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Cynthia Bourgeault
»Gott ist eine Person!«
Enstatische Personifizierung gemäß der Evolutionsanschauung von Teilhard de Chardin
Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) und Jean Gebser (1905–1973). Quelle: Wikimedia Commons
Was kann Teilhards Verständnis des Personalen und der Personifizierung zur heutigen Auseinandersetzung mit dem Thema Evolution beitragen? Und wie verhält es sich zu Jean Gebsers kulturphänomenologischer Sicht auf die Entwicklung des Bewusstseins? Ein Vortrag der Theologin, episkopalen Priesterin und Autorin Dr. Cynthia Bourgeault an der Jahrestagung der American Teilhard Association am 12. Juni 2021
Video des Vortrags von Cynthia Bourgeault vom 12. Juni 2021
ch möchte heute einige Gedanken über Teilhard de Chardins [/] tiefgründige und überzeugende Vision von Personifizierung mit Ihnen teilen. Ich tue dies vor dem breiteren Hintergrund des zeitgenössischen interspirituellen Dialogs und der entwicklungstheoretischen Bewegung des Integralen, an deren Gesprächskreisen ich mich seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten beteilige.
Es ist mir ein Anliegen, grundlegender darüber zu reflektieren, was Teilhards Verständnis der Personifizierung auch heute noch zur Auseinandersetzung mit dem Thema Evolution beitragen kann, vor allem dort, wo sie in den stärker säkularen und »spirituellen, aber nicht religiösen« Formaten unserer Zeit geführt wird. Gibt es ein besonderes westliches und christliches Verständnis dessen, was wir heutzutage als die »höchsten Zustände bewusster Verwirklichung« bezeichnen würden? Tatsächlich glaube ich, dass dem so ist und dass Teilhards Vorstellung von Personifizierung nach wie vor den Schlüssel dazu darstellt.
Video des Vortrags von Cynthia Bourgeault vom 12. Juni 2021
Bitte haben Sie ein wenig Geduld, wenn sich meine einleitenden Betrachtungen etwas im Kreis zu drehen scheinen, doch es ist wichtig, zuerst eine Auslegeordnung zu machen und den historischen Hintergrund in groben Zügen – und mit ein paar Namen und Querverbindungen, die vielleicht nicht allen unter Ihnen bekannt sind – darzulegen.
Meiner Meinung nach geht es hier um etwas Größeres, und wenn wir es verstehen können, verspricht es nicht nur, unseren Horizont in Bezug auf das Studium Teilhards zu erweitern, sondern auch eine breitere Anerkennung seines zentralen Beitrags zur größeren westlichen spirituellen Tradition, in welcher seine Arbeit zutiefst verankert ist.
Wir feiern hier das Debüt des »Überpersönlichen«, einer ganz neuen Tiefe und diaphanischen Transparenz des menschlichen Bewusstseins, welche die eigentliche »Sphäre der Person« einleitet.
Der Hintergrund
Wie Sie wissen, ist der vierte und letzte Teil von Teilhards Opus magnum, Der Mensch im Kosmos, überschrieben mit »Das höhere Leben«. Er stellt einen mutigen Versuch dar – und einer, der seiner Zeit weit voraus war – zu skizzieren, was die heutige Evolutionstheorie als ein »neues Plateau« oder eine »neue Stufe des Bewusstseins« bezeichnen würde und was in deren aktuellen Straßenkarten oftmals mit »dritte Rangordnung« oder »non-dual« beschrieben wird. Für Teilhard zeichnet es sich dadurch aus, dass es kollektiv und persönlich ist.
Wir feiern hier das Debüt des »Überpersönlichen«, einer ganz neuen Tiefe und diaphanischen Transparenz des menschlichen Bewusstseins, welche die eigentliche »Sphäre der Person« einleitet und die endgültige Konvergenz am Omega-Punkt kennzeichnet. Vielleicht paradoxerweise, aber im Einklang mit dem Leitgedanken Teilhards, dass »Vereinigung differenziert«, verläuft diese endgültige Konvergenz in der Art einer Verstärkung und nicht einer Auflösung. »So wird die Welt enden, so wird die Welt enden…«, weder »mit einem Knall« noch »mit einem Winseln«, sondern, für Teilhard, »mit einer höchsten Steigerung harmonischer Komplexität«.[1]
Gegen Ende seines Lebens empfand sich Teilhard schmerzlich als ein Rufer in der Wüste. »Kann es tatsächlich sein, dass ich der Einzige bin, der dies erkannt hat?«, quält er sich in seinem letzten Essay, Das Herz der Materie und das Christische in der Evolution, den er weniger als einen Monat vor seinem Tod abschloss. Doch er beantwortet dann seine eigene Frage mit einer triumphierenden Selbstbestätigung: »Die Wahrheit braucht sich bloß einmal, in einem einzigen menschlichen Geist, zu zeigen, und es wird unmöglich sein, sie jemals daran zu hindern, dass sie sich universell verbreitet und alles in Brand setzt.« [2]
Dieses Übergreifen der Flammen hatte bereits eingesetzt, allerdings ohne, dass Teilhard davon wusste. 1953, zwei Jahre vor dessen Tod, hatte Jean Gebser [/], ein in der Schweiz eingebürgerter Deutscher, sein maßgebliches Werk Ursprung und Gegenwart abgeschlossen,[3] das Ergebnis einer mehr als zwanzigjährigen Forschung und Reflexion. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Teilhard dieses Werk nicht kannte, da er sich zu dieser Zeit bereits widerwillig in New York, dem letzten Exil seines Lebens, niedergelassen hatte und auch weil sich die beiden Männer in etwas unterschiedlichen intellektuellen Kreisen bewegten. Teilhard war Wissenschaftler und Mystiker, Gebser ein Phänomenologe und Kulturgeschichtler. Auch Gebser hatte Teilhard im ersten Durchgang verpasst, da dessen Bücher zu jener Zeit [von der römisch-katholischen Kirche] noch mit einem Publikationsverbot belegt waren. Doch in der zweiten Runde ging er auf ihn ein und würdigte in seiner überarbeiteten 1973er-Ausgabe von Ursprung und Gegenwart (wie auch in anderen Schriften) Teilhard als eine der authentischen »Mutationen«, die den Sprung auf ein gänzlich neues Plateau ankünden.
