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Reshad Feild

»Würdest du das Leiden kennen…«

Erde, Mond, Galaxie

Foto: Pexels. Bildmontage: Chalice Verlag

Ein hier erstmals publizierter Studientext aus den unveröffentlichten Papieren der »Lebenden Schule« von Reshad Feild aus den 1970er-Jahren. Die englische Originalversion des Textes finden Sie hier…

as älteste Problem auf der Welt? Was am Leiden heutzutage neu ist, ist vielleicht sein riesiges Ausmaß und die zunehmende Unmittelbarkeit, mit der wir aller Formen von Leid rund um den Globus gewahr werden, von denen die wenigsten zu irgendetwas gut zu sein scheinen: Hunger, Einsamkeit, Krankheit, Gebrechen, Kindsmissbrauch – unbestreitbares Leid, das für die Zeugen wie zumeist auch für die Leidtragenden aufgrund des bedrückenden Gefühls der Sinnlosigkeit und des grausamen Verlusts, das es erzeugt, nur noch größer wird. Manchmal hört man Leute sagen, dass sie in ihren Reaktionen abstumpfen – eine Form des Selbstschutzes –, aber Geld und Hilfeleistungen fließen noch immer aus allen möglichen Gründen; das Bedürfnis, das Leiden anderer zu lindern, ist Gott sei Dank noch immer weit verbreitet, obwohl leider nicht immer bei jenen, denen es selbst am meisten helfen könnte.

»Würdest du das Leiden kennen, das Nicht-Leiden würdest du haben. Das Leiden erkenne, und das Nicht-Leiden wirst du haben!«

Zunächst einmal möchte ich mich diesem weiten Thema unter dem Aspekt nähern, wie wir persönlich darauf reagieren: mit Handeln, mit Vorwürfen, mit Verzweiflung, mit Glauben, mit Unglauben, mit Hinnahme, mit Empörung, mit Gemütsschwankungen? Zumindest haben wir heute die Möglichkeit, aus unzähligen Reaktionen rund um den Globus und über die Jahrhunderte hinweg etwas zu lernen. Sehr alt, und sehr zahlreich, sind die Versuche der Menschen, einen Sinn in dem zu finden, was zu ändern ihre eigene Kraft überstieg, und es vielleicht sogar dazu zu nutzen, sich selbst zu verändern.

Während der letzten zweitausend Jahre hat sich der Westen hauptsächlich auf dem christlichen Weg damit auseinandergesetzt. Denken wir an die eigenartigen, in den apokryphen, neutestamentlichen Johannesakten [/] Jesus zugeschriebenen Worte:

Würdest du das Leiden kennen, das Nicht-Leiden würdest du haben. Das Leiden erkenne, und das Nicht-Leiden wirst du haben!

Es gibt Möglichkeiten, mit unserem eigenen unvermeidlichen Leiden zurechtzukommen und darüber hinaus jedes überflüssige Leiden zu vermeiden.

 

Überflüssiges Leiden

Viele Menschen fanden es sonderbar, dass in einer Welt von Leid und Schmerz die Lehre Gurdjieffs und seiner Hauptexponenten Ouspensky [/] und Nicoll [/] sich zunächst einmal mit dem unnötigen oder eingebildeten Leiden beschäftigt. Nichtsdestotrotz verursacht unnötiges Leiden wahrscheinlich mehr Krankheit, psychische Störungen und menschliche Kraftverschwendung als alle verschiedenen Formen von notwendigem oder unvermeidbarem Leiden zusammengenommen. Was also ist unnötiges Leiden? Angst, Gekränktheit, Ärger, Neid, Selbstmitleid, Eifersucht, Schwermut, bestimmte Formen des Gelangweiltseins, Vorstellungen darüber, was einem widerfahren könnte, das Gefühl, geringeschätzt zu werden oder ungerechterweise benachteiligt zu sein, das Hegen von Groll, Gekränktsein, sich beleidigt fühlen – diese Liste ließe sich lange fortsetzen.

»Mein Leben«, sagte einmal ein alter Mann, »war eine lange Abfolge von Katastrophen – von denen die meisten nie eingetroffen sind.« Ein verschwendetes Leben, die Kräfte mit Nichtigkeiten vertan? Nein, denn irgendwann gelangte er zu einer gewissen Selbsterkenntnis und kam der Wirklichkeit viel näher.

