Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst

Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Ladislaus Boros

Über unser Dahinleben in der Lüge

Selfie People
Foto: Pexels

Der Frage, was Christsein in Wahrheit bedeutet, ging der ungarisch-schweizerische Theologe und Philosoph Ladislaus Boros (1927–1981) mit kompromissloser Konsequenz auf den Grund – in seinem persönlichen Leben ebenso wie in seinem schriftstellerischen Werk. Von beispielhafter Relevanz für unsere heutige Zeit sind seine Beobachtungen über unser »Dahinleben« und unser »ausweichendes Dasein«

chauen wir zuerst unser eigenes Leben aufrichtig an. Es gibt in ihm Augenblicke der Ehrlichkeit, Klarheit und Offenheit. Das ist aber nicht unser existenzieller Zustand. Unser Alltag ist weitgehend eine Lüge. Wir lügen uns gleichsam durch das Leben hindurch. Wir alle tragen Masken, weichen dem Eigentlichen immer wieder aus.

Dies ist ein Artikel aus unserer Gesamtausgabe von Ladislaus Boros, Band 2: Der anwesende Gott | Im Menschen Gott begegnen

Ilia Delio: Ursächlich Liebe
Ladislaus Boros Gesamtausgabe Band 2

Dies ist ein Artikel aus unserer Gesamtausgabe von Ladislaus Boros, Band 2: Der anwesende Gott | Im Menschen Gott begegnen

Der Begriff »Lüge« steht hier nicht so sehr für eine bewusste Verfälschung der Tatsachen, für die unwahre Aussage, welche die Täuschung des Nächsten zur Folge hat, sondern für ein zentral-existenzielles Ereignis, für die Unwahrheit unseres gesamten Lebens. Versuchen wir zunächst, diese tiefste Uneigentlichkeit unserer Existenz, diese Verdunkelung unseres Daseins zu begreifen, damit dann, im späteren Verlauf unserer Betrachtung, die Größe und Eigentlichkeit des wahren Menschen umso sichtbarer werde.

 

Unser Dasein ist weitgehend ein Ausweichen

Was bedeutet denn »Lebenslüge«? Gehen wir ganz vorsichtig vor. Lassen wir uns zunächst auf keine Definitionen ein. Schauen wir erst einmal nur in unsere eigene Existenz. Versuchen wir, den Zustand zu beschreiben, in dem wir alle leben. Unser Dasein ist doch weitgehend ein Ausweichen. Wir wollen uns den Dingen, den Ereignissen und den Menschen nicht stellen. Wenn man ausweicht, lügt man noch nicht mit dem Munde.

Dennoch vollzieht sich bereits hier die Lüge des Lebens. Man hat vielleicht noch keine Hintergedanken, man stellt nichts in Abrede. Man weicht einfach aus. Man geht vorüber, wenn ein Mensch in leiblicher oder seelischer Not vor einem liegt. Man beugt sich nicht nieder. Vielleicht hat man gute Gründe dafür. Um diese »guten Gründe« noch mehr zu begründen, errichtet man dann oft Wahrheitssysteme, eröffnet Wahrheitsschulen. Der in seiner existenziellen Vollkraft lügende Lügner bekennt vielleicht die Wahrheit mit größter Lautstärke und Feierlichkeit. So kommt er vielleicht zu »Höchstleistungen«.

Das ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache: Man geht vorbei an der Not der anderen; vielleicht sogar mit lächelndem Gesicht. Eine absolute Forderung tritt an uns heran, und wir weichen aus, wir »verkraften« sie, wir übersetzen sie, wir deuten sie um.

 

Unterricht, Seelsorge, Liturgie und Predigt – gelogen

Wir möchten das an einem Beispiel verdeutlichen. Drei Freunde sitzen vor Job, nachdem er und sie sieben Tage entsetzt geschwiegen haben. Dann beginnen die drei Freunde zu reden. Sie verabreichen dem leidenden Mann Trost, Mahnung, vor allem aber Belehrung.

William Blake: Hiob wird getadelt

William Blake: »Hiob wird von seinen Freunden getadelt« (1825). Quelle: Wikimedia Commons

Plötzlich müssen sie von Gott hören, dass Er nicht gegen den jammernden und klagenden Job, sondern gegen die Belehrer, Ermahner und Tröster zornig sei. Da haben ernste, fromme und gutmeinende Leute geredet und zugeredet. Sie haben »goldene Worte« gesprochen. Sie waren aber dennoch falsch, weil sie Job, der der Gotteslästerung so nahe war, menschlich nicht halfen. Die drei gingen nicht auf die Not des Nächsten ein, sondern hielten Unterricht, Seelsorge, Liturgie und Predigt. Und gerade das hat Gott erzürnt. Ihre Belehrung, ihr Vortrag lassen sich sehr wohl hören. Alles ist richtig, sogar sehr richtig an diesen Ermahnungen. Drei brave und weise Männer versuchen hier, einem Leidtragenden zu helfen. Dennoch gehen sie an ihm vorbei, weil sie nicht auf seine Not eingehen. Sie hätten besser geschwiegen.

Job antwortet ihnen ganz richtig: »Auch ich habe Verstand, so gut wie ihr. « Dann wieder: »Solches habe ich oft gehört. Auch ich könnte so reden wie ihr. Wäret ihr nur an meiner Stelle, so würde ich für euch Worte finden und den Kopf über euch schütteln. Ich würde euch mit dem Munde trösten und nicht zurückhalten mit dem Trost der Lippen.« Und nochmals: »Dass ihr nur stille schwieget. Als Weisheit würde es euch angerechnet.«

Die drei haben Wahrheit geredet, sind aber dem Nächsten in seiner Not nicht begegnet; und so haben sie mit ihrer Existenz gelogen. Sie haben »zeitlose Wahrheiten« vorgepredigt, und damit wollten sie Job wirklich helfen. Trotzdem haben sie im Grunde nichts Hilfreiches gesagt. Sie brachten den Menschen, der da vor ihnen litt, nicht zur Wahrheit, zu Gott. Sie redeten Wahrheiten, die in Unwahrheit umschlugen. Deshalb waren sie nicht Zeugen der Wahrheit. Diese drei Männer wollten im Grunde nur ihr eigenes Leben behaupten, sich selbst freisprechen. Sie gaben der Not des Nächsten in ihrem Sein keinen Raum. So haben sie das Sein verleugnet, obwohl sie die Wahrheit sagten.

Man entwickelt Gewohnheiten, Lebensregeln. Dadurch wird die Existenz entfrischt, entgeistigt; denn das Tiefste des Geistes ist wesenhaft »gewohnheitsüberlegen«.

Dahinleben: die tiefste Niedrigkeit der existenziellen Unwahrhaftigkeit

Wir haben hier, an einem extremen Beispiel, aufgezeigt, was Lebenslüge heißt, eine Lüge, die nicht unbedingt mit falschem Zungenschlag zusammenfallen muss. Wenn man versucht, noch tiefer in diese existenzielle Unwahrhaftigkeit einzudringen, entdeckt man eine weitere Eigenschaft (man sollte eigentlich sagen: Uneigenschaft): Sie heißt schlicht Dahinleben. Damit möchten wir die tiefste Niedrigkeit der existenziellen Unwahrhaftigkeit charakterisieren, ihr versuchsweise einen Namen geben.

Das Leben des Menschen ist doch schließlich, wie immer man es auch deutet, ein Streben ins Unendliche. Ein solches Dasein ist schwer zu ertragen. Der Mensch ist zu faul. Er wehrt sich gegen das ihn Einfordernde. In dieser Starrheit schrumpft sein Leben ein. Man entwickelt Gewohnheiten, Lebensregeln. Dadurch wird die Existenz entfrischt, entgeistigt; denn das Tiefste des Geistes ist wesenhaft »gewohnheitsüberlegen«.

So wird das Dasein eintönig. Man versucht zwar, diese Eintönigkeit durch Unterhaltung und Abenteuer zu vertreiben. Sie ballt sich aber langsam zusammen zu einer Lebenslangeweile, zu einer Öde und Hohlheit der gesamten Existenz. Der Mensch wird verschlossen, unempfindlich für das Unerwartete und Gnadenhafte. Der Drang nach dem Großen schwindet langsam, ebenso die Erwartung dessen, was den Menschen »echt« macht, die Hoffnung auf Schönheit, Güte, Begegnung, Freundschaft und Liebe. Die Unruhe des Herzens versiegt. Es entsteht eine stumpfe Sehnsuchtslosigkeit. Man fängt an, die anderen nicht mehr zu begreifen, und steht allem Neuen ablehnend, sogar feindlich gegenüber. Durch jede Begegnung wird man in seiner Gewohnheit gestört, ja, aus dem Geleise gebracht. Es soll nichts geschehen, was den festgefügten Rahmen des Dahinlebens stören oder gar erschüttern könnte.