Aus Gebsers kulturphänomenologischer Sicht befindet sich das Bewusstsein selbst in Entwicklung, eine Möglichkeit, die Teilhard nie in Betracht gezogen hatte. Für Letzteren wuchs das Bewusstsein durch einfache Aggregation gemäß dem kosmischen »Gesetz von Komplexität und Bewusstsein« (complexité-conscience): je komplexer und artikulierter die zugrundeliegende Struktur, desto größer die Ausstrahlung des manifestierten Bewusstseins. Gebser interessierte sich für die entstehenden artikulierten Strukturen des Bewusstseins selbst. Seine Forschungen ergaben ein fünffaches Evolutionsschema, das äußerlich betrachtet grob mit den großen Epochen der menschlichen Zivilisation korrespondiert – und, nebenbei bemerkt, auch auf der individuellen Entwicklungsreise eines jeden Menschen rekapituliert wird. Diese Bewusstseinsstrukturen sind: die archaische, die magische, die mythische, die mentale und die integrale.[4]
Die ersten beiden Strukturen, die archaische und die magische, stimmen in etwa mit der von Teilhard definierten Epoche der wissenschaftlich-technischen Spezialisierung überein: der Zeit des jüngeren Quartärs, genauer des späten Pleistozäns und des anschließenden Holozäns, also einem Zeitalter, das vor etwa 40.000 Jahren begann und bis zu den Anfängen der aufgezeichneten Geschichte reicht.
Die mythische Struktur taucht im dritten Jahrtausend vor Christus auf. Die mentale, die vierte Struktur, stürmt auf die Bühne der Menschheitsgeschichte mit einer Periode, die heute allgemein als »erste Achsenzeit« (800–200 v.Chr.) bezeichnet wird. Einen starken zweiten Anstieg erfährt sie während der europäischen Renaissance, um heute jedoch, nach fünf Jahrhunderten erstaunlicher kultureller Dominanz, unter deutlichen Erscheinungen des kulturellen Zerfalls und der ökologischen Krise, sichtlich abzuflachen.
Die fünfte Struktur, die Gebser »die integrale« nennt, steht heute unmittelbar vor ihrem Auftritt und ist Teilhards Überpersönlichem auf eine unheimliche Art ähnlich. Gebser mag dessen Ausdruck »eine höchste Steigerung harmonischer Komplexität« nie gehört haben, doch singen er und Teilhard definitiv dieselbe Melodie.
Ken Wilber (geboren 1949). Quelle: Shambhala Publications
Und hier finden wir nun das Verbindungsstück zur Gegenwart: Gebsers fünffaches Schema legte den Grundstein für einen großen Sprung in der modernen Evolutionstheorie und für die höchst populäre entwicklungstheoretische Bewegung des Integralen, die vom amerikanischen Philosophen Ken Wilber [/] angestoßen wurde. Wilber übernahm im Wesentlichen die fünf Bewusstseinsstrukturen von Gebser, verwandelte sie in fünf Stufen des Bewusstseins und erweiterte die Karte um einige zusätzliche Kategorien der »dritten Rangordnung«, die im »Non-Dualen« gipfeln und die er aus buddhistischen Referenzsystemen übernommen hatte. Diese neue Karte, eine Mélange aus westlichen und östlichen metaphysischen Kategorien, hat auch in christlichen Kreisen einen weitreichenden Einfluss gewonnen, und zwar hauptsächlich aufgrund ihres bedeutenden Stellenwerts in den Lehren von Thomas Keating [/] und Richard Rohr [/].
Die wesentliche Einheit dessen, worauf Gebser und Teilhard aus waren, ist in diesem Prozess allerdings leicht verfälscht worden – und dies insbesondere im Bereich des Personalen. In diesem neuen quasi-buddhistischen Modell wird das Personale einer unreiferen Ebene der menschlichen Entwicklung zugeordnet und setzt sich ganz eindeutig nicht in die höheren Evolutionsstufen fort. Wenn die »dritte Rangordnung« beim Integralen und darüber hinaus erreicht wird, scheidet das Personale zugunsten eines unpersönlichen oder bestenfalls transpersonalen Universums aus. Und schließlich wird, in einem gleich zweifachen Missverständnis, Teilhards hartnäckige Treue zum Personalen als »schlagenden Beweis« gegen ihn verwendet, dass er sich eigentlich auf einer niedrigeren Ebene des evolutionären Bewusstseins bewege, weit unterhalb des Übernatürlichen, auf das er so leidenschaftlich verweist.
Diesem arroganten Irrtum möchte ich entgegentreten. Teilhard arbeitet keinesfalls auf einer niedrigeren Bewusstseinsebene. Vielmehr legt er eine typisch westliche und enstatische Sicht der höchsten Zustände eines verwirklichten Bewusstseins dar, ein Verständnis, das Gebser unabhängig von ihm bestätigte und das ein radikal anderes Szenario für das letztendliche Ziel der evolutionären Reise nahelegt. Ich will hier einen Überblick darüber geben, was Teilhard mit dem »Personalen« meinte, und über die Grundlage, auf der er seine Behauptung aufstellt, dass die höheren Reiche des Bewusstseins notwendigerweise personaler, und nicht weniger personal werden müssen. Und ich möchte einige der bemerkenswert fruchtbaren Überschneidungen von Teilhards Überpersönlichem und Gebsers Integralem aufzeigen, insbesondere im Hinblick auf »Verstärkung«, »Diaphanie« und jene »höchste Steigerung harmonischer Komplexität«.
Lassen Sie uns untersuchen, inwieweit sich ihre beiden komplementären Visionen gegenseitig befördern und uns den Weg weisen zu einem erneuerten Vertrauen in die Reife und Tiefe des westlichen Verständnisses von Vereinigung.
»Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person.«
Teilhards Verständnis des Personalen
Im Wesentlichen sind es vier Punkte, die Teilhards Sicht des Personalen ausmachen.
Erster Punkt: Ein Individuum und eine Person sind nicht dasselbe. Zusammen mit Thomas Merton, der grundsätzlich in die gleiche Richtung dachte, gehörte Teilhard zu den Ersten, die diese Unterscheidung machten. Ein Individuum lebt eigentlich für sich allein; sie oder er lebt in Abgeschiedenheit oder sogar in impliziter Konkurrenz zum Ganzen. Eine Person wirkt innerhalb eines Beziehungsfeldes, als ein bewusster Teil dieses Ganzen.
