 1929. Quelle: Wikimedia Commons
Verlust der Sprache
Als Sprechender findet der Mensch in der Welt erst richtig Heimat. Wie sich unsere Seele im Leib inkarniert, mit ihm eine Substanzeinheit bildet und erst so wirklich zur Seele wird, inkarniert sich unser denkendes Dasein in Worten. Das Wort ist also mehr als der Gedanke, wie auch der Mensch mehr ist als seine Seele. Ja man könnte sagen: Wie der Mensch ursprünglicher ist als seine Seele und sein Leib je für sich, so ist das Wort ursprünglicher als der bloße Gedanke. Für das denkende Dasein bildet das Wort die Leibhaftigkeit und die Heimat. Deshalb kann auch keine Sprache die andere ersetzen. Versetzt man einen Menschen aus seiner Sprache, so liefert man ihn der schlimmsten Heimatlosigkeit aus.
Die Existenz des Heimatlosen wird von Günther Anders treffend als »Stammeldasein« definiert. Der Emigrant wird nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Sprache zu Sprache verschlagen. Und das bedeutet,
dass er plötzlich dazu verurteilt ist, einige Etagen unterhalb seines eigenen Niveaus mit der Umwelt zu verkehren, und dass sich diese Primitivierung als Bumerang auswirkt: dass der Stammelnde nun nämlich von der Umwelt, die ja keine Zeit dazu hat, Gründen nachzugehen oder auf diese Rücksicht zu nehmen, nach dem niederen Rang seines Sprechens eingestuft wird. Dieser Vorgang ist in der Tat nicht nur quälend, auch nicht nur demütigend, sondern wirklich verhängnisvoll. Niemand kann sich jahrelang ausschließlich in Sprachen bewegen, die er nicht beherrscht und im besten Falle nur fehlerfrei nachplappert, ohne seinem inferioren Sprechen zum Opfer zu fallen. Denn wie man sich ausdrückt, so wird man. Unterscheidungen, die wir als Sprechende nicht machen können (nicht mehr oder noch nicht), die spielen bald auch für uns als sinnliche oder moralische Wesen keine Rolle mehr. […] Im Augenblick, da wir gerettet im Exil ankamen, waren wir bereits in die neue Gefahr hineingeraten, in die Gefahr, auf ein niederes Niveau des Sprechens abzusinken und Stammler zu werden. Und Stammler sind viele von uns auch wirklich geworden, Stammler sogar in beiden Sprachen: Denn während wir unser Französisch, Englisch oder Spanisch noch nicht gelernt hatten, begann unser Deutsch bereits Stück für Stück abzubröckeln, und zumeist sogar so heimlich und allmählich, dass wir von dem Verlust nur wenig bemerkten (Seite 620).
Die Sprache der Liebenden geht nicht mehr von Mund zu Mund, sondern von Herz zu Herz.
Die Beseitigung dieser schrecklichen Bedrohung, unter der die Heimatlosen am schwersten zu leiden haben, steht nicht in unserer Macht. Wir können unserem heimatlosen Freund nur so helfen, dass wir unserer Freundschaft und Treue eine ganz besondere Qualität verleihen, die sie, insofern sie echt sind, bereits besitzen, aber in diesem Fall noch ausgeprägter in Erscheinung bringen sollen: Jede echte Freundschaft bedingt eine Kommunikation; die Freunde erlangen die Einheit des Seins und in dieser Einheit eine tiefe Konnaturalität des Wesens; zwischen den Freunden und vielleicht noch mehr zwischen den Liebenden verschwindet langsam die Sprache; die kleinsten Zeichen können Träger von Mitteilungen sein; ja sogar aus dem Schweigen des anderen spricht eine Botschaft zu uns.
Dieser Vorgang des Verstummens ist die höchste Vollendung des personalen Mitseins. Er zeigt, dass hier zwei Wesen derart eins geworden sind, dass sie einander in einer vorsprachlichen Unmittelbarkeit begegnen können, in der Kommunikation des Seins und nicht des Ausdrucks. In dieser Struktur der zwischenpersonalen Begegnung liegt für den Heimatlosen die Rettung. Wir sollten ihn in jenen Bereich des personalen Mitseins versetzen, in dem das Sprachliche seine Bedeutung verliert, da es seinshaft überholt und übersteigert wird: Die Sprache der Liebenden geht nicht mehr von Mund zu Mund, sondern von Herz zu Herz (cor ad cor loquitur). Die Genialität des Herzens, des Liebenkönnens ist die Bedingung, der Möglichkeit für eine echte Lösung des Problems der Heimatlosigkeit.
Kein Mensch ist so gebaut, dass er es lange im Zustand der bloßen »Vorhandenheit« aushalten könnte.
Verlorener Seinsbeweis
Der Mensch besitzt sein Dasein, insofern es von den anderen bestätigt wird. Tatsächlich gilt im konkreten Leben nicht das cartesianische «cogito ergo sum», sondern dessen dialogische Abwandlung: «cogitor ergo sum», man denkt an mich, also bin ich. »Ich« entstehe gleichsam als Brennpunkt des Interesses der anderen. Kein Mensch ist so gebaut, dass er es lange im Zustand der bloßen »Vorhandenheit« aushalten könnte. Die Existenz eines Menschen, der nicht mehr personal bestätigt wird, bricht einfach zusammen. Die Emigrationsselbstmorde sind ein schrecklicher Beweis dafür.
