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Mathias Bänziger
Henry Corbin: ein spiritueller Humanist

Henry Corbin und seine Frau, Stella, an der Eranos-Tagung von 1954 in Ascona. Foto: amiscorbin.com
Der französische Islamwissenschaftler Henry Corbin (1903–1978) gilt als einer der brillantesten und einflussreichsten Herausgeber und Kommentatoren von Werken aus der islamischen Geistesgeschichte. Mit der ersten deutschsprachigen Monografie über diesen bedeutenden Philosophen und Orientalisten legt der Schweizer Theologe Mathias Bänziger ein fundiertes und umfassendes Sachbuch vor, das eine jahrzehntelange Lücke schließt in der hiesigen Rezeption von Leben und Werk dieses wichtigen Wegbereiters eines aufgeschlossenen interreligiösen und interspirituellen Dialogs
Ausschnitte aus der Einführung zum Buch Henry Corbin und die orientalische Weisheit von Mathias Bänziger
Im Grunde bin ich seit jeher und für immer Metaphysiker (die Calvinisten bezeichnen einen solchen sofort als ›Gnostiker‹ – schade für sie). Ich bin den Dingen immer auf den Grund gegangen, mal wie ein Maulwurf, mal wie ein Simurgh. Wenn man mir in die Quere kam – ›man‹ mag Rom sein oder Genf –, so hat dies immer zu Katastrophen geführt.« [1]
Dies sind Worte des französischen Philosophen und Orientalisten Henry Corbin, die er im Jahr 1940 aus Istanbul an seinen lebenslangen Freund und Vordenker europäischer Integration, den Neuenburger Denis de Rougemont [/], geschrieben hat. Sie zeichnen in wenigen Zügen das markante Profil eines Menschen, der in einem Jahrhundert tiefgreifender Umwälzungen einen eigenwilligen Weg gegangen ist, auf dem er, während vieler Jahre zwischen Paris, Teheran und Ascona pendelnd, akademische Arbeit und spirituelles Leben auf besondere Weise verbunden hat: Mal wühlte er unermüdlich wie ein Maulwurf, das heißt mit der gebotenen Nüchternheit und einem horrenden Fleiß, in den schriftlichen Zeugnissen mystisch orientierter Philosophen insbesondere des persischsprachigen Gebiets, um ihre Werke für die akademische Welt kritisch herauszugeben und in deren Erforschung neue Maßstäbe zu setzen. Mal hob er zwecks kongenialer Kommentierung ihrer Gedankengänge selbst zu spirituellen, ja mystischen Höhenflügen an wie ein Simurgh – ein mythischer Vogel der persischen Geisteswelt [2] –, weil er das eine vom andern weder trennen konnte noch wollte, denn: Wie sollte man jene dort formulierten philosophischen Gedanken, wie sollte man die Metaphysik, die sie zum Ausdruck bringen, wirklich verstehen, ohne selbst den Grund auszuloten, dem sie entsprungen sind? Hermeneutik, die Kunst des Verstehens, so sein Credo, ist dem Phänomen verpflichtet, das nicht anders zu ›haben‹ ist als dadurch, dass man sich selbst in dieselbe Geistesstimmung beziehungsweise Intentionalität begibt, die es hervorgebracht hat.
Ausschnitte aus der Einführung zum Buch Henry Corbin und die orientalische Weisheit von Mathias Bänziger
Nun ist aber im angeführten Briefausschnitt auch noch von Rom und Genf die Rede – emblematische Städte (um einen Begriff von Corbin selbst aufzunehmen), deren Gedankenwelten und Mentalitäten geradezu den Hintergrund bilden, auf dem Corbin sich auch als Christ zu inneren und intensiven Auseinandersetzungen und leidenschaftlichen Positionen bewegt fühlte, mit denen er da und dort, auch theologisch, aneckte und andere vor den Kopf stieß. Von Katastrophen spricht er gar, also von ›Umwendungen‹ im wörtlichen Sinne, war er doch zunächst vom Katholizismus zum Protestantismus konvertiert und hatte dann innerhalb des Protestantismus, für den Mainstream zumindest, allzu philosophische und mystische Anfragen, sodass es nach Annäherungen und ersten Projekten der Zusammenarbeit mit dem wohl bedeutendsten protestantischen Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Schweizer Karl Barth [/], schließlich zum Bruch kam.