Gemäß der Gebserschen Strukturierung gehört ein Individuum zur mentalen Bewusstseinsstruktur und ist mit seinem starken zentrifugalen Egoismus eigentlich ein Aushängeschild für diese Struktur. Eine Person ist ein Repräsentant und tatsächlich sogar die funktionale Einheit der nächsten Struktur, der integralen. Diese Person bezieht das Gefühl ihrer Selbstheit von einem weiträumigeren und durchdringenderen Ort her und leitet das Gefühl ihrer persönlichen Identität vom Ganzen ab. Teilhard erklärt:
Sein [des Egoismus] einziger Irrtum, der ihn aber zu einem völligen Verfehlen des richtigen Weges verführt, besteht in der Verwechslung von Individualität und Persönlichkeit. Wenn sich das Element so weit wie möglich von den andern zu trennen sucht, so individualisiert es sich wohl, doch es sinkt und sucht die Welt mit sich in die Vielheit, in die Materie hinabzureißen. In Wirklichkeit macht es sich geringer und richtet sich zugrunde. Um völlig wir selbst zu sein, müssen wir in der entgegengesetzten Richtung voranschreiten, im Sinn einer Konvergenz mit allen übrigen, zum andern hin. Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person. Doch diese können wir, da die Evolution die Struktur der Welt bestimmt, nur in der Vereinigung finden.[5]
Ist dies nicht eine erschütternde Vorahnung der evolutionären Schwelle, an der sich unsere Welt heute befindet? Wir hängen zwischen zwei evolutionären Zeitaltern – und versuchen zu entscheiden, welchen Weg wir einschlagen sollen. Jedenfalls stellt die Person eine höhere Evolutionsstufe auf der Reise dar. Teilhard ahnte dies instinktiv; Gebser lieferte die Details dazu.
Zweiter Punkt: Aber weshalb repräsentiert die Person eine höhere evolutionäre Stufe? Welche empirische Bestätigung stützt diese Annahme? Teilhards außergewöhnliche Haupteinsicht lautet diesbezüglich: Das Bewusstsein kann sich nur innerhalb eines relationalen Feldes manifestieren und dehnt sich tatsächlich gemeinsam mit diesem relationalen Feld aus. Während Bewusstsein an sich zum uranfänglichen »Stoff des Universums« selbst gehören mag – eine »äußerst dünne« […] »biologische Schicht«, so Teilhard [6] –, teilt es uranfänglich dieselbe Eigenschaft extremer Atomizität, welche ursprünglich all den anderen »Stoff« dieses »Gewimmels von Partikeln« kennzeichnet, und manifestiert sich demzufolge in einer zu geringen Dosierung, um wirklich wahrnehmbar zu sein. Erst wenn sich Materie zu größeren Einheiten – oder »Anordnungen« – anhäuft, verstärkt sich das Bewusstsein genug, um auf dem Radar aufzutauchen. Wenn Evolution einen Anstieg des Bewusstseins bedeutet, ist sie notwendigerweise auch ein Anstieg der Komplexität.
Ich liebe die diesbezügliche Erklärung der franziskanischen Theologin Ilia Delio [/]: »Im Grunde genommen ist Bewusstsein der Informationsfluss über komplexe Beziehungsebenen hinweg. Je größer der Grad an Beziehung, desto höher die Ebenen des Informationsflusses«.[7] In anderen Worten: Je mehr Beziehung, desto mehr Komplexität und desto stärker der Bewusstseinsfluss. Für Teilhard sind Bewusstsein, Beziehung und das Personale ein untrennbarer Dreiklang. Jedes impliziert das andere, keines kann unabhängig von den anderen aufrechterhalten werden.
Dritter Punkt: Ist dies einmal verstanden, wird Teilhards Schlussfolgerung offensichtlich: Auf den höheren Bewusstseinsstufen muss die Welt persönlicher werden, und nicht etwa weniger – weil Bewusstsein und Relationalität fest miteinander zusammenhängen, ebenso wie Relationalität untrennbar verbunden ist mit Vertrautheit, einem Empfinden der Zugehörigkeit zum Ganzen.
Ein anderer Name für dieses Ganze ist »Gott«, oder Bewusstsein im Beziehungsmodus, dem einzigen Modus, in welchem sich Bewusstsein tatsächlich manifestieren kann. Genau das meinte Teilhard, als er im vorgerückten Alter seinen Freund, den Jesuiten Pierre LeRoy mit den Worten beeindruckte »Gott ist eine Person, Gott ist eine Person!« Er sprach nicht von einem kleinen alten Mann im Himmel, der eine kindliche oder magische Bewusstseinsebene widerspiegelt, sondern davon, dass das Universum, die sichtbare Manifestation von Gottes innerster Natur, nur persönlich sein kann, und dass sein Punkt der ultimativen Verwandlung nur »innerhalb der Sphäre der Person« stattfinden kann.
Gott ist kein »Es«, eine unpersönliche energetische Kraft, die befürchtet oder manipuliert werden muss. Gott ist Du, eine lebendige und intelligente Liebe, die sich als verbindende Kraft in der ganzen Schöpfung zu manifestieren sucht, um alle Dinge in Liebe zu ihrer Fülle zu bringen.
Vierter Punkt: Und genau dies ist der eigentliche Quell der Teilhardschen Hoffnung. Gott ist kein »Es«, eine unpersönliche energetische Kraft, die befürchtet oder manipuliert werden muss. Gott ist Du, eine lebendige und intelligente Liebe, die sich als verbindende Kraft in der ganzen Schöpfung zu manifestieren sucht, um alle Dinge in Liebe zu ihrer Fülle zu bringen. Gebsers Begriff dafür lautet »ursprüngliche Präsenz«. Sie liegt außerhalb der Zeit, doch tritt sie immer von dem her in die Zeit ein, was wir fälschlicherweise »die Zukunft« nennen. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um die auf einer Zeitachse liegende Zukunft, sondern um die Fülle, die im Hier und Jetzt in unsere Sphäre eintritt, weil sie sowohl aktiv als auch holografisch in uns gegenwärtig ist als unsere eigene Saat, als Alpha und Omega in eins zusammengerollt. Sie springt als eine vereinende und neu belebende Präsenz in die Gegenwart auf, und sie ist ausschließlich in der Sphäre der Person anzutreffen.
Die großartige Erkenntnis Teilhards lautet, dass das Unpersonale »wesentlich unliebenswert« ist.[8] Erst wenn uns der evolutionäre Impuls in einem Gesicht, in einem Herzen begegnet, berührt er auch diese Tiefe in uns und führt uns entlang eines evolutionären Weges, der nur von der Liebe navigiert werden kann. Die Liebe ist die richtungsweisende Energie der Evolution und führt zum Bewusstsein, dessen Höhepunkt nichts anderes ist als die vollständige Entpuppung der Liebe. Der wesentliche Modus der Liebe ist persönlich, und wenn wir versuchen, das Persönliche einzustellen, kommen die Räder der Evolution knirschend zum Stillstand. Diesem Modus haftet nichts Kindisches oder Unreifes an; es ist ihm ein Leichtes, die Übertragung auf die integrale Ebene des Bewusstseins zu überstehen.
Teilhard sprach darüber nicht im Sinne einer intellektuellen Theorie, sondern aus der direkten Erfahrung, davon betroffen worden zu sein. Im letzten Teil von Der Mensch im Kosmos räumt er ein, dass er sich niemals eine so fantastische Hypothese über eine endgültige Bewusstseinskonvergenz am Omega-Punkt hätte ausdenken können, wenn er diese Konvergenz nicht bereits lebendig und in der Welt wirkend gespürt hätte. In seinem letzten Essay, Das Herz der Materie und das Christische in der Evolution, wiederholt er diesen Punkt sogar noch kraftvoller mit seiner wunderbaren »Doppelhelix«-Vision Christi: sowohl als strahlende Präsenz, die er in seinem eigenen Herzen viszeral erfuhr, wie auch als fernen Punkt am Horizont, der die Evolution zu ihrer Vollendung in Liebe leitet.
Der Grundstein der Teilhardschen Hoffnung und der Teilhardschen Evolutionstheorie liegt genau in dieser direkten, herzverankerten Begegnung mit dem allgegenwärtigen Göttlichen Du, das »von innen heraus bohrt und vom Jenseits her« zu einer endgültigen Vollendung »zieht«, deren ultimatives Ergebnis nie in Frage gestellt wurde, weil es bereits in unseren Herzen geschrieben steht.
Verstärkung, Diaphanie und eine höchste Steigerung harmonischer Komplexität
Diesen Vortrag beschließen möchte ich mit einem Wort, das für einige von Ihnen neu im Vokabular sein dürfte. Dieses Wort lautet »Enstase«, das dazugehörige Adjektiv »enstatisch«. Es bedeutet das Gegenteil von »Ekstase«, die ihren Ursprung in ex-stasis hat und meint, dass wir »außer uns geraten«.
Die Theotókos: heilige Jungfrau mit dem Kind. Mosaik aus der Apsis der Hagia Sophia in Istanbul, fertiggestellt 867. Quelle: Wkimedia Commons
Eine ekstatische Erfahrung zieht uns aus uns heraus, in der Regel hin zu Glückseligkeit oder mystischer Vereinigung. Enstase hingegen führt zu einem festeren Stehen in sich selbst, eingerollt und gegenwärtig, mit einer wachsenden Geräumigkeit, einer tiefer verkörperten Fähigkeit, das Ganze zu tragen. Enstase ist die Energie, die uns im alttestamentlichen Bild des brennenden Dornbusches begegnet, der nicht verzehrt wird – er birgt seine eigene Flamme, sodass Busch und Flamme sich gegenseitig aufbauschen und Zeugnis voneinander ablegen. Wir erkennen sie auch in der bedeutungsvollen Ikone der Theotókos, der Gottesgebärerin – in welcher Gott im endlichen Schoß Marias leuchtend und vollkommen enthalten ist –, in der Transfiguration sowie in der Menschwerdung selbst. Denn was ist das mystische Herz der Inkarnation anderes als die Erkenntnis, dass die Fülle der Göttlichkeit in der Endlichkeit des menschlichen Fleisches ihren Wohnsitz genommen hat?
In der enstatischen Modalität löst sich der Tropfen nicht im Ozean auf; stattdessen wird der Ozean im Tropfen vollständig gegenwärtig, holografisch präsent. Die unermessliche Weite lässt sich in einem begrenzten Gefäß nieder und findet sich dort auf mysteriöse Weise vergrößert.
Teilhards evolutionäre Vision ist zutiefst enstatisch. Sein ganzes Leben lang kämpfte er gegen die Ekstase an oder gegen den Sirenenruf, wie er ihn verstand, der asiatischen Traditionen, sich im Einen aufzulösen oder die Vereinigung am Punkt der undifferenzierten Einfachheit zu finden. Sein Omega-Punkt ist kein Sich-Auflösen in einem uranfänglichen »Grundleuchten«, sondern, so wie seine »höchste Steigerung harmonischer Komplexität«, ein auf seinen höchsten Intensitätspunkt komprimierter Ausdruck.
In dieser Überzeugung stimmt Jean Gebser vollkommen mit ihm überein. Für Gebser bedeutet »integral« ausdrücklich »keine Bewusstseinserweiterung, sondern […] eine Bewusstseinsintensivierung«.[9] Es bringt eine wachsende Tiefe und Dimensionalität mit sich, die – wie in Ilia Delios Metapher – »einen Informationsfluss über [zunehmend] komplexe Beziehungsebenen hinweg« ermöglicht. Gebsers Wortschatz umfasst viele der Wörter, die auch Teilhard benutzte: Diaphanie, Transparenz, Dimensionalität, Differenzierung, Konzentration. Wenn sie miteinander gelesen werden, verstärken sie sich gegenseitig, erweitern den Bedeutungsumfang des jeweils anderen und weisen gemeinsam auf ein charakteristisch westliches und enstatisches Verständnis höherer Bewusstseinszustände hin, welches dann seinerseits den Interpretationsschlüssel für ihre beiden Werke liefert. Gleichzeitig versöhnt uns dieser an sich enstatische Unterbau, wenn er erst einmal als solcher erkannt ist, mit unserer eigenen Religions- und Andachtstradition und gibt uns die Kraft, uns der Welt mit neuer Verpflichtung und neuer Hoffnung zuwenden.
Ich glaube, es ist nun an der Zeit, dass integrale Entwicklungstheoretiker, Phänomenologen und Anhängerinnen und Anhänger Teilhards ihre Kräfte bündeln und mit diesem enstatischen Modell bewusst zu arbeiten beginnen. Ich denke, es birgt nicht bloß für die Teilhard-Gesellschaften die Saat zur Erneuerung und Neuausrichtung, sondern auch für den größeren Rahmen der westlichen spirituellen Tradition, nun, da ihr ihr eigenes intuitives Genie allmählich zu dämmern beginnt.
Diskussion
Auch die Trinität ist eine Ikone dieses relationalen Beziehungsfeldes
Frage: Die meisten von uns sind als Christen und mit der Lehre der Dreifaltigkeit [/] aufgewachsen. Mir scheint, aus dem, was Sie vorgetragen haben, spricht auch dieser Aspekt. Können Sie uns die Verbindung zur Dreifaltigkeit erläutern?
Es waren der Weg und die enstatische Natur des aufgehenden Bewusstseins, welche das Christentum ins Leben gerufen haben, und nicht umgekehrt.
Cynthia Bourgeault: Sie haben vollkommen recht. Ihre Frage zeigt, was ich damit meine, wenn ich sage, dass sich diese Dinge gegenseitig verstärken. Sobald wir erkennen, dass die Trinität ebenfalls eine Ikone dieses relationalen oder Beziehungsfeldes ist, können wir aufhören, über die Dreifaltigkeit bloß theologisch oder aber sentimental zu sprechen, und stattdessen anfangen, sie als das intuitive Mandala des Christentums für das Bewusstsein, das Personale und das Relationale zu verstehen. Und dann schaut sie nicht länger aus wie eine närrische, doktrinäre Verschrobenheit, die dem Christentum von einigen Theologen im vierten Jahrhundert übergestülpt wurde. Vielmehr gleicht sie dann einer organischen Neuverbindung mit dem enstatischen Pfad, auf dem das Christentum schon immer unterwegs war.
Ich glaube, es waren der Weg und die enstatische Natur des aufgehenden Bewusstseins, welche das Christentum tatsächlich ins Leben gerufen haben, und nicht umgekehrt. Sie arbeiten also bestens zusammen, und sie schaukeln einander hoch. Deshalb ist es mir wichtig, ganz neue Verbindungsfenster aufzustoßen, damit wir zurückblicken und sagen können: Vielleicht lag das Problem einfach darin, dass wir versucht haben, das Christentum auf einer allzu eng(stirnig)en gelehrten, scholastischen oder theologischen Grundlage zu erklären. Wenn wir es neu verbinden mit der Wissenschaft, mit einem Verständnis der Archetypen und mit der Entwicklungstheorie, beginnen sich viele Punkte zu erhellen und deutlicher hervorzutreten.
Das Imaginative ergießt sich ins reifer werdende enstatische Bewusstsein
Frage: Wo sehen Sie die Verbindung zwischen dem enstatischen Reich und dem Reich des Imaginativen, wie Sie es in Ihrem Buch Das Auge des Herzens [/] beschrieben haben?
Einer der prägnantesten Ausdrücke dieser enstatischen Tendenz findet sich in dem islamischen Hadith: »Ich war ein verborgener Schatz, und Ich liebte es erkannt zu werden…«
Cynthia Bourgeault: Das Enstatische ist weniger ein Reich als vielmehr eine Organisationsart der Wirklichkeit, eine Ausrichtung. Die großen metaphysischen Traditionen der Welt sind entweder grundsätzlich ekstatischer oder enstatischer Natur, und der Großteil von ihnen ist tatsächlich insofern ekstatisch, als dass sie in Richtung des Ganzen, des Einen, weisen. Sie beschreiben dieses als eine Rückkehr oder ein Auflösen in etwa Unbegrenztes, das jenseits von Form liegt. Sie halten Form im Wesentlichen für eine Vermittlerin und manchmal für ein mühseliges Stadium auf der Reise in Richtung Ganzheit. Die enstatischen [Traditionen] gehen in die Gegenrichtung.
Einer der prägnantesten und stärksten Ausdrücke dieser enstatischen Tendenz findet sich in dem islamischen Hadith qudsi (einer außerkoranischen Überlieferung, in welcher Gott durch den Mund des Propheten spricht): »Ich war ein verborgener Schatz, und Ich liebte es erkannt zu werden; also erschuf Ich die sichtbaren und die unsichtbaren Welten, auf dass Ich erkannt werde.« Die darin liegende tiefe Einsicht lautet also, mit anderen Worten, dass, damit Gott oder das Bewusstsein erfahren werden kann, es eine Schöpfung geben muss, die sich mit der Göttlichen Transparenz, mit dem Göttlichen Herzen, zusammen ausdehnt. Die Enstase bewegt sich also in diese entgegengesetzte Richtung.
Ich glaube, ein erster wichtiger Schritt besteht darin, die enstatische Richtung der großen westlichen Traditionen anzuerkennen, sicherlich, was das Christentums und den Islam betrifft und, wie ich denke, zu großen Teilen auch das Judentum. Wenn Sie dies sehen, finden sich viele Verknüpfungspunkte zu meinen Arbeiten über das Imaginative, denn das Imaginative repräsentiert diese nächste Stufe der Verstärkung.
Wenn Sie nachlesen, was ich über die imaginative Kausalität [/] geschrieben habe, werden Sie sehen, dass diese bedeutend präziser, schneller und umfassender funktioniert als die lineare mentale Welt, in der wir heute leben. Das Imaginative bewegt sich unverzüglich. Und ich habe auch einige Prinzipien dargelegt, die tatsächlich mit dem übereinstimmen, was Gebser als den Übergang in die integrale Struktur beschreibt, in der das Paradoxe und das Simultane stärker werden und die Zeit frei wird von der Art metronomischem Taktschlag, den wir hier verspüren, und zu einem Element auf der Leinwand des Künstlers mutiert. Es braucht also ein tieferes Bewusstsein, um dies alles zu fassen. Und genau dahinein ergießt sich das Imaginative. Es ergießt sich ins reifer werdende enstatische Bewusstsein.
