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Ilarion Merculieff

Die richtige Wahl der guten Worte

Real People for Presidents
Bild: Chalice Verlag

Viele der indigenen Völker der Welt geben sich selbst Namen, die sich ungefähr als “real people” beziehungsweise »echte Menschen« oder »wahres Volk« übersetzen lassen. Aus ihren kulturellen und spirituellen Traditionen können wir Verhaltensweisen lernen, die heute für uns alle von enormer Wichtigkeit wären, etwa über den respektvollen Umgang mit der Natur oder über ein friedlicheres gesellschaftliches Zusammenleben. Ilarion Merculieff, einer der Anführer des Volkes der Aleuten oder Unangan, erläutert dies am erstaunlichen Beispiel einer Häuptlingswahl bei den Yupik im Westen Alaskas. Ein Ausschnitt aus seiner faszinierenden Autobiografie Hüter der Weisheit, die soeben bei uns erschienen ist

Ein Kapitel aus dem Buch Hüter der Weisheit von Ilarion Merculieff

Ilarion Merculieff: Hüter der Weisheit

ie Ältesten der Ureinwohner Alaskas – seien es Tlingit, Haida, Athabascan, Unangan, Tsimpshian, Inupiat, Yupik [/], Eyak oder Supiaiq – bezeichnen die Mainstream-Gesellschaft als »Gesellschaft im Rückwärtsgang« oder »auf den Kopf gestellte Gesellschaft«, denn ursprünglich wurden wir gelehrt, wie man lebt, jetzt wird uns beigebracht, wie man sich seinen Lebensunterhalt verdient. Früher dachten wir über das Geheimnis des Todes nach, heute grübeln wir über das Rätsel des Lebens. Früher sagte unser Herz dem Verstand, was er zu tun hatte; jetzt befiehlt unser Verstand dem Herzen, was zu tun ist. Wir ehrten die Ältesten, die bei jeder Zusammenkunft anwesend waren, und hörten ihnen zu; heute versorgen wir sie in »Seniorenheime«, wo wir sie weder sehen noch hören. Frauen und das Weibliche galten als heilig; heute besudeln wir die Heiligkeit alles Weiblichen: der Mutter Erde, der auf Mutter Erde basierenden Kulturen und der Frauen.

Ein Kapitel aus dem Buch Hüter der Weisheit von Ilarion Merculieff

Ilia Delio: Ursächlich Liebe

Meister der Konfliktlösung

Ich bewundere die Weisheit, die alle Kulturen der Ureinwohner Alaskas bergen, deren Ältesten noch immer den »Weg des echten Menschen« lehren. Unsere eigenen traditionellen Namen für uns selbst bedeuten »die menschlichen Wesen«, »die echten Menschen« oder »das Volk«. Im Verständnis der Ältesten sind echte Menschen Meister der Konfliktlösung, einer notwendigen Lebenskompetenz und -weisheit, weil die Ureinwohner Alaskas früher in kleinen Nomadengruppen lebten. Heutzutage wohnen sie in kleinen Dörfern mit Einwohnerzahlen zwischen dreißig und achthundert Menschen. In einem solch »privaten« Rahmen kann ein Konflikt unglaubliche Disharmonie, ja sogar Gewalt hervorbringen.

Eines Morgens erhielt ich einen Anruf von einem Vermittler im Auftrag einer der Yupik-Ältesten im Südwesten Alaskas.[1] Die Ältesten luden mich ein, die Wahl eines obersten Häuptlings für mehrere Dörfer in der Region zu beobachten. Ich sagte sofort zu, da ich wusste, dass es immer etwas zu lernen gab, wenn Älteste mich baten, irgendwohin zu kommen. Als ich im Hauptort der Region eintraf, wurde ich von einem anderen Vermittler im Namen der Ältesten begrüßt, der mich zur Sporthalle der Schule begleitete, wo sich die Einwohner bereits versammelt hatten, um ihrem favorisierten Kandidaten zuzuhören und für diesen zu stimmen.

Yupil Frau mit Kind

Yupik-Mutter mit Kind, 1930. Fotografie: Edward Curtis. Quelle: Wikipedia Commons

Der Vermittler informierte mich über die Situation: »Die Wahl zum obersten Häuptling hat die Gemeinden unserer Gegend wegen zweier Männer gespalten, die schlimme Dinge übereinander erzählt haben«, sagte er. »Und genau diese beiden Männer sind die Hauptkandidaten, von denen einer wahrscheinlich als oberster Häuptling gewählt wird. Jetzt haben die Leute für den einen oder anderen Partei ergriffen und nun sprechen die verschiedenen Lager, einst Freunde, nicht mehr miteinander. Der Riss geht mitten durch einzelne Familien und ganze Gemeinden!« Sein Ton verriet seine große Skepsis: »Unterdessen sind die guten Beziehungen zwischen Menschen und Dörfern zerstört, deshalb haben die Ältesten erklärt, dass sie den Wahlprozess unter ihre Obhut nähmen. Du musst wissen, dass die Ältesten sich äußerst selten in irgendetwas Politisches einmischen; sie tun es jetzt zum Wohle der Menschen und unserer Dörfer«, erklärte der Vermittler weiter. »Denn obwohl sie über eine Menge Macht verfügen, nutzen die Ältesten diese nur sehr selten. Aber jetzt ist es so weit. Sie haben alle Einwohner aufgerufen, zu diesem Treffen zu kommen, wo wir uns anhören sollen, was die Kandidaten zu sagen haben. Ob die Ältesten darüber hinaus noch etwas im Köcher haben, ist mir nicht bekannt«, sagte der Vermittler lachend. »Was auch immer es sein mag, es wird etwas Besonderes sein.« Auch ich musste lachen.

Auf unserer Fahrt über die holprige Schotterstraße zur Sporthalle kamen wir an einigen Quads vorbei: kleine Ein- oder Zweipersonenfahrzeuge, die aussehen wie Motorräder mit vier Reifen. Auch an einer Ansammlung von Taxis fuhren wir vorbei; es waren mehr als ich, abgesehen von New York City und Washington DC, jemals zuvor an einer Stelle gesehen hatte. Sie schienen so gar nicht in diese Umgebung zu passen mit ihrer kilometerweiten, grünen Tundra auf der einen Seite und der Beringsee auf der anderen. Häuser und Geschäfte, meist einstöckig und aus verwittertem Holz, standen zerstreut in der Landschaft. Skiff-Boote, Außenborder und Quads – alles Fahrzeuge für die Beschaffung von Lebensmitteln aus der Wildnis – waren in praktisch jedem Hinterhof zu sehen.

 

»Sie spielen mit unserem Essen, nur um Geld zu machen«

Mehr als alle anderen indigenen Gruppen in den Vereinigten Staaten sind die Ureinwohner Alaskas auf Nahrung aus der Wildnis angewiesen; ihr jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch liegt zwischen hundertfünfzig und fünfhundert Kilogramm. Wie in den meisten Gemeinden in den ländlichen Gebieten Alaskas waren auch die von mir besuchten Menschen in diesem Hauptort der Gegend von Bartrobben, Walrossen, Lachs, Heilbutt, Waldbeeren und Zugvögeln abhängig; seit Tausenden von Jahren waren dies ihre Grundnahrungsmittel. Das Recht der Einheimischen Alaskas auf den bevorzugten Zugang zu diesen Nahrungsquellen wird mittlerweile zunehmend von Sportjägern, Sportfischern und der Umweltgesetzgebung beschnitten.

Katie John

Katie John mit ihren Enkelkindern am Ufer ihres Flusses in den späten 1980er-Jahren. Quelle: Native American Rights Fund [/]

Die letzte große Herausforderung für die Subsistenznutzung der Fischbestände ergab sich im Jahr 2001, als der Staat über eine Berufung am Obersten Gerichtshof der USA gegen die sogenannte »Katie-John-Entscheidung« nachdachte. Das Bundesberufungsgericht hatte sich auf die Seite einer Athabascan-Ältesten namens Katie John gestellt und ihr das Recht zugestanden, Fisch aus einem Fluss zu entnehmen, den sie und ihre Vorfahren seit Tausenden von Jahren genutzt hatten. Ich war damals Co-Vorsitzender des “We the People”-Marsches vom 21. August 2001 in Alaska, an dem fünftausend Einwohner aller Hautfarben teilnahmen. Mit diesem Marsch gelang es uns, den Gouverneur von einer Berufung abzubringen.

Schließlich wurde 2004, nach einem von mir angeführten fünfjährigen Kampf, den Ureinwohnern Alaskas das Recht zuerkannt, für ihren Lebensunterhalt Heilbutt fangen zu dürfen. Erreicht wurde dies durch Anpassungen im bilateralen Abkommen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten zur Regulierung des kommerziellen Heilbuttfangs sowie durch die vom Rat für nordpazifisches Fischereimanagement verkündeten Vorschriften.[2] Alaskas indigene Führer hatten sehr exakt geschätzt, dass alle Subsistenznutzer von Heilbutt zusammen etwa ein Prozent des gesamten Heilbuttfangs tätigten. Die übrigen neunundneunzig Prozent wurden von Berufs- und Sportfischerbooten gefangen. Selbst diese verschwindend kleine Menge, von der sich die Ureinwohner Alaskas ernähren, wie sie es seit Tausenden von Jahren getan haben, bedurfte einer rechtlichen Anerkennung, die erst nach einem zähen Kampf errungen wurde. Die Interessen der Sport- und kommerziellen Fischerei in Alaska werden von einer mächtigen Lobby vertreten, die mit diesem einen Prozent für die Indigenen ihren eigenen riesigen Anteil am Heilbuttkuchen bedroht sah. Ein Mitglied der NPFMC brachte beispielsweise als Argument gegen dieses eine Prozent vor, dass sich die Bevölkerung der Ureinwohner Alaskas in den kommenden fünfzig Jahren verdoppeln und dann möglicherweise zwei Prozent vom Kuchen beanspruchen könnte. Und ein weiteres NPFMC-Mitglied, das die Interessen der Sportfischerei vertrat, fragte allen Ernstes die Anführer der Alaska-Ureinwohner, was diese denn meinten, woher in einem solchen Fall dieses zusätzliche Prozent kommen sollte – denn die Sportfischer würden es ihnen ganz sicherlich nicht abtreten.

Seit Jahrzehnten kämpfen Stammesführer für das Recht ihrer Völker, so zu leben, wie es ihre Vorfahren über Tausende von Jahren getan haben.

Die Ureinwohner Alaskas sind äußerst beunruhigt über die zunehmende Konkurrenz zwischen den – für Lebensunterhalt, Ernährung, Kultur, Spiritualität und gemeinschaftliches Wohlbefinden – auf Fische und Wildtiere angewiesenen Menschen und den schnell wachsenden Gruppen von Sportjägern, Sportfischern und Ferienhausbesitzern. Diese kommen aus den großen Städten Alaskas und den Lower 48 [3] und wissen nichts über die Lebensweise der Ureinwohner Alaskas, die über Hunderte von Generationen hinweg bis in die heutige Zeit fortdauert. Auch die Lärmemissionen und die Umweltverschmutzung durch Tausende von Jägern und Fischern, die mit ihren Flugzeugen und Booten in unberührte Gebiete eindringen, bereiten den Urvölkern Alaskas und ihren Ältesten große Sorgen. Sie beklagen insbesondere die zunehmende Intensität der Catch-and-Release-Fischerei, also des Fangens und Wiederfreilassens, von Lachs zum sportlichen Zeitvertreib und nehmen diesbezüglich kein Blatt vor den Mund: »Sie spielen mit unserem Essen, nur um Geld zu machen oder aus selbstsüchtigem Vergnügen.« Die Ältesten haben seit vielen Jahren darauf hingewiesen, dass die Fische großen Schmerz spüren, wenn sie an Maul oder Speiseröhre von einem Angelhaken durchbohrt werden. Dieses Leiden, so die Ältesten, sei unnötig und würde sehr wahrscheinlich die Gesundheit und Fortpflanzungsfähigkeit der Fische schwächen. Erst in den frühen Zweitausenderjahren bestätigten Wissenschaftler in ihren Studien dieses traditionelle Wissen, erwähnten darin jedoch, wie es für solche wissenschaftlichen Arbeiten typisch ist, die wesentlich früheren Beobachtungen der Ureinwohner Alaskas mit keinem Wort.