Unnötiges Leiden zu beenden, mag, besonders für jene, deren Veranlagung dazu neigt, eine Lebensaufgabe sein, es kann aber auch viel schneller gehen. Wenn meine Tochter spät abends im Ausgang ist, mag es helfen, wenn ich bete (falls ich mich dazu bringen kann, im Stillen zu beten), aber mir vorzustellen, dass sie überfallen oder vergewaltigt wird, wird sicherlich nicht helfen, ganz im Gegenteil – das zu begreifen, es vollständig zu erkennen und einzusehen, bedeutet, auf dem Weg dahin zu sein, dass ich nicht mehr leiden werde, wenn sie zu später Stunde noch nicht zuhause ist. Wenn ich kein Auto besitze, wird es meinem Mangel nicht abhelfen, dass ich den Nachbarn um seinen Daimler beneide. In beiden dieser Fälle leide ich umsonst. Falls meine Tochter tatsächlich vergewaltigt oder überfallen wurde, wird es ihr nicht helfen, wenn sie endlich wieder zuhause ist und mich in einem hysterischen Zustand vorfindet. In dem Fall wird meine verfrühte Angst sie meiner einfühlsamen Hilfe berauben, jetzt, da sie sie braucht, was wiederum spätere Selbstvorwürfe befeuern mag. Wie bei der genannten Liste, könnten sich die Konsequenzen lange fortsetzen.

Falls wir zu einer bestimmten Form von eingebildetem Leiden – zum Beispiel, uns Sorgen zu machen – derart stark tendieren, dass wir es nicht aufgeben können, besteht eine Technik darin, uns das Schlimmstmögliche auszumalen und uns dem zu stellen. Zumindest ersparen wir es uns damit, unsere Lebenskraft durch die Identifikation mit all den etwas weniger schlimmen Möglichkeiten zu vertun. Diese Technik ist jedoch nicht geeignet für Menschen mit einer fruchtbaren Fantasie, die sich endlos Sachen zusammenträumen können, ohne sich für ein Resultat zu entscheiden!

Die Form von Selbstmitleid, die sich über ein unglückliches Schicksal beklagt, macht in Tat und Wahrheit Gott Vorwürfe.

Die Form von Selbstmitleid, die sich über ein unglückliches Schicksal beklagt, macht in Tat und Wahrheit Gott Vorwürfe. Falls wir an den Schöpfer glauben, wie können wir dann behaupten, wir wüssten besser, wie unser Schicksal auszusehen habe? Und falls wir nicht gläubig sind, wozu sollten wir uns dann mit Klagen verzetteln? Wir können nichts gewinnen, wenn wir unseren Verstand gegen eine zutiefst emotionale Reaktion – »Da kann man nichts machen« – in Stellung bringen, doch es gibt einen Ausweg; er besteht darin zu lernen, die Dinge anders zu sehen, in einer Haltungsänderung, sodass wir am Hindernis einen sicheren Halt finden oder eine glückliche Seite daran entdecken, die es sicherlich auch gibt.

Aber was die vielen banalen Irritationen in unserem Leben angeht, mag es reichen, uns zu fragen: »Muss ich es mir wirklich antun, diesem kleinlichen Gefühlszustand in die Falle zu gehen?«

Falls ihr das nicht bereits getan habt, versucht zuerst, gegen die kleinen Dinge anzugehen. Das mag bedeuten, es sechzig Mal pro Minute zu versuchen, aber wenn ihr einmal eine Sekunde Freiheit genossen habt, wird die Anstrengung geringer: Die Freiheit zeigt sich, und mit jedem Versuch werden euer Wille und euer Wunsch wachsen; und schließlich werdet ihr fast gänzlich frei. Nicht jeder kann in seinem Leben vollständig befreit werden.

Wenn die überflüssigen Leiden ins richtige Licht gesetzt werden können, dann, und erst dann, ist es sinnvoll, sich den Formen von nützlichem und unvermeidbarem Leiden zuzuwenden, über die John G. Bennett so klar gelehrt hat.*
* Zum Beispiel in John G. Bennett: Der grüne Drache, Seite 66 ff [A.d.Ü.].

