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Maurice Nicoll

»Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut«

Maurice Nicoll: Rechtschaffenheit

Foto: Adobe Stock / Lisa F. Young

Wer die Gleichnisse Jesu in erster Linie unter moralischen, politischen oder sozialen Aspekten zu interpretieren versucht, verkennt deren tiefen spirituellen Gehalt und damit die revolutionäre Botschaft dessen, was Christus in Wahrheit lehrte. Im folgenden Ausschnitt aus dem Kapitel »Der Begriff der Rechtschaffenheit« seines Buches Der neue Mensch zeigt der schottische Neurologe und Psychiater Maurice Nicoll (1884–1953) plausibel, wie radikal die innere Bedeutung der Weisheitsworte Jesu ist, wenn sie auf der ihnen angemessenen hohen Stufe verstanden wird

Maurice Nicoll: Der neue Mensch

ir wollen einige Beispiele aus Christi Lehre betrachten, die davon handeln, was zur Erreichung einer höheren Entwicklungsstufe nötig ist; zugleich werden wir die Bedeutung einiger Aussprüche Christi, die nicht ganz klar sind, zu verstehen suchen. Christus sagt an einer Stelle:

»Es sei denn eure Recht­schaffenheit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen« (Mt 5.20, nach der Lutherbibel von 1912).

Das ist eine eindeutige Feststellung, die eindeutige Bedeutung hat. Was ist Rechtschaffenheit und was bedeutet es, dass sie besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer sein muss? Das Wort, das in der oben angeführten Stelle mit »besser« übersetzt ist, besagt im Original »darüber und höher stehend«, also ungewöhnlich und bemerkenswert. Es ist nicht dieselbe Art Rechtschaffenheit wie die der Schriftgelehrten und Pharisäer, die nur zu steigern wäre.

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Äußere Rechtschaffenheit: Eitelkeit und Selbstbewunderung

Ein Mensch muss eine andere, bemerkenswerte oder ungewöhnliche Art der Rechtschaffenheit besitzen, die über der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer steht, über sie erhaben ist.

Der Ausdruck »der Gerechte« wurde ursprünglich auf einen Menschen angewendet, der die Regeln oder Gewohnheiten der Gesellschaft, in der er lebte, beobachtete. Er betrug sich recht, wenn er die Gesetze hielt. Unter den Juden bedeutete Rechtschaffenheit die Befolgung aller Einzelheiten des Mosaischen Gesetzes, die Befol­gung aller vorgeschriebenen Zeremonien, Abgabe des Zehnten, äußere Reinigungen und so weiter. Diese Form äußerer Recht­schaffenheit wurde oft von Christus angegriffen. Nach Christi Lehre war es falsche Rechtschaffenheit, weil sie »vor den Leuten« geübt wurde. Sie wurde vollzogen, lediglich um gerecht zu erscheinen, äußerlich, in den Augen der Leute. Christus sagt:

»Habt Acht auf eure Almosen, dass ihr nicht gebet vor den Leuten, dass ihr von ihnen gesehen werdet; ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Schulen und auf den Gassen, auf dass sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, Der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten« (Mt 6.1–4).

Christi Lehre handelt davon, wie ein Mensch sich entwickeln kann, wie er ein neuer Mensch werden kann.

In der angeführten Stelle sagt Christus, dass die Ausübung dieser Art äußerer Rechtschaffenheit den Menschen dort festhält, wo er ist – in seiner eigenen Eitelkeit und Selbstbewunderung. Christi Lehre handelt davon, wie ein Mensch sich entwickeln kann, wie er ein neuer Mensch werden kann.

Indem er die Art der Recht­schaffenheit, die den Schriftgelehrten und Pharisäern eigen ist, angreift, greift er die Ebene an, auf der der Mensch alles, was er tut, nur um seiner eigenen Verdienstlichkeit, nicht aber um der Rechtschaffenheit selbst willen tut. Ein solcher Mensch rechtfertigt sich durch äußeres Tun und Benehmen.

Sich rechtfertigen, heißt erweisen, dass man schuldlos ist. In jedem Menschen geht ohne Unterlass ein sehr komplizierter geistiger Prozess vor sich, der ihm zu dem Gefühl verhelfen soll, er sei im Recht, er sei schuldlos. Solange sich in ihm nicht ein verfeinertes Gewissen zu entwickeln beginnt, solange er sich mit der Angleichung an äußere Gewohn­heiten und Gesetze, mit der Aufrechterhaltung des Scheins oder damit, »das Gesicht nicht zu verlieren«, wie man sagt, begnügt, ist es ihm gleichgültig, was er in Wirklichkeit getan hat. Er wird sich rechtfertigen, damit seine äußere Rechtschaffenheit in den Augen der Welt aufrechterhalten bleibt – das heißt »vor den Leuten«. Dies hält ihn auf einer bestimmten Entwicklungsstufe fest. Und darum greift Christus diese Art, sich im Recht zu fühlen, an.

