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Cynthia Bourgeault
»Wo die beiden Meere sich treffen«
Quelle: Pexels et al. Fotomontage: Chalice Verlag
Ausschnitte aus dem Buch Das Auge des Herzens: Eine spirituelle Reise ins Reich des Imaginativen von Cynthia Bourgeault
Die ökologische Katastrophe oder der systemische Zusammenbruch, den wir auf unserem Planeten erleben, ist hauptsächlich darin begründet, dass wir Menschen nicht begreifen, welchen zentralen Beitrag wir für die Aufrechterhaltung eines kosmischen Gleichgewichts zu leisten haben. Dazu ist es erforderlich, das Reich des Imaginativen, das zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen liegt, richtig zu verstehen. In ihrem neuesten Buch nimmt uns die kritische Theologin Cynthia Bourgeault mit auf eine spannende Entdeckungsfahrt dorthin, »wo die beiden Meere sich treffen«
llzu leicht verstecken wir uns hinter intellektuellen Winkelzügen, wenn wir Themen erforschen, die dermaßen schwer zu fassen sind wie das Imaginative. Handelt es sich beim Imaginativen um dasselbe wie das »intelligible Universum« Platons [/] oder die subtilen Bewusstseinsebenen der Hindus oder die Bardo-Reiche [/] des tibetischen Buddhismus? Vielleicht ja, vielleicht nein, doch in keinem Fall ist es das, worum es mir hier geht. Falls es eine Sache gibt, die ich gelernt habe in diesen zweieinhalb Dekaden, in denen ich mich durchs imaginative Unterholz schlug, dann die, dass das Reich des Imaginativen nur durch das Herz betreten werden kann. […]
Wenn wir uns erst einmal aller intellektuellen Abstraktionen entledigt haben und dem Reich des Imaginativen erlauben, sich in seiner Muttersprache zu äußern, ist das, worüber es in überraschender Schlichtheit und Unmittelbarkeit spricht, Schönheit, Hoffnung und eine geheimnisvolle tiefere Ordnung der Kohärenz und Lebendigkeit, die durch dieses irdische Gelände fließt und es mit den unermesslichen Quellen kosmischer Kreativität und Fülle verbindet.
Anstelle der Isolation und Anomie, die unsere postmodernen kosmologischen Straßenkarten so häufig vermitteln (die uns auf einen bedeutungslosen Planeten in einer bedeutungslosen Galaxie in einem zufälligen Big Bang unter einer endlosen Kakofonie von Big Bangs verbannen), deutet das Imaginative auf die kostbare Besonderheit und die Dringlichkeit unseres menschlichen Beitrags (so gering er auch sein mag) zum unermesslichen, dynamischen Netz kosmischen Ineinanderseins, das in seiner Gesamtheit als das Herz Gottes verstanden werden kann.
Ein neues Gefühl von Würde, Verantwortung, Zugehörigkeit, kosmischer Intimität und Liebe
Es ruft uns auf zu einem neuen Gefühl der Würde, der Verantwortung, der Zugehörigkeit, der kosmischen Intimität und der Liebe. Nur deshalb schreibe ich dieses Buch, aus keinem anderen Grund. Unser Herz kennt bereits den Klang dieser Sprache. Mit nur einem kleinen Schubs – und vielleicht mit einer etwas neueren Version der Straßenkarte – kann es auch unser Verstand schaffen, sie zu erlernen. Und dies, so Gott will, solange wir noch die Zeit dazu haben.
Ein herzlicherer Ausgangspunkt, um »mit der Geschichte zu beginnen«, könnte also möglicherweise in jenem eindrucksvollen Bild liegen, das uns Jesus selbst liefert: »Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen« (Johannes 14.2).
Sich das Reich des Imaginativen als eine dieser Wohnungen vorzustellen, gehört vor allem zur westlichen spirituellen Tradition und ist tief verbunden mit einer westlichen Erfahrung des Herzens Gottes. Vielleicht ist sie kein Penthouse und gewiss ist sie keine universelle Wohnung (da viele spirituelle Traditionen sehr gut auch ohne sie auszukommen scheinen). Doch in ihrem eigenen Bezirk, das heißt in der westlichen mystischen und inneren Tradition, ist sie sehr zentral gelegen. Irgendetwas Wichtiges geschieht hier.