 

Unfreiwilliges und nützliches Leiden

 

1

Zuerst einmal gibt es da das freiwillige Leiden, das die meisten von uns gar nicht als solches erkennen, das heißt die klugen Anstrengungen, die wir unternehmen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen: die Entbehrungen beim Abnehmen zur Förderung unserer Gesundheit und/oder unserer Statur; das harte Training des Athleten; der Verzicht auf Erholung und Vergnügen in der Vorbereitung auf einen Wettkampf oder eine Prüfung – in all diesen Fällen ist das Resultat, falls es erzielt wird, die Belohnung.

 

2

Dann gibt es das unbestreitbare Leiden, das uns befällt, ohne dass wir es gesucht hätten: Schmerzen, Krankheit und Unfälle, Not, Stress, Verlust, Schande, Versagen, Zurückweisung… All dieses Leiden kann sich spirituell und psychologisch lohnen. Die meisten von uns kennen Menschen, die in uns Bewunderung, Respekt oder Liebe hervorrufen aufgrund dessen, wie sie geworden sind durch das, was sie ausgehalten haben, Menschen die durch ihr schweres Leben gewachsen sind, reifer, mitfühlender, sogar freundlicher geworden sind. Einige, wenn auch nicht alle dieser wahrhaft gesegneten Seelen vermögen, ihr Leiden sozusagen als Teil einer Göttlichen Absicht zu verstehen, und können, indem sie es in diesem Sinne hingeben, verwandelt werden. Aber solche Resultate stellen sich keinesfalls von selbst ein. Leiden, das nicht akzeptiert wird, kann für das ganze Umfeld zu einer entkräftenden Erfahrung werden.

Das Potenzial von unfreiwilligem Leiden ist ein komplexes Thema, und darüber zu schreiben verlangt einen geistigen Balanceakt auf Seiten des Autors wie auch der Leserinnen und Leser. Mitunter heißt es, nur im Versagen liege Hoffnung, weil der erfolgreiche Mensch dazu neige, den wahren Zweck seines Lebens zu vergessen. Vielleicht mögen sich die Erfolgreichen darüber streiten, was ihre wahre Bestimmung ist; aber viele haben jenseits ihres Erfolgs nur Bedeutungslosigkeit gefunden. Es gibt in uns ein gewisses diabolisches Element – die verneinende Kraft, den unerlösten Teil von uns, der am richtigen Ort durchaus nützlich sein kann –, das nur durch Leiden, wenn es denn aus freien Stücken akzeptiert wird, geschwächt und dazu gebracht werden kann, sich unterzuordnen. Wenn die Lebensumstände allzu einheitlich vorteilhaft oder allzu einheitlich hart sind, bedarf es großer Anstrengung, nicht stärker in den Griff dieses ›dunklen Herrschers‹ zu geraten. Dies ist jene Kraft in uns, die verleugnet, was höher ist als wir selbst, und die glaubt, sie sei der Herr und sie allein zähle – unser Egoismus. Wenn es um Dinge geht, die wirklich wichtig sind, muss die verneinende Kraft in uns passiv, und darf nicht aktiv sein.

Für diesen kurzen Überblick ist das jedoch ein zu weites Feld; hier bräuchten wir die gesamte Psychologie und jede einzelne der großen Religionen! Behalten wir für den Moment lediglich den folgenden Satz des Dichters Keats im Kopf:

Siehst du nicht, wie notwendig die Welt der Schmerzen und Sorgen ist, um die Intelligenz zu schulen und sie zu einer Seele zu machen?

 

3

Unnötiges Leiden aufzugeben, ist eine Form von echtem Leiden und eine sehr lohnenswerte.

Am Versuch, unser überflüssiges Leiden loszulassen, ist nichts Unfreiwilliges; tatsächlich muss man dabei sehr überlegt vorgehen! Niemand hängt an seinem unfreiwilligen Leiden; man kann es beinahe daran erkennen, wie befreit man sich fühlt, wenn es von einem genommen wird und verschwindet. Natürlich ist das sehr vereinfacht, aber so seltsam es scheinen mag: Unnötiges Leiden aufzugeben, ist eine Form von echtem Leiden und eine sehr lohnenswerte. Manchmal hängen Menschen so sehr an ihrem Lieblingsleid, dass sie alles geben würden, um es nicht loslassen zu müssen. Wir brauchen bloß zuzuhören, wie liebevoll und schätzend sie im Nachhinein jede Kleinigkeit davon erzählen! Dieses Wort »Liebling« ist eine Mahnung – insbesondere Selbstmitleid wird häufig auf Haustiere projiziert und so wie diese gehätschelt. Nutzlose Fantasien und Ängste in Bezug auf andere werden als tugendhaft erachtet. Reizbarkeit und Wut werden mit berechtigter Entrüstung verwechselt. Neid ist heutzutage fast schon gesellschaftlich akzeptiert, sicherlich im linken Spektrum, und was würden Politik und Marketing ohne ihn anfangen?