Das Anliegen der Lehre der Evangelien ist es, dass der Mensch sich innerlich entwickle und eine höhere Ebene erreiche. Deshalb wird gesagt, dass der Mensch diese höhere Ebene, die »das Himmelreich« genannt wird, nicht erreichen kann, wenn seine Rechtschaffenheit nicht von ganz anderer Art ist als die der Schriftgelehrten und Phari­säer. Himmel bedeutet stets diesen höheren inneren Zustand, diese Ebene, die zu erreichen dem Menschen möglich ist. Man beachte, dass die Evangelien nur von einer dem inneren Menschen erreichbaren Entwicklung sprechen.

Wer sich lediglich in den Augen der Welt rechtfertigt, verkörpert innerlich eine be­stimmte Art Mensch.

Schriftgelehrte und Pharisäer: Eigenliebe statt Nächstenliebe

»Schriftgelehrte und Phari­säer« bezieht sich nicht auf Menschen lange vergangener Zeiten, sondern auf heutige Menschen einer bestimmten Entwicklungs­stufe, die bei allem, was sie tun, sich Verdienstlichkeit zuschreiben, die von sich selbst begeistert sind und sich selbst mehr als alles andere lieben. In ihrer Gefühlsentwicklung haben sie nur »Eigen­liebe« statt »Liebe zum Nächsten«.

Jede Eigenliebe verachtet die anderen. Anzuerkennen, dass ein anderer ein eigenes, von einem selbst und den eigenen Wünschen unabhängiges Dasein hat, bedeutet, über die Ebene der Gefühlsentwicklung, die »Eigenliebe« genannt wird, hinauszugelangen. Was soll also damit gesagt werden, dass die Rechtschaffenheit diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer übertreffen muss? Es wird davon abhängen, wodurch sich der Mensch rechtfertigt. Es wird darauf ankommen, auf wel­chem Boden ein Mensch zu leben trachtet, das heißt, welchem Rang von Wahrheit er nachstrebt. Wenn er sich lediglich in den Augen der Welt rechtfertigt, verkörpert er innerlich eine be­stimmte Art Mensch.

Der Begriff von Wahrheit, der in den Evan­gelien gelehrt wird, ist anders als der der Welt und der Wirk­lichkeit der Sinne. Die Lehre Christi wurde unter denen, die sie hörten, viel erörtert. Davon zeugt das Evangelium des Johannes:

Etliche sprachen: »Er ist fromm«; die anderen aber sprachen: »Nein, sondern er verführt das Volk« (Joh 7.12).

Der springende Punkt ist, dass Christus die Mehrheit des Volkes, das ihn hörte, verletzte. Seine Worte waren nicht nur zu fremdartig, sondern zu gewaltig für sie, und deshalb waren sie beleidigt. Jeder fühlt sich beleidigt, wenn man ihm das nimmt, womit er sich rechtfertigt.

Christus lehrte eine andere Art der Wahrheit, eine andere Art dessen, was dem Menschen zum Gefühl seiner eigenen Rechtferti­gung verhelfen kann. Seine Lehre drehte sich um den Übergang von einer Entwicklungsebene des Menschen zu einer anderen. Er sprach die ganze Zeit über von dieser höheren Ebene, die »das Himmelreich« genannt wird; doch selbst seine Jünger dachten, er spräche über die Welt und ein Reich auf Erden.

Wenn Christus also sagt, dass die Rechtschaffenheit des Menschen völlig anders als die der Schriftgelehrten und Pharisäer sein müsse, so spricht er von dem, was Rechtschaffenheit, von dieser höheren Ebene aus begriffen, bedeutet, und wie ein Mensch sich in Bezug auf sie verhalten muss.

Angesichts dieser höheren, inneren Ebene kann sich ein Mensch nicht länger so wie sonst verhalten oder seine Beloh­nung aus denselben Quellen schöpfen, noch auch sich mit denselben Mitteln schuldlos fühlen. Er muss einsehen, dass angesichts des Himmelreichs seine ganze Selbst­gerechtigkeit nutzlos war und zu nichts führen konnte. Wenn ein Mensch die Lehre über innere Entwicklung annimmt, kann er sich nicht länger in derselben Weise rechtfertigen wie bisher. Im Lichte des neuen Begriffes von Wahrheit, den er gelernt hat, kann ihm seine frühere Selbst­ge­rechtigkeit nicht länger zur Verhüllung seines wirklichen Wesens verhelfen.

Man soll von einer höheren Ebene aus handeln, das Gute um des Guten willen tun und nicht, um es zum Gegenstand der Lobpreisung werden zu lassen, wodurch nur Eitelkeit, Eigenliebe und Selbst­gerechtig­keit genährt werden.