Frage: Würden Sie sagen, das Personale, der Geist und der Omega-Punkt gleichen einander? Alle drei sind immer gegenwärtig, relational und ziehen die Evolution voran.
Cynthia Bourgeault: In Ihren Worten klingt das Konzept der Intertextualität an, das keinesfalls behauptet, Begriffe seien gleichwertig oder bedeuteten dasselbe. Vielmehr besagt es, Begriffe stünden miteinander in Konversation. Und zwischen ihnen fließt Strom. Ich würde sagen, die von Ihnen genannten drei Begriffe stehen eindeutig miteinander »im Gespräch«. Und wenn wir unseren Schwerpunkt bewusst in unser Herz – und damit tiefer – verlegen, können wir diese Konversation tatsächlich als eine Art Dynamik in unserem Körper spüren. Das zu bemerken, ist wirklich aufregend. Hier werden die Einsichten und die mystische Vision Teilhards lebendig und widerhallen als eine dynamische Kraft in der gesamten Schöpfung. Und ich glaube, wir wiederholen dies in jeder aufeinanderfolgenden Schicht des Ökosystems der Schöpfung.
Wenn wir einmal gelernt haben, vollständig in unserem Körper zu wohnen, wird es leichter, für andere da zu sein, ihr Wesen oder ihr Dasein einfach vollkommen anzuerkennen und zu ehren.
Alles muss in der Praxis beginnen
Frage: Wie integrieren wir diese Vision, besonders die der Enstase, in unseren Alltag und in unsere Beziehungen mit anderen Menschen. Wie können wir sie verwirklichen und leben?
Cynthia Bourgeault: Um ehrlich zu sein, muss alles in der Praxis beginnen. Und zwar mit dem Üben, in unserem eigenen Körper zu sein. Viele von uns verbringen die meiste Zeit in ihrem Kopf, in ihrem Verstand, vom Hals an aufwärts. Und uns ist nicht einmal bewusst, dass wir das tun. Wenn wir zwischendurch mal in unser Herz gelangen, setzen wir das mit Gefühlen gleich, worum es in erster Linie gar nicht geht, und wir verlieren die anderen Teile von uns aus den Augen, werden zu sentimental und sind nicht mehr geerdet. Also sollten wir mit einigen simplen Übungen beginnen.
Die einfachste enstatische Übung besteht darin, sich gerade hinzustellen. Falls Sie dies können, stehen Sie jetzt bitte auf oder setzen Sie sich so gerade wie möglich hin. Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden. Spüren Sie wie eine Lebenskraft durch Ihre Haut fließt, durch Ihren Körper, durch Ihre Kapillargefäße, und sagen Sie dann mit Ihrem ganzen Wesen: »Ich bin.« Versuchen Sie das jeden Tag ein bisschen.
Der Autor der Wolke des Nichtwissens sagt: »Denke nicht daran, was du bist, sondern dass du bist«,[10] dass dieselben Energien, die durch die Sonne, die Sterne und den Kosmos fließen, auch durch Sie fließen und dass Sie das Leben sind. Dies ist unser unbestreitbares Geschenk, egal, ob wir schlau oder dumm sind, ob es gerade gut für uns läuft oder wir gerade am Boden sind. Wir sind!
Wenn wir einmal gelernt haben, vollständig in unserem Körper zu wohnen, wird es leichter, für andere da zu sein, ihr Wesen oder ihr Dasein einfach vollkommen anzuerkennen und zu ehren – nicht mit Worten, sondern wortlos gegenwärtig zu sein, unsere Aufmerksamkeit in unsere Begegnungen einzubringen, in unsere Begegnungen mit dem Leben, nicht auf eine sentimentale, sondern auf eine verkörperte Weise. Und wenn dies geschieht, werden wir tatsächlich zu einem Kraftfeld in uns selbst. Wir werden, auf eine sehr feine Art, zu einem singulären Attraktor. Und dann können wir und andere uns einander annähern.
Das hat nichts zu tun mit Vorlesungsplänen und gemeinsam geteilten Visionen. So kann ich mich beispielsweise von Wesen zu Wesen sogar mit Menschen verbinden, die radikal andere politische Ansichten haben als ich (eine Kategorie, unter die viele der Leute in meiner Heimatstadt fallen würden). Aber ein menschliches Wesen zu sein, ist wahrlich eine geteilte Kraft.
Gebser schreibt sehr schön darüber in seiner Darlegung der magischen Bewusstseinsstrukturen, die in uns noch immer lebendig sind, ihre Form verändern, einander durchdringen und diese Lebensenergie, diesen élan, wie Teilhard ihn nennt, aus dem Leben ziehen. Wenn wir also schließlich wir selbst werden, werden wir zu Magneten dafür. Darin liegt für mich die wahre Hoffnung.
Wenn wir beginnen, Teilhard weitrechender zu verknüpfen, dämmert uns langsam, welch großen Schatz wir an ihm haben, ja welchen Weltschatz.
Frage: Empfiehlt Teilhard selbst irgendwelche Übungen oder Wege zur Verwirklichung der Enstase?
Cynthia Bourgeault: Bis zu seinem letzten Lebensjahr war er draußen auf seinen paläontologischen Expeditionen unterwegs, mit seinen Händen ständig im Erdboden. Seine Wissenschaft war ihm eine Übung, die ihn sehr, sehr erdete. Und die andere Übung, die ihm große Bodenständigkeit verlieh, war, so glaube ich, seine mystische Hingabe an das Herz Christi, das er bereits auf den Knien seiner Mutter kennengelernt hatte, die heilige Seite seines Lebens, zu der sich etwas in ihm hingezogen fühlte, die leuchtende Präsenz Christi. Wir alle kennen die kleine Ikone, die er bis ans Ende seiner Tage auf seinem Schreibtisch stehen hatte, jenes funkelnd strahlende Herz Christi.
Und Teilhard war in seinem Körper, glaube ich; vielleicht nicht ununterbrochen, aber zum guten und tiefsten Teil seiner Zeiten theologischer und mystischer Einsicht. Und ich denke, diese in ihm verkörperten instinktiven Rhythmen bildeten einen schönen Kontrapunkt und eine Erdung für seine tiefe jesuitische Spiritualität. Sie hielten seine Füße in einer wundervollen Weise fest auf dem Erdboden.