Das Jäten dieses Gestrüpps in uns selbst schafft Raum für die eindeutig nützlichste aller Formen von Leiden, die Gurdjieff seinen Anhängerinnen und Anhängern als Weg vorschrieb: »bewusste Arbeit und absichtliches Leiden«.

 

4

Es ist ein kosmisches Gesetz, dass, wenn wir etwas für das Wohl von anderen Notwendiges unternehmen, wir nicht nur die entsprechenden Anstrengungen auf uns nehmen müssen, sondern auch für dieses Privileg zu bezahlen haben, indem wir alle Konsequenzen tragen, die sich daraus ergeben. Das bedeutet »absichtliches Leiden« – ein In-Begriff. Wir ›beabsichtigen‹ keine unerwünschten Konsequenzen, sind aber bereit, solche zu tragen, sollten sie sich einstellen; und bei allem objektiv Guten wird es solche geben. Dieses ›Doppeltbezahlen‹ widerspricht unserer üblichen einfachen Vorstellung von Anstrengung und Belohnung, doch der Lohn für die doppelte Bezahlung ist möglicherweise etwas vollkommen anderes.

In einem größeren Maßstab bietet die Heidenmission des heiligen Paulus ein gutes Beispiel. Er unternahm unglaubliche Anstrengungen und stellte sich endlos schwierigen Umständen, um neuchristliche Kirchen zu gründen, zu unterstützen und zu leiten, wo sie am fruchtbarsten wirken konnten; gesundheitliche Herausforderungen, die Risiken des damaligen Reisens, die Verantwortung, seine Bekehrten vor Schismen, Häresien und Sünde zu bewahren – all dies musste er meistern, um sein Ziel zu erreichen. Darüber hinaus waren da die zusätzlichen Konsequenzen seines Erfolgs: die so voraussehbare wie irrationale schwere Verfolgung. Es scheint nur fair, dass er ihr so häufig auf wundersame Weise entkam! »Nicht ich, sondern der Christus in mir«, war seine einzige Erklärung für das Geheimnis seiner Ausdauer; seine Hingabe war so vollkommen, dass das Abwägen von Mögen und Nichtmögen, Schmerz und Freude ihn nicht länger beeinflusste.

Glücklicherweise müssen wir nicht alle Apostel sein! Auch ziehen nicht all unsere Versuche, richtig zu handeln, zwangsläufig unerwünschte Konsequenzen nach sich; solche Situationen gibt es womöglich nur relativ selten. Auf der bescheidenen Skala, auf der die meisten von uns beginnen, besteht unser Übungsmaterial aus zumeist lachhaft unbedeutenden Ereignissen, bei denen das beabsichtigte Gute wie auch die Verantwortung entsprechend klein sind. Vielleicht laden wir einen einsamen Menschen auf ein Essen und ein Schwätzchen zu uns ein – und er kommt an mit einer heftigen Erkältung, in einem erschöpften Zustand und mit einem riesigen schlecht erzogenen Hund! Oder wir bieten jemandem unsere Hilfe an in einer jener Situationen, in denen »man einfach nicht gewinnen kann«, wenn uns klar ist, dass wir uns »auf mehr einlassen, als ausgehandelt war«, wie man so schön sagt, auch wenn sich die wahrscheinlichen Folgen nicht vorhersagen lassen: Stimmungen können sich verschlechtern, oder von uns wird plötzlich viel mehr erwartet als ursprünglich vorgesehen, und ganz egal, ob wir es schaffen oder nicht, kann eine freundliche Beziehung in die Brüche gehen.

Verantwortung zu übernehmen, verlangt, dass wir unserem gesunden Menschenverstand treu bleiben, einem Sinn für Perspektive, der es uns erlaubt, den Wald und die Bäume sowie den Wald in lauter Bäumen zu sehen!