»Lass deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut«

In der angeführten Stelle wird ge­sagt: »Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut« (Mt 6.3). Dies bezieht sich auf die höhere Art Rechtschaffenheit, durch die allein die Möglichkeit gegeben ist, ins Himmelreich zu gelangen. Was bedeutet das?

Es wird nachdrücklich betont, dass die Menschen ihre Almosen nicht geben sollen, »auf dass sie von den Leuten gepriesen werden« nach der Art der Schriftgelehrten und Pharisäer. »Almosen« bezeichnet, was man aus Barmherzigkeit tut. Es bedeutet nicht nur Wohltätigkeit; es bedeutet innerliche Ver­gebung, innerliche Tilgung von Forderungen gegen andere. In der uralten Gleichnissprache bezeichnet die linke Hand das Schlechte und die rechte Hand das Gute. In dem Gleichnis, das von der Trennung der Böcke von den Schafen handelt, »wenn die Zeit erfüllet ist« (nicht am Ende der Welt), heißt es, dass Christus die Schafe zu seiner Rechten und die Böcke zu seiner Linken stellen werde.

In der oben angeführten Stelle beziehen sich die Worte: »Lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut« auf zwei Entwicklungsebenen im Menschen, die getrennt werden müssen. Man beachte, dass man die linke Hand nicht wissen lassen soll, was die rechte tut, nicht anders herum. Der Mensch auf sei­ner gewöhnlichen Ebene ist »böse«, und das bedeutet hier einen Menschen, der tief in Eigenliebe und Eitelkeit verstrickt ist, ein Geschöpf der Sinne. Die Sinne sind die Welt. Die rechte Hand bedeutet eine höhere oder den Beginn einer höheren Ebene des Verstehens. Diese beiden Ebenen dürfen nicht vermengt werden, das heißt, man darf seine linke Hand nicht wissen lassen, was die rechte tut.

Die linke Hand ist die tiefere Ebene, die von der Eigenliebe beherrscht wird. Was man von der höheren Ebene aus tut, muss von der niederen Ebene ferngehalten werden. Wenn man innere Barmherzigkeit übt, indem man Almosen gibt, darf man nicht nach Lohn begehren, denn sonst handelt man von einer Ebene aus, die »Schriftgelehrte und Pharisäer« genannt wird – von der Ebene der irdischen Welt, von der niederen Ebene aus. Man soll von einer höheren Ebene aus handeln, das Gute um des Guten willen tun und nicht, um es zum Gegenstand der Lobpreisung werden zu lassen, wodurch nur Eitelkeit, Eigenliebe und Selbst­gerechtig­keit genährt werden.

Ja noch mehr: Man darf nicht einmal über das nachsinnen, was man getan hat, nicht mit sich zu Rate gehen und sich für sein vornehmes Betragen gratulieren, sonst wird das, was man getan hat, zur Verdienstlichkeit, selbst wenn niemand davon weiß. Es wird auf die niedere Ebene des Men­schen zurückfallen. Er wird sich selbst beglückwünschen, er wird sozusagen auf seine Verdienstlichkeit zurückfallen. Er muss wissen, was es heißt, in sich selbst Stillschweigen zu bewahren. Er muss sich nicht vorhalten, was er getan hat. Der Regel nach verlangt ein Mensch, der Gutes irgendwelcher Art getan hat, nach Aner­kennung, und so kann er weder sich selbst noch anderen gegenüber stillschweigen. Er handelt vor einer Zuhörerschaft, innerlich wie äußerlich.

Es ist klar, dass der Übersetzer, der diese Worte abänderte, keine Ahnung von ihrer Bedeutung hatte.

Die niedrigere und die höhere Entwicklungs­ebene

Christus spricht zuerst davon, dass man nicht vor einer äußeren Zuhörerschaft handeln soll, und dann davon, dass man nicht vor einer inneren Zuhörerschaft handeln soll, die hier die linke Hand genannt wird – das bedeutet die niedere Ebene im Menschen, die des gewöhnlichen Lebens.

Wenn wir einmal verstanden haben, dass es sich bei allem in den Evangelien Gesagten um die Erreichung einer höheren – erreichbaren – Entwicklungs­stufe im Menschen handelt, wird die Bedeutung der linken und der rechten Hand klar: »links« bedeutet die niedere Ebene, »rechts« die höhere Ebene. Wer auf der niederen Ebene steht, wer von der linken Hand aus handelt, fühlt Verdienstlichkeit, er will sich selbst durch seine Barmherzigkeit rechtfertigen und Lohn dafür erhalten. Das ist eine Art der Recht­schaffenheit.