Am Anfang des Exildaseins ergibt sich – nach Günther Anders – aus dem »Man ist hinter mir her« noch ein letztes »Also bin ich.«
Auch dieses skandalöse Minimum an Bestätigung ging rasch verloren und bald wanderten wir, wo immer der Zufall uns hinverschlagen hatte, zwischen Millionen, die uns als Luft behandelten – und so wurden wir Luft. Es hat wohl keinen unter uns gegeben, der nicht eines Tages an irgendeiner Ecke irgendeiner Stadt stehengeblieben wäre, um festzustellen, dass die Rufe und Geräusche der Welt plötzlich so klangen, als wären sie nur für die anderen gemeint – kurz: der nicht die Erfahrung gemacht hätte, dass er nicht mehr da war (Seite 606).
Foto: Pexels / Alessio Cesario
Ja noch mehr: Die Jagd nach »Lebenserlaubnis« (die zumeist im Warten auf Korridoren für Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis besteht) drängt den Heimatlosen in den Zustand der existenziellen Uneigentlichkeit.
Denn wem keine Zeit mehr übrigbleibt und keine Kraft mehr vergönnt wird, um sich von seinen wirklichen Sorgen verfolgen zu lassen und um unter diesen zu leiden, der ist dadurch eben sogar des Rechtes auf seine Sorgen beraubt und des Rechtes auf seine Leiden. […] Ich bin Zeuge von Szenen gewesen, in denen Leidgenossen von mir aufs Traurigste zu Genossen der falschen Leiden wurden, in denen sie zum Beispiel deshalb zusammenbrachen, weil sie irgendwelche ebenso idiotischen wie unentbehrlichen Papiere nicht ergattern konnten, oder auch deshalb plötzlich lärmend herumalberten, weil ein Zufall ihnen diese Papiere doch in die Hände gespielt hatte – kurz: Szenen, in denen wir auf unsere triviale Misere so reagierten, als hätten wir keine anderen Sorgen, als hätten wir nie etwas von den Bluttaten drüben läuten hören oder niemals die drohende Wolkenwand des zweiten Weltkrieges heraufziehen sehen (Seite 617).
Der Skandal der Heimatlosigkeit besteht heute darin,
dass wir – und damit meine ich die Millionen unserer Erde – systematisch daran gehindert werden, emotional an den Hauptmiseren unserer Welt teilzunehmen; dass wir dazu gezwungen werden, »falsche Tränen« zu vergießen, Tränen, die Unbeträchtlichem gelten und Trivialem; und dass wir dadurch der Zeit, der Kraft und des Rechts beraubt sind, dasjenige zu beweinen, was ein Recht, wenn nicht sogar das Alleinrecht, auf unsere Tränen hätte« (Seiten 618–619).
Die Schande des »falschen Bewusstseins«, durch die Karl Marx vor hundert Jahren so verdüstert gewesen war, reicht bei Weitem nicht so tief, wie diese Uneigentlichkeit des heimatlosen Daseins.
Teilhaben lassen an seinem eigenen Leben, das ist wohl der höchste Beweis einer selbstlosen Liebe und die höchste Bekräftigung der Existenz des anderen.
Indem wir einen Heimatlosen an unserem Leben, an unseren Sorgen, Freuden und Hoffnungen teilhaben lassen, retten wir ihn vor der Uneigentlichkeit und verleihen wir ihm Seinsbestand. Wir bestätigen ihn im tiefsten Grunde seiner Wirklichkeit. Teilhaben lassen an seinem eigenen Leben, das ist wohl der höchste Beweis einer selbstlosen Liebe und die höchste Bekräftigung der Existenz des anderen: Er wird dadurch ebenso wichtig und bedeutend wie unser eigenes Leben. Ja sogar noch wichtiger. Der andere erfährt dadurch sein Dasein als Gnade.
Gott gegenüber sind wir immer heimatlos
Indem der Christ aus seinem christlichen Bewusstsein heraus diese Taten der Liebe zu einem »Fremden« leistet, erfährt er seine eigene, grundsätzliche Heimatlosigkeit. Er sieht, wie er selbst die höchste Einheit seines Lebens in Gott noch nicht besitzt, wie er über Gott nur zu stammeln vermag und wie er die seinsbestätigende Liebe Gottes noch immer nicht ganz in sich aufnimmt. Gott gegenüber sind wir immer heimatlos. Aus dieser Erfahrung erwächst in ihm das Verlangen nach dem Himmel, nach der endgültigen und alles umfassenden Heimat: nach der letzten Einheit des Lebens, nach einer immerwährenden Kommunikation mit Gott und nach der unendlichen und in die Unendlichkeit wachsenden Teilhabe an der göttlichen Dreifaltigkeit. Das sind die letzten, metaphysischen Perspektiven dessen, was wir »personale« Flüchtlingshilfe nennen.
© Annegret Boros 2022
Der Artikel erschien unter dem Titel »Heimatlosigkeit« ursprünglich in der Zeitschrift Orientierung, Zürich, Heft 20, 1962. In unserer Gesamtausgabe ist er in Band 10, Essays und Artikel 1958–1963, auf den Seiten 486–493 zu finden.