Bei solchen kleineren Ereignissen, auch wenn wir einem weit entfernten Ziel vollkommen verpflichtet bleiben mögen – wie etwa, fähig zu werden, dem Großen Werk in sinnvoller Weise von Nutzen zu sein –, muss die Verpflichtung einer spezifischeren konkreten Absicht gelten und darf nur teilweise »unbegrenzt« sein; ansonsten läuft man Gefahr, auf Nebengeleise zu geraten oder sich in Detailversessenheit zu verlieren. Verantwortung zu übernehmen, verlangt, dass wir unserem gesunden Menschenverstand treu bleiben, einem Sinn für Perspektive, der es uns erlaubt, den Wald und die Bäume sowie den Wald in lauter Bäumen zu sehen!

Zwischen solchen Extremen liegt die gesamte Spannweite, in der die möglichen Konsequenzen unserer Handlungen akzeptiert werden müssen. Wenn das Elend hereinbricht, ist es nicht erlaubt, Gott um unsere Entlassung zu ersuchen, solange wir nicht gleichzeitig um Hilfe beim Ertragen des Elends bitten für den Fall, dass dessen Abwendung unangemessen sein sollte. Bei Matthäus 26.39 findet sich das Gebet, in welchem Jesus die perfekt ausgedrückt hat: » Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie Du willst.«

* * *

Um nunmehr zum Ausgangspunkt dieses längeren Essays zurückzukehren, wollen wir uns fragen, weshalb »die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« [Römer 8.22]. Ist dies alles sinnlos? Dieses Gefühl könnte man haben angesichts eines Leidens, das weder einen erkennbaren Nutzen noch einen psychologischen Vorteil hat und noch nicht einmal Glauben erzeugt.

Vielleicht erinnert ihr euch an das Märchen aus Kindertagen, in dem alle verlorenen Gegenstände auf den Mond gelangen, wo sie zu einem ansehnlichen Berg gestapelt und alle abhandengekommenen, kaputten und ungewollten Spielzeuge sicher aufbewahrt werden. Weshalb, wurde nicht erklärt; damals schien es auszureichen, dass es im kosmischen Plan auch für verlorene und zerbrochene Gegenstände einen Platz gibt. Die Ungereimtheiten eines solchen Märchens sind ebenso offensichtlich wie das psychologische Bedürfnis, dem dadurch Genüge getan wird. Die Geschichte von »Peer Gynt« besaß einen utilitaristischeren Ansatz; der Abfall gelangte zum Knopfgießer, um recycelt zu werden. Aber warum sollten wir Geschichten heranziehen, wo es doch antike Lehren gibt, mit denen die heutige Wissenschaft zunehmend in Übereinstimmung kommt?

Endlich – spät, aber hoffentlich noch nicht zu spät – beginnen wir zu verstehen, dass »alles, was existiert, mit allem anderen zusammenhängt«; alles auf der Erde leistet seinen unfreiwilligen angemessenen Beitrag zur kosmischen Ordnung.

Eine dieser Lehren ist jene von der gegenseitigen Erhaltung, von der Ökologie und Naturschutz aufzeigen, wie sie funktioniert, und gemäß der uns die moderne Physik verwirrt mit der Vorstellung, dass die Dinge nicht mehr das sind, was sie zu sein schienen, und auch nicht immer das, als was sie gerade erscheinen. Endlich – spät, aber hoffentlich noch nicht zu spät – beginnen wir zu verstehen, dass »alles, was existiert, mit allem anderen zusammenhängt«; alles auf der Erde leistet seinen unfreiwilligen angemessenen Beitrag zur kosmischen Ordnung. Es gibt mehr Energien, als jene, die wir als Brennstoff oder zur technologischen Ausbeutung nutzen. Die Lehren Gurdjieffs besagen, dass auch durch Empfängnis und Geburt Energien freigesetzt werden wie auch durch Lebenserfahrungen und durch den Tod; und diese Energien wandeln sich um und werden für den Unterhalt dieses Sonnensystems gebraucht.