Henry Corbin 1934 in Paris bei einem Gespräch mit Karl Barth. Foto: amiscorbin.com
Ein universelles Verständnis von Religion und Spiritualität
Nicht, dass Corbin damit aufgehört hätte, protestantischer Christ zu sein, aber er weitete sein Verständnis hiervon zusehends aus ins Universelle, sodass man ihn in einem Atemzug und »sowohl als auch« ebenso als religiös-spirituellen Humanisten (im recht verstandenen Sinne) bezeichnen dürfte – denn letztlich ging es ihm immer um das Humanum und Individuum in dessen metaphysischem Grund. Auf dem Weg dahin begleiteten ihn zeitgenössische Geistesgrößen, besonders auch aus dem deutschsprachigen Raum, mit denen er sich teils annähernd, teils abgrenzend auseinandergesetzt hat.
Zu nennen wären hier, nebst dem bereits angeführten Theologen Karl Barth, der Religionswissenschaftler Rudolf Otto [/], sodann die Philosophen Martin Heidegger [/] und Karl Jaspers [/], der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung [/] oder auch der Judaist und Mystikforscher Gershom Scholem [/] – allesamt Namen, die weit über ihr Gebiet hinaus Weltruhm erlangt haben. Gerade dies aber kann von Corbin nicht unbedingt behauptet werden. Denn trotz seines eigenen Weltruhms auf orientalistischem Gebiet ist er gerade auch unter Theologen und Religionswissenschaftlern kaum bis gar nicht wahrgenommen worden.
Die vorliegende Arbeit soll deshalb das Werk von Henry Corbin insbesondere der deutschsprachigen Leserschaft umfassend erschließen, gerade auch den Theologen, zu denen ich mich selbst zähle. Für mich waren und sind seine Ansätze immer wieder erfrischend und inspirierend, und ich hoffe, dass dies auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches so ergehen wird.
Bevor wir uns jedoch Corbins Leben etwas genauer anschauen, um danach ganz in seine Gedankenwelt einzutauchen, sollen zunächst drei Konstanten in seinem Denken sichtbar gemacht werden, die einem bereits jetzt einen Eindruck davon vermitteln können, um welche Art von Denker und Philosophen es sich bei ihm handelt. Sie alle lassen sich um das Geburtsjahr von Henry Corbin verorten.

Friedrich Nietzsche circa 1875. Foto: Wikimedia Commons
Die metaphysische und spirituelle Krise unserer Zeit
Erstens 1900: Dies war bekanntlich das Todesjahr von Friedrich Nietzsche [/], der durch den Mund des »tollen Menschen« ausrief: »Gott ist tot!« [3] Auch wenn Nietzsche selbst dieses »ungeheure Ereignis« begrüßte, wusste er doch zugleich um die Tragweite dieser Tat, wenn er den »tollen Menschen« weiter fragen lässt:
Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? [4]
Was für Nietzsche die offenkundige Konsequenz des Gottestodes ist – nämlich Horizontverwischung und Orientierungslosigkeit – und
deshalb nur aufzuwiegen wäre mit der Proklamation eines »Über-Menschen«, war für Corbin Anlass eines lebenslangen Festhaltens am Gottesgedanken, weil nur von ihm her der Mensch orientiert bleibt und davor gefeit, in nihilistische Machbarkeitswahne abzugleiten. Ja, für ihn schien klar, dass die Abwesenheit dieses ultimativen Orientierungspunktes schließlich zur Auslöschung des inneren, geistigen Menschen führen muss – auf einem Weg, mitten auf dem der Westen und immer weitere Teile des Globus stecken und dessen historischer Genesis wie auch spiritueller Genesung Corbin auf den Grund gehen wollte.