Es ist durchaus möglich, dass ein solcher Mensch sich im Leben bewährt und »tüchtig« ist. Weiß er aber davon, dass der Mensch in seinem tiefsten Grunde etwas Abgründiges hat, dass das Endliche ein Unendliches in sich trägt?

So entsteht in der »dahinlebenden« Existenz ein tiefer — oft uneingestandener — Widerwille gegen die Liebe, aber auch gegen all das, was Opfermut verlangt.

Ein solches Dasein kann sich nicht wirklich preisgeben, weil es durch die Preisgabe des eigenen Selbsts sich selbst restlos verlieren würde. Es erfährt nicht die Seligkeit der Selbsthingabe und den gnadenhaften (gnadebringenden) Verlust des so ängstlich gehüteten und doch nicht sicheren, weil im Grunde gar nicht sicherbaren Eigenseins. So entsteht in der »dahinlebenden« Existenz ein tiefer — oft uneingestandener — Widerwille gegen die Liebe, aber auch gegen all das, was Opfermut verlangt. Die Gewohnheiten werden übermächtig; das Leben versucht krampfhaft, seine eigene Bahn zu halten. Die Existenz wird »fest«. Diese vermeintliche Festigkeit bedeutet aber nur Erstarrung, Verkrustung; nicht aber die wohltuende Klarheit und kristallene Härte echter Lebendigkeit.

Das gesamte Dasein wird kleinlich. Oft wundert man sich, wie Menschen, die eigentlich durch ihr Talent, durch ihren Beruf und durch ihre gesellschaftliche Stellung großzügig sein müssten, sich — wenn man sie näher kennenlernt — als kleinlich und engherzig erweisen; wie oft ihnen geistiges und wirklich menschliches Format fehlt. Dagegen können sich echte Menschengröße und auch Großzügigkeit im schlichten, einfachen, kaum beachteten Menschen offenbaren, wenn wir ihm nahe genug kommen, um die Ausstrahlung seines Wesens zu erfahren. Denn dieser lebt, jener lebt bloß dahin.

Die »dahinlebende« Existenz wird nach und nach träge, gedankenlos und überhaupt »leblos«. Sie erfährt bei jeder Begegnung mit echtem Menschsein, wie geistig machtlos sie im Grunde ist. Diese innere Machtlosigkeit macht solche Menschen unsicher, obwohl sie oft bei schweren, die Seele tief packenden Erschütterungen ruhigen Mut bewahren können. Trotzdem sind sie den eigentlichen Problemen des Lebens nicht gewachsen.

 Das große Vorrecht des Menschen ist die »Unzufriedenheit« und das Harren auf das Noch-Ausstehende. Wer darauf verzichtet, gibt das Leben selbst auf.

Eine existenzielle Feigheit

Diese Grundunsicherheit verdichtet sich langsam zur Angst, zu einer existenziellen Feigheit. Der Mensch wird unmutig im eigentlichen Sinne: Er hat den Mut zum echten Leben verloren. Indem er an sich selbst festhielt, hat er sich selbst verloren. Daher kommt in ein solches Leben, selbst wenn es sich äußerlich froh und gelockert gibt, ein tiefes Übelgelauntsein, ein verdecktes Schlechtaufgelegtsein. Das zu Bedenkende der menschlichen Existenz ist jedoch, dass sie erst wirklich fest wird, wenn und indem sie »labil« bleibt: formbar, fühlig, dem Überraschenden gegenüber offen. Versucht der Mensch bloß »dahinzuleben«, so versucht er etwas, wozu kein Mensch wirklich fähig ist: restlos oberflächlich zu sein. Das große Vorrecht des Menschen ist aber die »Unzufriedenheit« und das Harren auf das Noch-Ausstehende. Wer darauf verzichtet, gibt das Leben selbst auf.

© Annegret Boros 2022

Aus Ladislaus Boros: Im Menschen Gott begegnen in Gesamtausgabe, Band 2, Xanten: Chalice Verlag, 2023, Seiten 194–197.