Ein Mensch jedoch, der von der höheren Ebene aus zu handeln beginnt, von der rech­ten Hand her, will dafür keinen Lohn, denn er handelt so, weil er innerlich sieht, dass es so gut ist; er handelt um des Guten selbst willen. Damit gelangt er, da er keinen Lohn weder innerlich noch äußerlich erstrebt, zu einer Rechtschaffenheit, die über derjenigen der »Schriftgelehrten und Pharisäer« steht. Er erzählt den anderen nicht, was er getan hat, noch hält er sich selbst vor, wie gut er gehandelt hat. Er ist sowohl der äußeren wie der inneren Zuhörer­schaft gegenüber schweigsam. Das ist es, was mit den Worten gemeint ist: »Es sei denn eure Rechtschaffenheit besser als die der Schrift­gelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmel­reich kommen«. Wenn die Rechtschaffenheit des Menschen in diesem Sinne nicht besser ist, wird er unweigerlich auf einer niederen Stufe seines Wesens festgehalten. Betrachtet man diese Lehre im Hinblick auf die niedrigere und höhere Entwicklungs­ebene in einem Menschen, so bekommt sie praktische Bedeutung, ebenso wie der Begriff der linken und rechten Hand.

Vielleicht ist jetzt auch in gewissem Ausmaß zu verstehen, dass ein anderer »verborgener« Lohn gegeben werden kann, von dem in dem Satz gesprochen wird: »Und dein Vater, Der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten im Verborgenen«. Der Sinn dieser Worte Christi ist in der ›autorisierten‹ Fassung der Bibel völlig missverstanden worden, wo gesagt wird: »Und dein Vater, Der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich«. Es ist klar, dass der Übersetzer, der diese Worte abänderte, keine Ahnung von ihrer Bedeutung hatte und keinen anderen Grund für das Geben von »Almosen« im Verborgenen verstehen konnte, als um äußerlichen Lohnes und um des Gefühls der Verdienstlichkeit und Selbstzufriedenheit willen. So konnte er sich nicht enthalten hinzuzufügen, dass im Verborgenen gegebene Almosen öffentlich belohnt werden würden.

Wenn man die Evangelien nicht von ihrem beherr­schenden Gedanken der Wiedergeburt her versteht – was innere Entwicklung bedeutet und das Vorhandensein einer höheren Ebene einbegreift –, so geht man völlig an ihrer wirklichen Be­deutung vorüber.

Die Wiedergeburt des neuen Menschen

Vielleicht können wir jetzt dem Verständnis dafür näherkommen, warum die Menschen, die nicht erkennen, dass es sich in den Evangelien um Wiedergeburt und Erreichung einer höheren Entwicklungsebene handelt, alles Gesagte von ihrer eigenen Ebene her auffassen und damit zwei Ordnungen oder Ebenen der Wahr­heit vermengen.

Wenn man die Evangelien nicht von ihrem beherr­schenden Gedanken der Wiedergeburt her versteht – was innere Entwicklung bedeutet und das Vorhandensein einer höheren Ebene einbegreift –, so geht man völlig an ihrer wirklichen Be­deutung vorüber. Dann werden die Menschen nur daran denken, sich selbst zu rechtfertigen, mit eigenen Mitteln, so wie sie und die ihnen bekannte Welt nun einmal sind, nicht ahnend, dass eine neue Geburt ihrer selbst gefordert wird, eine neue Wesensart, und nicht lediglich eine Steigerung dessen, was sie schon jetzt sind.

Und obwohl das Himmelreich – das heißt die höchstmögliche Entwick­lungs­stufe des Menschen – als in einem selbst liegend und als letzterreichbares Ziel bezeichnet wird, denken sie, dass es sich dabei um einen Zustand nach dem Tode, in der Zukunft, handelt, und nicht um einen Zustand, der in diesem Erdenleben erreicht oder wenigstens erstrebt werden kann – um einen neuen inneren Zustand, der tatsächlich als Möglichkeit in der Gegenwart besteht, etwas Höheres, als das, was man jetzt ist: Wie ein Raum, der in einem höheren Stock­werk jenes Hauses liegt, das man selbst darstellt und auf das so oft in den Gleichnissen Bezug genommen wird.

Infolge dieses Missverständnisses können die Menschen die linke Hand nicht von der rechten trennen, und folglich fließt alles, was sie tun, sozusagen auf die niedrigere Ebene zurück und nimmt falsche Gestalt an; und oft ist dies der Grund für sinnwidrige, enttäuschende oder selbst böse Beispiele im religiösen Leben, als Folge davon, dass das Höhere dem Niederen zugeschrieben wird, und dass zwei verschiedene Ordnungen von Vorstellungen vermengt werden. Das ist vergleichbar einer Eichel, die alles Wissenswerte über die Entwicklung eines Eichbaums kennenlernt und sich nun einbildet, so wie sie ist, bereits ein Eichbaum zu sein.

Deutsche Übersetzung © Verena Schumacher 2023