Denn letztlich verstand er die Situation unserer Zeit als Ausdruck einer metaphysischen wie auch spirituellen Krise, der nur mit einer entsprechenden Neuorientierung zu begegnen sei. Die Botschaft vom vermeintlichen Gottestod hallt denn auch wie ein Echo durch das ganze Werk Corbins und dient ihm geradezu als Negativfolie für eine Aktualisierung eines, nun religionsübergreifenden wie zugleich der je und je eigenen Individualität des Menschen gerecht werdenden Gottesgedankens.

Henry Corbin 1976 in Isfahan. Foto: amiscorbin.com
Begegnung mit dem Orient auf Augenhöhe
Das zweite wichtige Datum um das Geburtsjahr Corbins war der Mai 1905, in dem das Selbstbewusstsein Asiens gegenüber dem Westen aufgrund einer gewonnenen Seeschlacht – nämlich Japans gegen Russland – erstmals wieder erstarkte. Solches berichtet Pankaj Mishra in seinem Buch über ausgewählte intellektuelle Protagonisten Asiens im (nach)imperialistischen Zeitalter und hält einleitend fest: »Zum ersten Mal seit dem Mittelalter hatte ein außereuropäisches Land eine
europäische Macht in einem größeren Krieg besiegt, und die Nachricht eilte um eine Welt, die von westlichen Imperialisten […] zu einem engen Netz verbunden worden war.« [5]
Corbin nun war einer jener Westler, die sich für die Befreiung aus diesem engen Netz und zur Befestigung des neu aufkeimenden Selbstbewusstseins Asiens hingaben, indem er sich bemühte, alle Kulturarroganz abzulegen und dem Orient und seinen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Denn nach seinem Dafürhalten bergen diese fernen Welten Ansichten, die unser Bild vom Menschen vertiefen und bereichern. Ein Zusammenschließen der Kräfte täte deshalb not. Nichts zeigt dies eindrücklicher als die Ansage, die er mit nur vierundzwanzig Jahren in seinem allerersten Artikel (unter dem rätselhaften Pseudonym Trong-Ni) als eine Art Ankündigung für sein ganzes Werk formulierte:
Die Intellektuellen des Orients dürfen wissen, dass es unter der jungen Generation des Okzidents Seelen gibt, die ihnen ihre ganze Sympathie entgegenbringen; solche, die – sich loslösend von all den Vorurteilen und Heucheleien – mit ihnen unter dem leiden, worunter sie leiden, sich danach sehnen, sie zu hören und zu verstehen, und von ganzem Herzen eine enge Zusammenarbeit fordern. Wir glauben, dass die Stunde für ein solches Unternehmen gekommen ist.[6]
Was Corbin hier ankündigt, hat er schließlich mehr als erfüllt, auch wenn sich sein Fokus bald darauf immer mehr auf den persischen Raum beschränken sollte. Am Ende seines Lebens sah er jedenfalls die Saat aufgegangen, als er sich einer ganzen Reihe von jungen Intellektuellen Irans gewiss war, welche sich unter seinem Eindruck und seiner Inspiration auf neue Weise ihrem eigenen geistigen Erbe zuwandten. Aber nicht nur dies: Im Lichte seiner Hinwendung zu Zeugnissen des Ostens, insbesondere Persiens, fand er Gegenentwürfe zum westlichen Projekt, und zwar angelegt auch auf ›Nebengleisen‹ von diesem selbst, die es seiner Meinung nach wiederzubeleben gälte.
Er war nie so naiv, durch irgendwelche Nachahmungen oder Anbiederungen Orientale werden zu wollen, jedoch war es sein Anliegen – vergleichbar mit C.G. Jung –, die dort zum Klingen gebrachten Möglichkeiten auch hier fruchtbar zu machen, und zwar aus dem eigenen Potenzial des Westens heraus. Wenige Monate vor seinem Tod formulierte er es so: »Sicherlich bin und bleibe ich ein Westler (im irdischen Sinne dieses Wortes), denn als Westler ist es mir vielleicht gelungen, das zu erfüllen, was mir gegeben war.« [7]

Henry Corbin im Gespräch mit C.G. Jung an der Eranos-Tagung von 1950 in Ascona. Foto: amiscorbin.com
Eine geistig-spirituelle Erneuerung des Menschen
Drittens kann Corbin mit seinem Geburtsjahr 1903 in eine Generation eingereiht werden, welche von manch einem als nonkonformistisch charakterisiert wurde. Menschen dieser Generation fühlten sich demnach oftmals zwischen Welten gesetzt: Einerseits nämlich waren sie zu spät geboren, als dass sie noch als Zugehörige zur Kultur des neunzehnten Jahrhunderts angesehen werden konnten, die gerade im Begriff war, zusammenzubrechen; andererseits waren sie zu jung, um als Wehrpflichtige in den Ersten Weltkrieg zu ziehen und als (Aus-)Gezeichnete daraus hervorzugehen. Was sie vielmehr prägte, waren all die Revolten, Revolutionen und Reformen von 1917 bis 1933, durch die sie selbst zu einem reformistischen und nonkonformistischen Denken angestachelt wurden.
Es verwundert denn auch nicht, dass sich in den späten 1920er- und frühen 30er-Jahren gerade diese Generation gerne durch Manifeste und Zeitschriften lautstark bemerkbar machte. Corbin war da mittendrin, und mit ihm der eingangs erwähnte Denis de Rougemont. Sie und viele andere, die in unterschiedlichsten Netzwerken
miteinander verflochten waren, skandierten Positionen mit dem Anspruch, weder links noch rechts zu sein; sie betonten die Personalität des Menschen, die von keiner Kollektivität jedweder Art bedroht werden dürfe; und sie forderten immer wieder eine geistig-spirituelle Erneuerung des Menschen wie auch der Gesellschaft.
Auch wenn diese Stimmen in den Straßen und Zeitschriften von Paris auf diese Weise nur kurz aufflackerten, so kann man doch sagen, dass Corbin von diesem nonkonformistischen Geist ein Leben lang geprägt war, einerseits in seinem Kampf gegen den grassierenden Atheismus und Agnostizismus, andererseits im Ausgreifen auf Zeugnisse des Geistes auch des Ostens.[8] Gewiss gäbe es noch andere Konstanten zu nennen, aber diese drei reichen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. […]

Gershom Scholem und Henry Corbin an der Eranos-Tagung von 1977 in Ascona. Foto: amiscorbin.com
»Eine Gelehrsamkeit von wirklichem geistigem Rang«
Nach diesem ersten Eindruck vom besonderen Lebensverlauf Henry Corbins blicken wir nun auf sein Werk von rund zweihundert Veröffentlichungen [9] bestehend aus Editionen, Gesamtdarstellungen, Aufsätzen und anderem mehr und dies vor allem in den Gebieten der Philosophie und der Islamwissenschaft, jedoch mit bedeutsamen Ausläufern in die Religionsphilosophie, die Religionswissenschaft, die Theologie und die Theosophie.
Es ist nicht ganz einfach, dieses Lebenswerk in seiner Gesamtheit und Zielrichtung zu fassen – entsprechend vielfältig sind die Urteile darüber, die mitunter in diametral verschiedene Richtungen gehen. Darüber jedoch, dass es sich um ein Leben mit besonderer Begabung und besonderem Charisma handelt, wird wohl kaum Zweifel bestehen. Einen ersten Eindruck vom Ausmaß hiervon geben uns zwei Briefausschnitte von Gershom Scholem. Beim ersten handelt es sich um ein Schreiben an Stella Corbin anlässlich des Todes ihres Mannes, in dem er sich in bewegender Weise über den Verstorbenen und sein Werk, den Menschen wie auch den Wissenschaftler, äußert:
Wir [meine Frau, Fania, und ich] können Ihnen sagen, dass er von uns geliebt und verehrt wurde, seit wir uns zum ersten Mal vor fast dreißig Jahren im Eranos[-Kreis] 1949 begegnet sind. Für mich war er nicht nur ein Freund und Kollege, sondern ein Mensch, der sein ganzes Leben dafür eingesetzt hat, eine Welt zu verstehen und sie als Gelehrter zu durchdringen, die so nah an derjenigen lag, der ich mein eigenes Leben gewidmet hatte, wie ich es mir nur vorstellen konnte. Wir hatten im wahrsten Sinne des Wortes die Ehre, wohl die ersten wissenschaftlichen Ausgräber in der Welt der esoterischen Imagination zu sein, wie sie die islamische und die jüdische Gnosis bergen. Von allen Rednern im Eranos war er es, dem ich mich am meisten verbunden fühlte. Nur er verfügte über jene Art innerer Anteilnahme, die es ihm ermöglichte, die dunklen und schwierigen Wege der mystischen Welt zu erhellen, die ich als wesentlich erachtete, um wirklich wichtige und zugleich wissenschaftliche Arbeit in diesen Bereichen zu leisten. Sein Hinschied bedeutet für mich den Verlust eines spirituellen Bruders.[10]
Vielleicht liegt ein gewisses Pathos in diesen Worten, so wie man es sich vorstellen mag angesichts des Todes eines lieben Freundes. Aber schon fünf Jahre früher, also 1973, schreibt Scholem anlässlich von dessen Geburtstag Ähnliches an Corbin selbst:
Es sind nun bald fünfundzwanzig Jahre, dass wir uns kennen, und ich freue mich, dass es mir vergönnt war, in Ihnen einen der wenigen Gelehrten kennenzulernen, deren Gelehrsamkeit von wirklichem geistigem Rang und vom Eindringen in die Dinge selber illuminiert ist. Sie sind, lieber Corbin, einer der wenigen Religionshistoriker, von denen man sagen darf, dass sie wissen, was sie wissen. Darüber hinaus hat mich immer Ihre große Vornehmheit und Humanität in allem Menschlichen beeindruckt, und Sie und Stella Corbin gehören zu den Menschen, die mir die Gewissheit gegeben haben, jenseits jeder äußerlichen Kommunikation in einem echten menschlichen Verhältnis mit ihnen zu leben.[11] […]

Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Teheran 1958. Foto: amiscorbin.com
Das Ineinander von Philosophie und Spiritualität
Es ist nun bezeichnend, dass Corbin, im Zusammenhang seiner philosophischen Suche, vom leitenden Geist (Esprit) wie von einer lebendig erfahrenen und personalen Gegenwart spricht und dass weiter eine von rationalistischen Engführungen befreite Philosophie auch Entwürfe mitbedenken sollte (wie die eines Jacob Böhme, eines Emanuel Swedenborg [/] oder eines Ibn ‘Arabi), die sonst nicht unbedingt zur Philosophie-, sondern eher zur Spiritualitätsgeschichte gerechnet werden. Es ist deshalb dieses Ineinander oder gegenseitige Erschließen der beiden Momente von Philosophie und Spiritualität, welches bei Corbin so augenfällig und daher der näheren Betrachtung wert ist.
Damit reiht er sich ein in eine zwar weit zurückreichende,[12] in der Neuzeit jedoch immer stärker marginalisierten Form einer menschlichen Suchbewegung (philo-sophia), in der philosophische Suche und spirituelle Erfahrung oft ineinander verwoben sind und der es vornehmlich um Weisheit (Sophia) als der eigentlichen Frucht dieser ganzheitlicheren Suche ginge, womit Philosophie letztlich als Weisheitslehre konzipiert wäre. Corbin war nun tatsächlich diese eigentümliche Verquickung zweier Zugänge eigen, welche auch sein Schüler Seyyed Hossein Nasr [/] beschreibt als »die Fähigkeit, sich in die Welten der traditionellen Philosophie und der spirituellen Meditation zu erheben«.[13]
Und auch Zia Inayat Khan [/] bringt diese Einsicht in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe von Corbins Homme de lumière folgendermaßen auf den Punkt: »Wie Suhrawardis [/] bringt auch Corbins Arbeit kritisches Denken und visionäre Intuition in Einklang, Wissensformen, die heute mehr denn je voneinander entkoppelt sind.« [14] Hierin ist die ganze Sach- und Problemlage komprimiert enthalten, und es wird im Folgenden auch unsere Aufgabe sein zu untersuchen, wie diese beiden Zugänge ineinanderspielen, sich gegenseitig in die Quere kommen oder auch einander zu befruchten vermögen.