Eines meiner tieferen Motive, das Spielfeld zu Beginn meines Referats weit zu öffnen, bestand darin zu verdeutlichen, dass in den intellektuellen, den interspirituellen und den entwicklungstheoretischen Bewegungen heutzutage viel Strom fließt und dass, falls wir Teilhard darin korrekt verorten und einordnen können, dies seinem visionären Verständnis viel Energie und Glaubwürdigkeit – eine sehr weitläufige Glaubwürdigkeit – verschaffen kann.
Ein Großteil der wirklich sehr guten Forschung zu Teilhard verläuft bis heute hauptsächlich in scholastischen, jesuitischen und christlich theologischen Kategorien. Wenn wir nun beginnen, ihn weitreichender zu verknüpfen, mit dem Taoismus, mit der modernen Wissenschaft, mit Gebser, mit der Entwicklungstheorie des Bewusstseins, dämmert uns langsam, welch großen Schatz wir an ihm haben, ja welchen Weltschatz.
Sogar die Eucharistie ist letztlich ›bloß‹ ein Fingerzeig auf den »Mond«, und der »Mond« ist das vollständige Herz Gottes, das für uns hingegeben wurde.
Teilhards »Messe über die Welt« ist tatsächlich eine imaginative Messe
Frage: Kann Teilhards »Messe über die Welt« [11] als eine wahre Messe dienen, zusammen mit den Gebeten und in Teilhards Verständnis des »Dies ist mein Leib. Dies ist mein Blut.«?
Cynthia Bourgeault: Eine interessante Frage, aber mir ist nicht ganz klar, was Sie mit »eine wahre Messe« meinen. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass wir in unserem eigenen Netzwerk von Weisheitsschulen die »Messe über die Welt« viele, viele Male gefeiert haben, praktisch in allen Ecken der Erde (die Antarktik vielleicht ausgenommen), und zwar als eigenständige Liturgie, wobei wir die Eucharistie auf die imaginative Stufe transponierten. Einmal habe ich sogar damit experimentiert, den Wortlaut von Teilhards Messe als Konsekrationsgebet in die eigentliche Liturgie der Eucharistie einzubauen (in der Episkopalkirche können Sie sich so etwas erlauben, außer an der sonntäglichen Hauptmesse).
Aber ehrlich gesagt: Es hat nicht sehr gut funktioniert, weil Teilhards »Messe über die Welt« tatsächlich eine imaginative Messe ist. Er meint es so. Dies ist mein Leib; die Welt ist mein Körper. Das Leiden ist mein Blut. Und wenn wir auf diese nächste Bewusstseinsstufe gelangen – und dies sage ich in tiefstem und vollkommenem Respekt für die physische Eucharistie –, dann gibt etwas nach wie der Tau vor dem Sonnenlicht. Die Symbole weichen und enthüllen die nackte Wirklichkeit der Sache selbst, das, worauf dieser Übergang hinwies.
Ich sage dies mit größter Vorsicht, aber ich meine es: Sogar die Eucharistie ist letztlich ›bloß‹ ein Fingerzeig auf den »Mond«, und der »Mond« ist das vollständige Herz Gottes, das für uns hingegeben wurde. Auf einer anderen Bewusstseinsebene können wir dies unmittelbar verstehen. In den besseren Zelebrierungen der »Messe über die Welt« spüren wir deren Worte in unserem Herzen. Es ist fast so, als würde die mystische Tiefe, aus der heraus Teilhard die Dinge sah, uns als eine eigenständige Energie berühren und, was immer wir sind, transsubstantiieren und in diesen mystischen Leib verwandeln.
Teilhard entschied sich zu horrenden persönlichen Kosten zur Treue gegenüber seinen Gelübden, seinem Gehorsam, seiner Priesterweihe und somit dazu, deren dunkle Seite anzunehmen.
Die dunkle Nacht ist definitiv Teil der Gleichung
Frage: Wie verstehen Sie die Deprivation oder den Glaubensverlust, die dunkle Nacht, in diesem Prozess der Personifizierung?
Cynthia Bourgeault: Die dunkle Nacht [/] ist definitiv Teil der Gleichung. Ich denke, dies ist eine der Perioden, die wir mit dem enstatischen Modell besser durchzustehen vermögen, denn das ekstatische Modell tendiert zu spirituellen Umgehungen, dazu, dass höhere Zustände uns aus den niedrigeren herausholen, dazu, dass wir die Dunkelheit zugunsten des Lichts beiseite wischen.
Enstase bedeutet, dass wir mittendrin stehen müssen, bis wir jenen Ort in uns finden, an dem wir mit Psalm 139 sagen können. »Spräche ich: ›Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein‹, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.«
Teilhard entschied sich zu horrenden persönlichen Kosten zur Treue gegenüber seinen Gelübden, seinem Gehorsam, seiner Priesterweihe und somit dazu, deren dunkle Seite anzunehmen, und er verbrachte einen Großteil seiner letzten Jahre in tiefer Depression und nervlicher Erschöpfung. Er nahm es an. In der integralen und in der enstatischen Lebensweise erkennen wir, dass dies alles integriert werden muss und integriert werden kann.
Meine Vermutung geht dahin, dass wir genau auf dieser enstatischen Route, die tief hinabführt in die Dunkelheit, schließlich Jesus am Kreuz begegnen und verstehen werden, worum es bei der Passion ging und weshalb es keine andere Art gab, diesen Planeten zu erretten, als dieses äußerste Durchstehen der Dunkelheit des Selbsts. Und zwar gehen wir diesen Weg nicht allein, sondern in kollektiver Solidarität mit dem schwierigen Verlauf, den die Evolution nehmen musste, um zu ihrer kritischen Vollendung zu gelangen.
Frage: Wie tanzen die Enstase und die Ekstase miteinander?
Cynthia Bourgeault: Sie tanzen wundervoll. Ich liebe diese Frage, denn etwas, was wir in der mentalen Struktur des Bewusstseins tun, ist, dass wir Dinge in polare Gegensätze trennen, die tatsächlich bereits als Polaritäten existieren. Enstase und Ekstase waren schon immer Polaritäten und bleiben es auch heute.
Wenn wir uns das letzte Ende von Teilhards verzückter Schlussvision betrachten,[12] stellt er sich vor, wie die letzten Seligen einen allerletzten ekstatischen Ausbruch durchmachen. Und so finden sich in ihm am Ende Enstase und Ekstase, das Unendliche und »die höchste Steigerung harmonischer Komplexität«, gleichauf. Ich glaube, dass Menschen sich zeitweilig in der einen oder in der anderen Richtung zuhause fühlen können. Aber wenn wir in unserem Inneren beide umarmen – also die ganze Polarität –, vermögen wir ein breiteres Spektrum abzuschreiten, eine vollständigere menschliche Ganzheit.
Frage: Der nicaraguanische Dichter und Priester Ernesto Cardenal [/], ein Anhänger Teilhards, hat das mystische Gedicht »Kosmischer Gesang« [/] geschrieben, das die lateinamerikanischen Folterkammern mit dem enstatischen Gefühl für die Schönheit des Universums zusammenbringt.
Cynthia Bourgeault: Ja, sehr gut. Danke, dass Sie diese Verbindung aufbringen. Damit sind Sie auf der genau richtigen Spur. Es ist eindrücklich, wie diese beiden letzten Fragen und Kommentare dieses Thema aufgeworfen haben: das der Notwendigkeit des Leidens und der krassen, gnadenlosen Realität der menschlichen Grausamkeit und Entartung und Unwissenheit als Teil dessen, was im Ganzen, das heißt im Herzen Gottes, ebenfalls existiert.
Wir alle haben erlebt, wie die Finsternis, wenn es wirklich sehr, sehr dunkel wird, uns überwältigt. Ein einzelner Mensch kann gegen die gesammelten Kräfte der Dunkelheit nichts ausrichten.
Der Weg der bewussten Entwicklung verlangt, dass wir durch diese Dunkelheit gehen
Frage: Wie können wir kreativ und gläubig inmitten dieser Dunkelheit stehen und dennoch das große Werk des Fortschreitens in Richtung Personifizierung und Omega-Punkt unternehmen?
Cynthia Bourgeault: Grundsätzlich ist es nur möglich, weil Christus an unserer Seite ist. So, wie wir in der Dunkelheit stehen, geht es ein bisschen über das persönliche Vermögen von jeder und jedem von uns hinaus. Wir alle haben erlebt, wie die Finsternis, wenn es wirklich sehr, sehr dunkel wird, uns überwältigt. Ein einzelner Mensch kann gegen die gesammelten Kräfte der Dunkelheit nichts ausrichten.
Und aus genau dem Grund, würde ich sagen, musste das Opfer von Christi irdischer Mission am Kreuz vollbracht werden. Er konnte keinen Umweg gehen. Denn der Weg der Entwicklung, der Weg der bewussten Entwicklung, zumindest so, wie wir ihn im Westen verstehen, verlangt von uns, dass wir durch diese und in dieser Dunkelheit gehen und sie mit uns tragen. Nicht notwendigerweise, um sie ins Licht zu bringen, das wäre dann ein Happy End, aber um die ganze Sache als etwas Ganzes zu akzeptieren. Und so akzeptierte er, indem er an unserer Seite steht – insbesondere in jener Passage, die wir »die Höllenfahrt Christi« nennen –, vollkommen die Bedingungen auf unserem Planeten und machte sein Herz universell.
Und, um Teilhards Metapher noch etwas weiter zu strapazieren: Christus ist nicht nur der Punkt, der uns zum Omega voranzieht, sondern er ist auch das Herz, das uns von innen her in Richtung Omega drängt. Und er bringt unsere Unzulänglichkeit in »Übereinstimmung« mit seiner Präsenz, ohne die wir uns viel zu sehr fürchten würden.
Einer der Gründe, weshalb ich seit Langem versuche, einige der klassischen Lehren unserer christlichen Tradition »zurückzufordern«, ist der, dass ich denke, wir haben das große Ass noch im Ärmel, das in der Teilhardschen und christischen Erkenntnis liegt, dass Christus nicht bloß »ein Gott dort oben im Himmel« ist, den es anzubeten und zu theologisieren gilt, sondern eine echte evolutionäre Kraft, die zu einer persönlichen Grundwahrheit unseres Daseins werden kann und auf die wir zurückgreifen können, wenn wir uns Mächten gegenübergestellt sehen, die größer sind, als wir allein zu bewältigen vermögen.
© Cynthia Bourgeault 2021
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der American Teilhard Association
Anmerkungen
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[1] Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München: C.H. Beck, 5. Auflage, 2018, Seite 270. In Anlehnung an die berühmten Zeilen “This is the way the world will end…” aus T.S. Eliots Gedicht “The Hollow Men”.
[2] Pierre Teilhard de Chardin: Le coeur de la matière, Paris: Éditions du Seuil, 1976, Seite 108, deutsch: Das Herz der Materie und das Chistische in der Evolution, Mannheim: Patmos Verlag, 2014.
[3] Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, zwei Teile, Zürich: Chronos Verlag, 2015.
[4] Anmerkung der Übersetzer: Jean Gebser spricht bewusst nicht von »Epochen« oder »Phasen«, und übrigens auch nicht von »Stufen« oder »Ebenen«, sondern von »Strukturen«, weil sie nicht unbedingt zeitlich oder räumlich begrenzt sind und auch weiterhin ihre Wirkkraft entfalten können, nachdem eine neue Struktur aus einer älteren »herausmutiert« ist.
[5] Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Seiten 270–271.
[6] Ebenda, Seite 46.
[7] Ilia Delio [Hrsg.], Personal Transformation and a New Creation: The Spiritual Revolution of Beatrice Bruteau. Maryknoll, NY: Orbis Books, 2016, Seite 118.
[8] Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Seite 275.
[9] Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Seite 168.
[10] Willigis Jäger [Hrsg.]: Wolke des Nichtwissens – Der Klassiker der Kontemplation, Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag / Verlag Herder, 2012, Seite 173.
[11] Ein liturgischer Text, den Teilhard 1923 während einer wissenschaftlichen Expedition in der Ordos-Wüste in der Mongolei verfasste [A.d.Ü.].
[12] Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, Seiten 295–301.
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