Aber – stellen Sie sich diese Wohnung nicht wirklich als einen Ort vor. Mir ist klar, dass es unserem westlichen Verstand schwerfällt, nicht in diese Richtung zu denken. Dasselbe haben wir mit Himmel und Hölle versucht, nicht wahr? Wir haben Miniaturplaneten aus ihnen gemacht, ausgestattet mit perlenbesetzten Toren und Feueröfen.
Systematische Darstellung der Welten und Reiche entlang des Schöpfungsstrahls bzw. der Tonleiter gemäß G.I. Gurdjieff
(zum Vergrößern Maus über die Tabelle halten)
Doch ein Reich ist grundsätzlich kein Ort; es gleicht eher einem Satz bestimmender Konventionen, die eine gewisse Art von Manifestation erlauben. In unserem irdischen Reich unterliegen wir vielen dieser bestimmenden Konventionen (wir nennen sie »Gesetze«). Die Schwerkraft hält unsere Füße am Boden; die Zeit fließt nur in eine Richtung; wir können nicht durch Mauern gehen, uns nicht gleichzeitig an zwei Orten aufhalten oder allein durch die Kraft unserer Gedanken fünf Kilo abnehmen. Es existieren viele Gesetze (Gurdjieff behauptete, es gebe achtundvierzig), die unsere Ebene des Irdischen zu einem ziemlich dichten und determinierten Ort machen.
Es gibt andere Reiche, die leichter sind, und ein paar, die noch dichter sind. Später in diesem Buch werden wir auch auf sie zu sprechen kommen. Für den Moment ist es wichtig, uns daran zu erinnern, dass, von einem metaphysischen Blickwinkel aus betrachtet, Reiche weniger mit physikalischer Verortung zu tun haben als mit Dichtheit.
Tatsächlich haben alle spirituellen Lehrer jedweder Tradition betont, dass »höhere« (das heißt weniger dichte) Reiche sich nicht irgendwo anders befinden, sondern in unserem Inneren – noch zusammengerollt als eine feinstofflichere und zugleich intensivere, lebendigere Bandbreite von Erfahrung und Wahrnehmung. Dass wir normalerweise keine Notiz von ihnen nehmen, liegt darin begründet, dass die Gesetze, die jedes dieser Reiche bestimmen, im Allgemeinen zu grob sind, als dass die feineren Schwingungen, die vom nächst »höheren« Reich ausgehen, in seine Wirkungssphäre »herunter«dringen könnten. Wie der heilige Paulus uns erinnert: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht« (1 Korinther 13.12). […]
Das Imaginative durchdringt diese dichtere Welt impressionistisch, auf eine ähnliche Weise, wie die Duftnote eines Parfüms einen ganzen Raum erfüllt, diesen dezent belebt und harmonisiert.
Foto: Pexels / Pixabay
Mein bevorzugtes Bild, um diese zugegebenermaßen nur schwer fassbare Vorstellung verständlich zu machen, ist noch immer jene eindrucksvolle Skizze in Tania Blixens [/] Roman Jenseits von Afrika, in der sie berichtet, wie sie einst auf eine wunderschöne Schlange traf, die durch das Gras glitt; ihre Haut glitzerte in feinen, abwechslungsreichen Farben. Sie war dermaßen von ihr fasziniert, dass einer ihrer Hausangestellten die Schlange tötete und deren Haut zu einem Gürtel für sie verarbeitete. Doch zu ihrem Entsetzen war die vorher glitzernde Schlangenhaut jetzt nur noch stumpf und grau, einfach weil die Schönheit nicht in der physischen Haut, sondern ganz und gar in der Qualität der Lebendigkeit gelegen hatte.
Das Imaginative ist diese Qualität der Lebendigkeit, die sich durch das irdische Reich hindurchbewegt, es vollkommen durchdringt und zusammenhält und die Dinge mit der Duftnote einer impliziten Bedeutung erfüllt, deren Linien nicht in dieser Welt zusammenlaufen, sondern an einem Punkt im Jenseits. Wie es im Thomasevangelium geschrieben steht:
Ich bin das Licht, dieses, das über allen ist.