Die beim Leiden freigesetzten Energien sind ein derartiger Beitrag. Möglicherweise war dies nicht immer beabsichtigt und vielleicht markiert die Geschichte des Sündenfalls in der Genesis jenen Punkt, an dem dem Menschen die Wahl erlaubt wurde zwischen zwei unterschiedlichen Methoden, seinen notwendigen Beitrag einer verfeinerten Energie zu produzieren. In dem er den Weg des Gehorsams zurückwies und sich für die Option der Erkenntnis von Gut und Böse entschied, wählte er unweigerlich den steinigeren Weg und brachte Leid und Tod über die Welt, »aber nicht ohne die Hoffnung«, wie der heilige Paulus sagt, »weil auch das Universum selbst befreit werden wird« [Römer 8.20].

Ob nun die Dinge zu Beginn anders hätten laufen können oder nicht, heute ist die Situation so, dass alle Lebensformen auf der Erde bedroht sind als Folge des ungebremsten Wachstums der Weltbevölkerung und des zügellosen Verbrauchs und katastrophalen Missbrauchs der irdischen Ressourcen. Ein weiterer Faktor ist die weitverbreitete Haltung, in der viele Leute jegliche unerfreuliche persönliche Anstrengung zu vermeiden suchen und nur akzeptieren, was »schön einfach« ist. Jede derart unausgewogene Lebensweise behindert unsere Fähigkeit zu normaler Erfahrung; daher kommt die kontinuierliche Zunahme der Zahl derer, deren Leben vollkommen unbefriedigend wird und fast zur Bedeutungslosigkeit gerinnt.

Auf diese Weise wird die seelische Nahrung, die es zur gegenseitigen Erhaltung alles Existierenden braucht, nicht mehr in ausreichender Menge produziert, und es wird ein Ungleichgewicht geschaffen, für das anderenorts »bezahlt werden« muss. Der riesige Anstieg der Zahl der Unglücklichen, die in jüngster Zeit unerträgliches Leid zu erfahren haben, deutet darauf hin, dass ihr Leiden notwendig geworden sein könnte, um jene Erfahrungsintensität zu liefern, aus der sich die feinstofflichen Emanationen destillieren können, die für den kosmischen Zweck essenziell sind.

»Sie bezahlen für uns«, wie ein an Krebs sterbender Katholik [aus unserem Bekanntenkreis] kürzlich über die an anderen Orten der Welt Verhungernden sagte.

Doch wahres Leiden resultiert aus dem Mangel an jedem echten Bedürfnis, psychologisch wie physisch. Die vereinsamten Alten, die Außenseiter der Gesellschaft, die Menschen mit Handicaps, all jene, die unter ihrer misslichen Lage leiden, denen aber vielleicht der Glaube fehlt, sie durch Akzeptanz und Ergebenheit in den Willen Gottes zu ertragen – auch sie leisten ihren Beitrag insofern, als dass sie sich ihres Leidens nicht erwehren können.

Was also ist sinnlos? Wenn wir uns in eingebildete Kompensationen flüchten und Selbstschutz betreiben mittels psychischer Funktionsstörungen und den oben beschriebenen Formen von überflüssigem Leiden, ist der kosmische Beitrag, den wir leisten könnten, verschwendet und stattdessen wird nur noch mehr Leiden unvermeidbar. Anstatt dass wir dem dienen, was lebendig und höher ist, was Gurdjieffs Kosmologie als die »Sonne« und die »Planeten« und die »Galaxie« beschreibt, werden diese verlorenen Energien sozusagen ausgeschieden und gelangen zum »Mond«, der eine noch nicht lebendige Stufe repräsentiert, die tiefer liegt als die Biosphäre. Obschon dies dem Mond zugute kommen mag, erleidet die Erde einen Abfluss ihrer eigenen Energien und ihre Entwicklung wird behindert.

Wären wir fähig gewesen, Glaube, Hoffnung, Liebe und Selbstlosigkeit in einer aufgeklärten Illusionslosigkeit beizusteuern, so wie sie von allen großen Religionen gelehrt werden – es wäre um so viel besser gewesen! Das heißt, es wäre allen auf der Erde Lebenden so viel besser ergangen; aber das war nicht möglich und ist auch jetzt noch nicht möglich, obschon es ein biblisches Versprechen von etwas nicht ganz Unähnlichem in der Zukunft gibt. In der Zwischenzeit leiden wir tatsächlich alle, ob wir währenddessen davon profitieren oder nicht. Und wohl oder übel leisten wir unseren Beitrag.

Kluge Zusammenarbeit beginnt mit der Arbeit an sich selbst.

© The Literary Estate of Reshad Feild 2020
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag