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Cynthia Bourgeault

Aus Unvoreingenommenheit handeln

Unvoreingenommenheit im Handeln

Foto: Pexels / Charles Parker

Was löst das Wort »Unvoreingenommenheit« bei Ihnen aus? Für viele Menschen hat es einen schalen Beigeschmack, und tatsächlich kann es sich leicht klinisch oder distanziert an­hören. Doch Unvoreingenommenheit hat in der echten non-dualen Lehre die Bedeutung eines sehr hohen spirituellen Zustands, sagt Cynthia Bourgeault in ihrem neuen Buch Ganz und gar im Weder-noch: Leben in der Non-Dualität

Ausschnitte aus dem Buch Ganz und gar im Weder-noch: Leben in der Non-Dualität von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Ganz und gar im Weder-noch

s ist einzig die Unvoreingenommenheit, welche uns befähigt, mit Klarheit zu sehen und auf eine Art und Weise zu agieren, die das Spielfeld nicht auseinanderreißt. Dass die Vorstellung von Unvoreingenommenheit uns modern eingestellten Menschen solche Schwierigkeiten bereitet, hat damit zu tun, dass wir Leidenschaft und Identi­fika­tion in der Regel als die wesentlichen Beweggründe unseres Handelns betrachten.

Ausschnitte aus dem Buch Ganz und gar im Weder-noch: Leben in der Non-Dualität von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Ganz und gar im Weder-noch

Menschen, die leidenschaftlich ihre berufliche Laufbahn verfolgen, investieren hundert Arbeits­stunden pro Woche, wenn dies für ihre Karriere förderlich erscheint. Und Menschen, die sich mit Leidenschaft gegen den Klima­wandel einsetzen, für ihre Grundsätze und Über­zeu­gungen, ihre sportlichen Aktivitäten oder ihre Hobbys oder auch für ihre spirituelle Praxis, zeigen Energie und Engage­ment. Wir neigen normalerweise dazu, leidenschaftliche Men­schen als interessant und hoch motiviert wahrzunehmen.

 

Wo bleibt denn da die Leidenschaft?

Im Gegensatz dazu klingt alles, was mit Unvorein­genom­men­heit einhergeht, ein wenig trocken. Wo bleibt denn da die Leidenschaft? Wie können wir überhaupt wissen, ob es sich dabei nicht bloß um Apathie handelt?

Tja, genau das ist Unvoreingenommenheit: Apathie. Jeden­­falls gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs. Die Wurzel des Wortes finden wir im griechischen apatheia, was wörtlich übersetzt »Leidenschaftslosigkeit« oder »Unemp­find­lichkeit« meint. Die Kirchenväter schätzten diese Eigenschaft als überaus erstrebenswert und lobten sie als das alles überbietende Zeichen von Kontemplation, dem der Non-Dualität vergleichbarsten Äquivalent im frühen Chris­tentum. Die Lehre dieser Kirchenväter lautete: Man kann entweder leidenschaftlich oder kontemplativ sein – aber nicht beides.

All ihrer Intensität zum Trotz liegt in der Leidenschaft keine Freiheit. Wir handeln unter Zwang.

Leidenschaft galt in diesen fundamentalen christlichen Lehren tatsächlich als das größte Hindernis für unvorein­genommenes Sehen und Handeln, den Voraussetzungen für Non-Dualität. Leidenschaft verwies auf »feststeckende« Emotionen wie Wut, Zorn, Lust, Rache oder Neid, die viel Lärm und Wind machen, aber wie ein heruntergefallenes Stromkabel an unserer Selbstbezogenheit Funken schlagen. Das kirchenlateinische passio (von dem wir »Passion« her­leiten) ist eine Partizipform des Verbs »leiden«, das in seiner altertümlichen Verwendung auch »zulassen« meinte. Buch­stäb­lich besagt es: »Ich lasse es zu, dass auf mich Wirkung ausgeübt wird.« All ihrer Intensität zum Trotz liegt in der Leidenschaft keine Freiheit. Wir handeln unter Zwang.

Für unsere modernen Ohren ist dieser Klang des Wortes verloren gegangen. Wir setzen Leidenschaft eher einem élan vital gleich, einer schöpferischen Lebenskraft, die unsere Augen funkeln lässt und unser Leben mit Energie erfüllt. Aber echter élan vital kann niemals aus emotionalen Turbu­lenzen niederer Ordnung geschöpft werden. Wut beispielsweise mag ein Antrieb für Handlung sein, doch so gut wie nie für geschicktes Handeln.

 

Identifikation ist die Brutstätte, aus der sich othering entwickelt, das »Andersmachen« oder »Fremdmachen«.