Ich bin das All; das All ist aus mir herausgekommen.
Und das All ist zu mir gelangt.
Spaltet ein Holz[-Stück], ich bin da.
Hebt den Stein auf und ihr werdet mich dort finden.[1]
Welten innerhalb von Welten
Auf den kosmologischen Karten ist unser eigenes irdisches Reich seit Langem als mixtus orbis, das »gemischte Reich«, bekannt. Die vollständige Erklärung dieses Begriffs ist komplex, doch scheint hier auf jeden Fall irgendetwas miteinander vermischt und verbunden zu sein. Wir Menschen sind auf eine eigenartige Weise zweisprachig: Wir sprechen die Sprache dieser Welt mit ihrem ganzen Charme und ihren Feinheiten, doch genauso streben wir nach diesem unsichtbaren Anderen, das in jenen schillernden Einblicken und Visionen direkt über uns zu schweben scheint, oder mit den Worten von T.S. Eliot ausgedrückt, nach dieser »anderen Leidenschaft«[2] oder Intensität, von der wir intuitiv wissen, dass wir auch ihr angehören. Dieses unsichtbare, doch uns ständig durchdringende Andere ist das Reich des Imaginativen.
Wie bereits erwähnt, neigten die früheren metaphysischen Landkarten dazu, eine scharfe Trennlinie zwischen Materie und Geist zu ziehen, mit dem Resultat, dass das Imaginative, das genau am Horizont unseres mixtus orbis schwebt, häufig als eine eigene, in sich geschlossene Welt erschien, die mit der unsrigen offenbar nichts zu tun hat. Weshalb und wie könnte es als letzter Außenposten der »geistigen« Reiche die Kluft zu den stofflichen Reichen überbrücken? Im vorhergehenden Kapitel habe ich versucht, diese traditionelle metaphysische Gewohnheit im Sinne des aktuelleren Verständnisses zu überarbeiten, dass es in Tat und Wahrheit eine solche »Kluft« gar nicht gibt, sondern vielmehr ein einziges Kontinuum an Energie, das sich in unterschiedlichen Subtilitäts- und Grobheitsgraden manifestiert.
Wenn wir die metaphysische Karte aus ihrem ursprünglichen platonischen in dieses eher Einsteinsche Milieu übertragen, bringt uns dies tatsächlich weit über das traditionelle innere Verständnis des Imaginativen hinaus, das sein Hauptaugenmerk auf die persönliche und schwer fassbare Natur dieses Reichs legte, hin zu einer neuen Aufgeschlossenheit gegenüber seiner kollektiven und evolutionären Bedeutung.
Gurdjieff behauptete, dass entlang des gesamten Schöpfungsstrahls ein ununterbrochener, aktiver Austausch in beide Richtungen vonstattengehe.
Georges Iwanowitsch Gurdjieff mit seiner Katze und seinen Hunden 1917 in Olginka am Schwarzen Meer. Foto: Archiv Thomas C. Daly
Es war Gurdjieff, der diesen Ball so richtig ins Rollen brachte, indem er das zentrale Teil des Puzzles einfügte, das mit der Brille einer von der sophia perennis überlieferten Metaphysik nicht auszumachen ist und das er als »gegenseitige Ernährung« bezeichnete. Er behauptete, dass entlang des gesamten »Schöpfungsstrahls« (sein äquivalenter Begriff für die Große Kette der Wesen oder die Seinskette) ein ununterbrochener, aktiver Austausch in beide Richtungen vonstattengehe – nicht nur von den höheren Reichen zu den niedrigeren, sondern auch von den niedrigeren zu den höheren –, um den ganzen Strahl in einem Zustand dynamischen Gleichgewichts zu halten gemäß einem kosmischen Prinzip, dem er den ziemlich sperrigen Namen »Trogoautoegokrat« gab.
Das Wort mag schwierig auszusprechen sein, doch die Idee als solche ist ein bemerkenswert vorausschauender Versuch, die gesamte geschaffene Ordnung als das zu betrachten, was wir heutzutage ein »selbsterhaltendes System« nennen würden, ein Ganzes, das größer ist als die Summe seiner Teile und dessen wichtigstes metaphysisches Kennzeichen nicht länger die Involution ist – der schleichende Energieverlust, wenn das untere Ende der Kette stetig in Richtung Entropie abfällt –, sondern vielmehr eine austarierte Homöostase, welche die Energie des Gesamtsystems bewahrt (und sie sogar noch erhöht), indem jedes Reich seinen erforderlichen Beitrag zum Ganzen beisteuert.
Gurdjieff nannte dieses System aus gutem Grund »gegenseitige Ernährung«: Der Austausch, den er meinte, erfordert die eigentliche Transformation kosmischer Substanzen – was mehr einer Verdauungstätigkeit ähnelt als dem bloßen Informationsaustausch, der von den heutigen auf Bewusstsein basierten Modellen favorisiert wird. Die umfassende Darlegung dieser Vorstellung führt uns rasch in einen der dichtesten Urwälder der Gurdjieffschen Mysterien: nämlich zu seinen berüchtigten »Tabellen der Wasserstoffe«, einem wahren Labyrinth, in dem schon so mancher übereifrige Sucher den Faden verlor.[3]
Doch die Idee an sich ist im Grunde genommen recht unkompliziert und – für einen Planeten, der auf eine ökologische Katastrophe zurast – dermaßen offensichtlich zeitgemäß, dass es meiner Ansicht nach keine Rechtfertigung mehr dafür gibt, sie in einem Giftschrank für Gurdjieffsche Vierter-Weg-Esoterika unter Verschluss zu halten. Für unser konkretes Anliegen ist hier jedoch von größerer Wichtigkeit, dass diese umfassendere Vision dessen, was einem großen intergalaktischen Selbsterhaltungsprozess gleichkommt, absolut unverzichtbar ist, wenn wir ein wirkliches Gespür dafür entwickeln wollen, worum es bei diesem Reich des Imaginativen – über eine bloße schwammige Bandbreite innerer Führung und eine blendende Intensität hinaus – in Wirklichkeit geht.
Falls der Austausch tatsächlich die Hauptaufgabe dieses Reichs des Imaginativen darstellt, müssen wir uns diesen Austausch von vornherein als eine Straße mit Gegenverkehr vorstellen.
Unser Beitrag zum wunderbaren kosmischen Austausch
Foto: Pexels / Alexas Fotos / Pixabay
Selig ist der Löwe, den der Mensch fressen wird, denn dieser Löwe wird Mensch werden. Aber verflucht ist der Mensch, den der Löwe fressen wird, denn dieser Löwe wird Mensch Löwe werden.
Thomasevangelium, Logion 7
In diesem kurzen, kryptischen Spruch aus den Weisheitslehren Jesu finden wir tatsächlich den Kern von Gurdjieffs komplexer Vorstellung vom »Trogoautoegokraten« in weniger als drei Dutzend Wörtern beschrieben. Zumindest deren moralischen Kern. Nahrung, Transformation, auf- und abwärts gerichteter Austausch zwischen den Reichen – all dies finden wir hier, zusammen mit der verblüffend unmissverständlichen Antwort auf die Frage: »Was geschieht, wenn wir uns selbst in dieses Gemisch hineinbegeben?« Die Antwort lautet: Wir landen im Nadelöhr.
In der ersten dieser parallelen Trompe-l’Œil-Transformationen verzehrt der Mensch den Löwen, was bedeutet, dass er ihn verdaut, also das Feuer und die Stärke dieser animalischen Natur in die höhere Ordnung seines bewussten Menschseins integriert hat; und der Löwe, auf diese Weise verwandelt, tritt als ein Diener und ein Mittel hervor. Hier handelt es sich um Aufwärtstransformation.
In der zweiten Parallele, in welcher der Löwe den Menschen frisst, verliert sich der Mensch einfach im niedrigen Zustand seiner Tierhaftigkeit; sein menschliches Bewusstsein und seine Klugheit werden Diener seiner urtümlichen Gier, und was daraus entsteht, ist Chaos und Zerstörung. Dies ist Regression, Abwärtstransformation, und »dieser Löwe«, besagt der Spruch ironisch, »wird Mensch werden.« Er steht morgens auf, zieht sich an, bereitet sich das Frühstück, macht Politik, bestimmt das Schicksal der Welt – und erfüllt die Atmosphäre um sich herum mit den psychischen Giften seiner Gier, seiner Angst und seiner Entfremdung. Das nennt Gurdjieff den »Schrecken der Situation«. Und wir müssen nur unsere unmittelbare Weltlage betrachten, um zu sehen, wie dies abläuft.