Text © Mathias Bänziger / Chalice Verlag 2025
Fotos © Assoiation des amis de Henry et Stella Corbin 2025
Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis von www.amiscorbin.com
Anmerkungen
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[2] Der Simurgh ist schon bezeugt im vorislamischen Iran und wurde im iranischen Islam adaptiert, so beispielsweise in ‘Attars Konferenz der Vögel, worin dieser berichtet, wie sich die Vögel (als die menschlichen Seelen) auf den Weg durch die sieben Täler (als den Stufen des Sufi-Weges) zum König aller Vögel, dem Simurgh, machen und sich schließlich in diesem selbst erkennen – denn übrig geblieben sind nur noch dreißig Vögel, das aber heißt, ‘Attars schöpferischer Etymologie gemäß, genau »Simurgh« (si murgh = dreißig Vögel). Vergleiche Farid ud-Din Attar: Die Konferenz der Vögel, aus dem Persischen [in Prosa] übersetzt von Katja Föllmer, Wiesbaden 2015; oder Farid ad-Din ‘Attar: Vogelgespräche, erste vollständige Versübersetzung aus dem Persischen von Otto Höschle, Xanten 2022. Vergleiche auch die schöne Stelle im Masnawi Rumis (I, 2961f), wo es heißt: »Tritt in den Schatten ein des Weisen, den kein Träger je vom Weg forttragen kann. // Sein Schatten auf der Erde gleicht dem Qaf-Berg, sein Geist dem Simurgh, der weit oben kreist« (Dschalal ad-Din Rumi: Masnawi: Gesamtausgabe in zwei Bänden, aus dem Persischen von Otto Höschle, Xanten 2020, erster Band, Seite 188).
[3] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Berlin 2013, Seite 109, Aphorismus 125.
[4] Ebenda.
[5] Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires: Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt am Mai 2015, Seite 9.
[6] Trong-Ni [Henry Corbin]: «Regard vers l’Orient» in Tribune indochinoise, 15, 1927, Seite 5.
[7] Henry Corbin: «Post-scriptum biographique à un entretien philosophique» in Christian Jambet [Hrsg.]: Henry Corbin, Les Cahiers de l’Herne 39, Paris 1981, Seite 51.
[8] Zu dieser ganzen Eingangspassage vergleiche Mathias Bänziger: »Henry Corbin (1903–1978): Philosoph, Orientalist, Suchender« in Geist und Leben, 91, 2018, Seiten 404ff.
[9] Vergleiche Christian Jambet: «Bibliographie générale» in Christian Jambet [Hrsg.]: Henry Corbin, Les Cahiers de l’Herne 39, Paris 1981, Seiten 345–360.
[10] Brief (auf Englisch) vom 26. Oktober 1978 in Gershom Scholem & Itta Shedletzky: Briefe III: 1971–1982, München 1999, Seite 193. Vergleiche dazu auch Hans Thomas Hakl: Eranos, Seiten 327f.
[11] Brief (auf Deutsch) vom 5. April 1973 in ebenda, Seite 69.
[12] Das wohl prominenteste Beispiel ist Platons Siebenter Brief, in dem er von einer nicht in Worte zu fassenden Einheitserfahrung zu sprechen scheint, womit hinter der philosophischen Ausarbeitung seiner Lehre eine spirituelle Suche zu stehen kommt (vergleiche Platon / Gunther Eigler: Platon: Werke, Band 5: Phaidros – Parmenides – Epistolai (Briefe), Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, Darmstadt 2011, Seite 413 [341cd]).
[13] Seyyed Hossein Nasr: «Henry Corbin: ‹L’exil occidental›: Une vie et une œuvre en quête de l’Orient des lumières» in Seyyed Hossein Nasr & Henry Corbin [Hrsg.]: Mélanges offerts à Henry Corbin, Teheran 1977 (/1397), Seite 4.
[14] Pir Zia Inayat Khan: Preface in Henry Corbin: The Man of Light in Iranien Sufism, translated from the French by Nancy Pearson, New Lebanon, NY, 1994, (ohne Seitenzahlen).