Bei Identifikation haben wir es mit einer »gestörten Bindung« zu tun

Dasselbe lässt sich über den anderen zentralen Handlungs­motivator unserer Tage sagen, über die Identifikation. In Lektion 5 [dieses Übungsbuches] kam das Thema bereits zur Sprache. Bei der Identifikation haben wir es mit einer Form der Verhaftung oder des Gebundenseins zu tun (genauer gesagt mit einer »gestörten Bindung«), bei der wir uns anstrengen, das eigene Gefühl von Identität abzusichern oder zu untermauern, indem wir uns an etwas binden, uns an etwas anhaften: eine Gruppe, ein Wertesystem, eine Lehre, einen Persönlichkeits­typus oder irgendetwas oder irgendjemanden, von dem wir mit voller Inbrunst sagen können: »Das bin ich.« Diese Art der Identifikation generiert tatsächlich eine gewaltige An­triebs­kraft. Schauen Sie sich bloß ein gutes Fußballspiel, einen politischen Wahlkampf oder den komplett blockierenden Stillstand im US-Kongress an, und Sie werden die Kraft der Identifikation spüren. Aber letzten Endes ist es eine zerstörerische Kraft, weil sie polarisiert und allzu schnell in Gewalt ausartet. Identifikation ist die Brutstätte, aus der sich othering entwickelt, das »Andersmachen« oder »Fremdmachen«.

Solange wir glauben, Leidenschaft und Identifikation seien die einzig verfügbaren Triebfedern unseres Handelns, wird es für uns kein non-duales Erwachen geben, weder für den Ein­zelnen noch für die Gemeinschaft. Es sind diese Kräfte, die uns an das Selbstsein unseres Egos ketten und an das selbst­reflexive Bewusstsein, das dieses antreibt.

»Wenn die Verhaftung aufhört, Ihr Beweggrund zu sein, werden Ihre Handlungen zu Ausdrucksformen der göttlichen Liebe.«

Gibt es eine höhere Grundlage für unsere Motivation? Die gibt es tatsächlich, und in diesem Kurs haben wir sie, ohne sie explizit zu benennen, ständig umkreist. Der amerikanische Psychiater und Buchautor Gerald May nennt sie in einem einzigen prägnanten Satz in seinem Klassiker Will and Spirit: »Wenn die Verhaftung aufhört, Ihr Beweggrund zu sein, werden Ihre Handlungen zu Ausdrucksformen der göttlichen Liebe.«[1]

 

Eine höhere Intel­ligenz als Grundlage unseres Handelns

Kann es so einfach sein? Diese Möglichkeit mag Sie erst einmal verblüffen (bei mir war es so!), doch ist sie, vor dem Hintergrund des von uns in diesem Kurs erforschten Stoffs, tatsächlich nicht gar so weit hergeholt. Wenn wir von der Existenz eines höheren Bewusstseins überzeugt sind (und warum sonst sollten wir einen Kurs über Non-Dualität absolvieren?), räumen wir de facto ein, dass eine höhere Stufe von Intelligenz nicht nur möglich ist, sondern sich in dieser Welt auch tatsächlich manifestiert.

Darüber hinaus wissen wir aus dem Zeugnis von Mystikern und Mystikerinnen über die Jahrhunderte wie auch aus unserer persönlichen Erfahrung, dass sie auf einer weitaus höheren Ebene von Kohärenz und Bewusstheit operiert. Sie ist zudem nicht bloß eine Intelli­genz höherer Stufe, sondern ein eigenes Ordnungsprinzip an sich, welches alle Dinge zu dieser höheren Kohärenz hinzieht. Wenn wir letzten Endes, wie es bei Thomas Keating [/] der Fall war, einen direkten Geschmack davon erhalten, erkennen wir, wie süß und auf seltsame Weise vertraut und zart es ist. Ob wir es »göttliche Liebe«, »Einssein«, »vollkommenes Mitgefühl« oder »Gnade« nennen – es ist real und greifbar. Es ist der wahre élan vital: das vereinende, ganz machende Blut des Lebens, das durch die Adern dieser zerstückelten Welt fließt.

Indem wir in uns selbst immer mehr Raum schaffen – unseren Verstand klären, unseren Leidenschaften entsagen, unser egoisches Selbst als Schwerpunkt weichen lassen –, kommen wir zunehmend in einen synchronen Fluss mit dieser höheren Kohärenz. Mehr und mehr wird sie zu unserer eigenen Kohärenz und die Bewusstheit dieser höheren Intel­ligenz wird zur Grundlage unseres eigenen Handelns, bis wir schließlich an einen Punkt kommen, an dem wir noch nicht einmal mehr die Frage stellen: »Wo endet ›es‹ und wo beginne ›ich‹?« Es gibt nur noch ein einziges fließendes Einssein.

Und in diesem fließenden Einssein werden wir letzten Endes wahre Unvoreingenommenheit erfahren.

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Gerald G. May: Will and Spirit: A Contemplative Psychology, San Francisco: Harper & Row, 1983, Seite 238.