»Die Aufgabe eines bewussten menschlichen Wesens besteht darin, die irdische Welt der Erscheinungen mit Energien zu versorgen, die den Schöpfungen und Dingen, die unsere Welt ausmachen, auf anderen Wegen nicht effektiv vermittelt würden«, schreibt William Segal, einer der brillantesten Studenten der ersten Generation von Gurdjieffs Werk.[4]
Das ist das nüchterne, vielleicht unspektakuläre Fazit. Worauf auch immer wir, in unseren philosophischen und spirituellen Fantasien, glauben auszusein – die Welt zu retten, unsere Seele zu erlösen, vollkommene Erleuchtung zu erlangen –, im Rahmen des kosmischen Austauschs sind wir Transformatoren von Molekülen und von Bedeutung in gleichem Maße.
»Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!« (Matthäus 7.12)
Dies ist die kosmische Funktion, die uns im großen Trogoautoegokraten zugeteilt ist. Wenn wir sie auf eine bestimmte Art erfüllen, geschieht etwas mit uns und mit der Welt; wenn wir sie in einer anderen Weise ausüben, geschieht etwas anders.
Sämtliche spirituellen Traditionen haben versucht, uns in diesem Punkt mittels einer Grundmoral richtig auszurichten: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!« (Matthäus 7.12)
Auch ohne jede weitergehende Anweisung wird ein einfaches Befolgen der großen moralischen Regeln, die in der primären Achsenzeit [5] auftauchten, die Menschen im Wesentlichen richtig ausrichten, damit sie den von ihnen geforderten Beitrag am wunderbaren Austausch leisten können. Die Übertragungskette wird reibungslos verlaufen. Der Löwe wird sich weiter in Richtung des Menschen bewegen.
Die Schattenseite dieser alten Morallehren ist allerdings, dass sie, um zur Einhaltung der Lehre anzuspornen, dazu neigen, individualisierte, von Angst und Strafe befeuerte Visionen eines Lebens nach dem Tod heranzuziehen. In der verbreiteten säkularen und skeptischen Kultur unserer Tage, in der die Höllenfeuer kaum noch eine größere Überzeugungskraft besitzen als der Weihnachtsmann oder die Zahnfee, ist der moralische Kompass des Menschen wieder zunehmend auf den unverfrorenen Eigennutz zurückgefallen. »Genieße!« »Hol’ alles für dich raus, was du kannst!« »Du bist es dir wert!« Wir alle kennen diese Werbesprüche; es sind die Mantras unserer schönen neuen Welt.
Der Löwe frisst den Menschen: eine ökologische Katastrophe
Und, so sagt Gurdjieff, wir haben es hier nicht bloß mit einem persönlichen moralischen Versagen zu tun. Es ist eine ökologische Katastrophe, denn es läuft auf einen systemischen Zusammenbruch zu, wenn über einen breiten Bereich einer ganzen zentralen Spezies »der Löwe den Menschen frisst« und so der Fluss dieser essenziellen Energien zwischen den Reichen destabilisiert wird.
Bereits um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert war Gurdjieff äußerst besorgt über den von ihm erkannten bedeutungsvollen Rückgang dessen, was von unserer menschlichen Spezies benötigt wird, und der daraus folgenden Abnahme unserer Fähigkeit, unsere notwendige Aufgabe in der kosmischen Homöostase zu übernehmen.
Foto: Pexels / Pixabay
Es steht außer Frage, dass die vergangenen hundert Jahre unserer Entfaltung auf diesem Planeten seine Bedenken mehr als bestätigt haben. Wenn wir uns kollektiv zurückentwickeln, indem wir unseren Ehrgeiz und unsere Klugheit lediglich dazu nutzen, als erfolgreiche Löwen zu leben, fallen wir in derselben Abwärtsspirale unter die kritische Mindestschwelle, die es braucht, um unseren Rang als »bewusste Menschen« halten zu können – die Voraussetzung für unsere volle Teilhabe am wunderbaren Austausch.
Wenn diese Aufgabe nicht mehr wahrgenommen wird (oder wenn diese in verzerrter oder vergifteter Weise geleistet wird), leiden nicht nur »unsere unsterblichen Seelen«; das gesamte kosmische Gleichgewicht gerät aus den Fugen.
Ich denke, wir alle spüren bis ins Mark, dass, mehr als wir dies zugeben möchten, eine enge und organische Verbindung besteht zwischen den Energiearten, die wir Menschen als Ergebnis unserer moralischen Handlungen in die Atmosphäre pumpen, und den greifbaren Auswirkungen dieser »imaginativen Umweltverschmutzung« auf die Biosphäre.
Wir spüren dies, kennen aber nicht den Grund dafür, weil die tradierten physikalischen Karten noch immer auf einer überholten Wissenschaft beruhen und die modernen wissenschaftlichen Karten (mit der rühmlichen Ausnahme jener, die von Teilhard de Chardin vorgeschlagen wurde, der zumindest mutig genug war, einen ersten Versuch eines neuen Paradigmas zu wagen) die moralische Dimension, die all dem innewohnt, noch nicht berücksichtigen – und in dem meisten Fällen noch nicht einmal anerkennen.
Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Foto: Wikimedia Commons
Wie sieht diese Ballübergabe zwischen radialer und tangentialer Energie eigentlich aus? In welchem Sinne ist menschliche Tugend eine eigentliche »Nahrung«, die das organische Leben auf Erden versorgt? Und wo und wie in unserer persönlichen Arbeit bewusster Transformation spielt sich der Austausch zwischen den Reichen tatsächlich ab?
Diese Fragen gehören zu den entscheidenden fehlenden Puzzleteilchen in jenen sich überschneidenden Diagrammen der Welten, die wir uns im vorangegangenen Kapitel angesehen haben. In nächsten Teil dieses Buches möchte ich mit dem Versuch dieses vielleicht seltsam anmutenden neuen Ansatzes des Zusammenfügens der Teile fortfahren in der Hoffnung, dass er einen frischen Ausweg aus einigen der tragischen (intellektuellen, spirituellen und ökologischen) Sackgassen unserer Gegenwart eröffnet.
Indem wir über die üblichen moralischen Argumente hinausgehen und einen Blick auf die eigentliche Mechanik des Austauschs werfen, die hier am überaus wichtigen Mi–Fa-Knotenpunkt vor sich geht, werden wir, so bin ich überzeugt, mit größerer Entschlossenheit – und vielleicht mit tieferen »Gewissensbissen«, wie Gurdjieff es ausdrücken würde – erkennen, warum unsere menschliche Ausrichtung auf das Gute weniger eine persönliche Tugend als vielmehr eine kollektive kosmische Verantwortung ist.
© Cynthia Bourgeault 2021
Deutsche Übersetzung © Robert Cathomas & Helga Jacobsen
Anmerkungen
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[1] Die Bibel der Häretiker: Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Gerd Lüdemann und Martina Janßen, Stuttgart: Radius-Verlag, 1997, Seite 143, Logion 77.
[2] T.S. ELIOT: “East Coker” in The Complete Poems and Plays, New York: Harcourt, Brace, and World, 1952, Seite 129.
[3] Diese Tabellen sind ausführlich dargelegt in P.D. OUSPENSKY: Auf der Suche nach dem Wunderbaren, Bern, München, Wien: O.W. Barth-Verlag, 2010, das noch immer das klassische Zugangsbuch zum Gurdjieffschen Universum darstellt. Die Wasserstoff-Tabellen Wnden sich insbesondere auf den Seiten 249–255.
[4] WILLIAM SEGAL: “The Force of Attention” in Parabola Magazine, 15:2; ein Auszug aus The Structure of Man, Brattleboro, VT: Green River Press, Stillgate Publishers, 1987.
[5] Achsenzeit [/]: Der von Karl Jaspers [/] geprägte geschichtsphilosophische Begriff für die Epoche von etwa 800 bis 200 vor Christus [A.d.Ü.].
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