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Ein aktueller Artikel der amerikanischen Theologin und Weisheitslehrerin Cynthia Bourgeault auf dem Blog ihrer Webseite www.cynthiabourgeault.org aus Anlass der US-Präsidentschaftswahl vom November 2024. Der Text ist auch enthalten in ihrem neuen Buch Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage?, das soeben im Calice Verlag erschienen ist.
Ein Kapitel aus dem Buch Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage? von Cynthia Bourgeault
»Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.«
iese wunderbaren Worte aus dem Lukasevangelium (12.32) begleiten mich am heutigen Morgen des 6. Novembers, an dem ich in einem Amerika aufwache, das so gänzlich anders ist als jenes, dem ich gestern Nacht Lebewohl gesagt habe. Das Volk hat gesprochen, mein Land hat seinen kollektiven Wunsch für die Zukunft kundgetan. Die Entscheidung war klar und unmissverständlich. Mit den Mitteln der Demokratie haben sich meine Mitbürgerinnen und Mitbürger für diesen Weg entschieden. Als Amerikanerinnen und Amerikaner werden wir ihn nun gemeinsam gehen.
Ein Kapitel aus dem Buch Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage? von Cynthia Bourgeault
Ich weiß, dass viele, wenn nicht die meisten der Menschen im Netzwerk meiner Weisheitsschule sich einen anderen Ausgang gewünscht und ihre Hoffnungen auf einen solchen gesetzt hatten. Für jene, deren Wertvorstellungen sich an Gewissen, Ethik, Integrität und Inklusion ausrichten, ist die Wiedereinsetzung eines nun nicht mehr gerichtlich belangbaren Verbrechers in das höchste politische Amt unseres Landes eine unbegreifliche Absurdität, die sich nur interpretieren lässt als eine Massenkapitulation vor dem kollektiven Wahnsinn und als eine allgemeine traumatische Bindung (als der leider vorhersehbaren Folge eines Langzeiteinflusses eines zügellosen Narzissten). Oder aber es ist ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Gott uns – oder vielmehr »Gott«, das heißt die Göttlichkeit als Prinzip, im welchem wir Ihn suchen und finden – fallengelassen hat.
Ich möchte Sie bitten, Ihren persönlichen Kummer zu respektieren, ihm Raum zu geben, aber sich nicht dahinter zu verbarrikadieren, nicht zuzulassen, dass er Sie erstarren lässt oder Ihr Herz verhärtet gegenüber Ihren Nachbarn, die die Dinge vielleicht anders sehen. Die Aufgabe, die vor uns liegt, egal, wie wir sie konkret erfahren werden, besteht in Versöhnung und Wiederaufbau. Genau so wie in Asheville, North Carolina, als [nach der Flutkatastrophe vor wenigen Wochen] die Menschen aus dem roten und aus dem blauen Lager in beeindruckendem Einklang zusammenkamen, um ihre geliebte Stadt wiederaufzubauen. Das müssen wir jetzt tun: Unsere geliebte Stadt wiederaufbauen.
Die nun bevorstehenden Zeiten mögen tatsächlich eine Schwächung, eine radikale Erschöpfung bringen – und ich glaube, genau an dem Punkt hat die Weisheit einige Werkzeuge in ihrem Kasten, die in der breiteren »blauen« geistigen Kultur, zu der wir ansonsten zumeist gehören, nicht besonders bekannt sind. Eines davon ist eine großflächigere evolutionäre Straßenkarte. In den vergangenen drei Jahren, in denen einige von uns mit den Texten des Philosophen Jean Gebser gearbeitet haben, ist uns immer klarer geworden, dass wir uns an einem evolutionären Scheitelpunkt befinden, an dem das neu aufkommende integrale Bewusstsein unter noch immer nicht ganz förderlichen äußeren Bedingungen an seinem Durchbruch arbeitet. In seiner hastig verfassten und sehr überheblichen, meiner Meinung nach aber dennoch ziemlich treffsicheren, kürzlich [nach der letztmaligen Wahl von Donald Trump] publizierten Analyse behauptet der Philosoph Ken Wilber,[1] wir durchliefen gerade eine Korrekturphase der Evolution, in der einige der individualistisch Amok laufenden Exzesse der ultraliberalen Ränder der Wokeness nunmehr etwas zurückgeschnitten werden müssten, um die evolutionäre Verlaufskurve als Ganzes wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das entspricht im Prinzip meiner eigenen Einschätzung dessen, was derzeit im Herzland Amerikas geschieht. Meiner Ansicht nach ist es nicht wirklich von einem kollektiven Wahnsinn getrieben, vielmehr hat Trump es geschafft, eine Stimme wieder aufzuladen und zu elektrisieren, die in den letzten Jahrzehnten von einem kompromisslos säkular-individualistischen Elitarismus systematisch erstickt (und herabgewürdigt) worden ist.
Und natürlich ist es genau das, was Gurdjieff schon vor langer Zeit gesagt hat. Was ist mit dem Megalokosmos? [2] Was ist mit unserer wahren menschlichen Bestimmung und Verantwortlichkeit? Was wäre uns NICHT erlaubt zu tun, damit die eigentlichen Bedingungen des tiefen Wunsches »unseres Gemeinsamen Vaters«, unter uns zu weilen, sich tatsächlich weiterhin manifestieren können? Seit etwas mehr als einem Jahr habe ich auf meinen Lehrveranstaltungen im Rahmen unserer Weisheitsschule unter dem Motto »Unseren Planeten halten« vorsichtig versucht, uns allen diese großflächigere Straßenkarte zu unterbreiten, und darauf hingewiesen, dass wir zu ängstlich wurden und unseren Fokus tatsächlich zu engstirnig, zu parochial haben werden lassen, um unsere kosmische Verantwortlichkeit wirklich zu begreifen und zu verstehen, welche Hilfe uns entgegengebracht wird, sobald wir willens sind, das Nadelöhr aufrichtiger Reue zu durchschreiten in die ungewohnte Freiheit barmherzigen Verständnisses.
»Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben.«
Das Spiel ist noch nicht gelaufen. Noch immer beschützt uns die liebende Hand unseres Gemeinsamen Vaters, und die Marschbefehle haben sich nicht geändert: zu leben und uns zu verwirklichen in Übereinstimmung mit den höchsten Maßstäben dessen, wozu Menschen, wie wir wissen, fähig sind: Beherztheit, Verpflichtung, Mitgefühl, Vergebung, Gewissen und Integrität. Einfach weiterzugehen in diese Richtung, wenn immer möglich Arm in Arm, denn dort verstärkt sich die Kraft der individuellen Integrität enorm.
Ich glaube nicht, dass das Ende des Tunnels schon bald in Sicht kommen wird. Nach vier weiteren Jahren unter Trump und sehr wahrscheinlich acht anschließenden Jahren unter Vance wird sich der Charakter unseres Landes deutlich verändert haben. Und ich vermute, am Ende wird es Mutter Natur sein, nicht die Reue des menschlichen Gewissens, die einschreiten und uns angesichts unseres Störens der Evolution vor die entscheidende Frage stellen wird. Und so mache ich mich langsam mit der realistischen Möglichkeit vertraut, meine letzten Lebensjahre auf diesem Planeten in der Dämmerung einer dunklen, reaktionären Zeit zu verbringen.
Ja, unser Planet hat solche dunklen Zeiten schon früher durchlebt. Und ja, das Tageslicht wird zurückkehren.
Bis dahin, während wir alle durch diese schwierigen Jahre navigieren, in denen der Spreu vom Weizen geworfelt wird, ist es für jene unter Ihnen, die durchzuhalten vermögen, wichtiger denn je, an Nüchternheit, Integrität, Unvoreingenommenheit und Metis (dem geschickten Handeln zu der genau richtigen Zeit) [3] festzuhalten. Fähig zu sein, ohne zu zucken oder wild umherzufuchteln dem unumgänglichen Worfeln ins Auge zu schauen wie eine Sphinx.[4] Sich nicht in Nostalgie, Selbstmitleid, Schuldzuweisung oder Grübelei zu ergehen. Weiterzuschreiten in Vergebung und in stiller Zuversicht in die Zukunft. Unser Vater versucht noch immer, uns das Reich zu geben; das Timing hängt von unserer Bereitschaft ab, es zu (er)tragen. Lassen Sie uns still damit fortfahren, uns vorzubereiten.
»Für alles, was war: Danke. Zu allem, was kommt: Ja.« — Dag Hammarskjöld
Haltet fest an der Hoffnung!
6. November 2024
© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas
Anmerkungen
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[1] Gemeint ist Ken Wilber: Trump and a Post-Truth World, Bolder, CO: Shambhala, 2017. Eine eingehende kritische Rezension dieses Textes findet sich in Cynthia Bourgeault: Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage?, ihrem neuen Buch, das in wenigen Wochen im Chalice Verlag erscheinen wird [Anmerkung der Übersetzer].
[2] Gemäß G.I. Gurdjieff spricht die »vollständige Kosmenlehre« von insgesamt sieben Kosmen. Der zweite oder heilige Kosmos wird auch »Megalokosmos« genannt, in dem »sich die Möglichkeiten der Erde verwirklichen«. Siehe P.D. Ouspensky: Auf der Suche nach dem Wunderbaren, Bern/München/Wien: Scherz Verlag, 1993, Kapitel 10 [A.d.Ü.].
[3] Siehe das Kapitel »Metis: Was das Jetzt braucht« in Cynthia Bourgeault: Ganz und gar im Weder-noch, Xanten: Chalice Verlag, 2024, Seiten 132–151.
[4] Über die diesbezügliche Bedeutung des Bildes der Sphinx schreibt die Autorin anderenorts: »Wenn du diesen schwierigen Weg – Hoffnung in die Welt zu tragen – wirklich gehen willst, solltest du zuhause zwei Symbolfiguren besitzen: eine (wenn möglich nicht allzu dramatische oder hysterische) Darstellung der Pietà, also der Mutter Gottes, die den Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß hält, nachdem er vom Kreuz genommen wurde, und eine Darstellung der Sphinx. In beiden dieser Symbole ist eine ganz besondere Qualität zu erkennen, die man vielleicht als »objektive Dämpfung« bezeichnen könnte und die dein Herz nicht verhärtet, sondern es zum Fundament der Erde bringt. Was hierbei so wichtig ist, ist dieses Mitleid oder Erbarmen (la pitié, wie die Franzosen sagen), dieses Mitgefühl mit dem Zustand der Menschheit, mit der universalen Traurigkeit, mit dem, was im Herzen einer Mutter hervorgerufen wird, deren Sohn von einem blutrünstigen Mob derart unfassbar unbarmherzig aufgeknüpft wurde – und es auszuhalten.« Siehe Cynthia Bourgeault: Mystische Hoffnung: Im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, Xanten: Chalice Verlag, 2024, Seiten 102–103.