Seit Jahrzehnten kämpfen Stammesführer für das Recht ihrer Völker, so zu leben, wie es ihre Vorfahren über Tausende von Jahren getan haben; sie kämpfen in Anhörungen, in Ausschüssen auf Gemeinde-, Staats- und Bundesebene, in bundesstaatlichen Parlamenten und im US-Kongress und vor Gerichten. Die Menschen erwarten von ihren Stammeshäuptlingen, dass diese sich für den Schutz ihrer Lebensweise einsetzen, denn es steht zu viel auf dem Spiel: die Möglichkeit der Familien, sich das ganze Jahr hindurch zu ernähren, das Recht, traditionelle Lebensweisen der Verbundenheit und der Harmonie mit der Erde aufrechtzuerhalten, sowie die Fähigkeit, ihre Sprache zu pflegen, die in traditionellen Bräuchen und in ihrem Land verwurzelt ist. Der Verlust der Rechte der Ureinwohner und des Zugangs zu traditionellen Nahrungsmitteln würde eine wirtschaftliche, ernährungstechnische, kulturelle und spirituelle Katastrophe für Alaskas Ureinwohner bedeuten.[4]

 

Jeder ist es wert, geachtet und willkommen zu sein

Stammeshäuptlinge stehen an vorderster Front im Kampf um den Schutz indigener Lebensweisen in Alaska. Daher ist es von großer Bedeutung, für wen und unter welchen Umständen sich die Wählerinnen und Wähler entscheiden, und darin lag denn auch der Grund, weshalb sich die Ältesten in dieser Gegend entschieden hatten, zum Wohle des Ganzen in die anstehende Wahl einzugreifen. Ihre Sorge galt nicht so sehr der Person, die gewählt werden könnte, sondern viel mehr dem Prozess des Wählens, also der Art und Weise, wie die Wahl vonstattenging.

Yupik-Mann

Yupik-Mann, 1929. Quelle: Wikimedia Commons

Als wir in der Sporthalle der Schule eintrafen, waren um die dreihundert Menschen anwesend, die auf den Tribünen Platz gefunden hatten. In der Mitte des Spielfelds stand ein einzelnes Mikrofon. Alles war sehr zwanglos, man lachte und scherzte miteinander, grüßte bekannte Gesichter, winkte Freunden und Familienmitgliedern zu – eine vertraute Szene, wie sie immer zu beobachten ist, wenn sich Ureinwohner in Alaska treffen und einem das Gefühl vermitteln, dass es dabei um die Menschen geht. Solche Zusammenkünfte sind Momente, in denen Bekanntschaften erneuert und Freundschaften geschlossen werden oder man sich einfach wohlwollend begegnet, indem man sich in einer gemeinsamen Sprache begrüßt, sich neckt oder Witze erzählt. Ich habe keine einzige Versammlung indigener Völker – weder innerhalb noch außerhalb Alaskas – erlebt, bei der ich nicht das Gefühl hatte, dass jede und jeder mit allen anderen in einer echten Verbindung stand. In den indigenen Kulturen ist der einzelne Mensch wirklich von Bedeutung und niemand wird ignoriert. Jeder ist es wert, geachtet und willkommen zu sein. Egal wohin mich meine Reisen führen, ich liebe diese Art von Zusammenkünften, und diese sollte keine Ausnahme sein.

Ein Ältester trat gemeinsam mit einem jüngeren Mann ans Mikrofon, der sich als Dolmetscher herausstellte. Der Älteste hatte ein dunkelbraunes, scharf geschnittenes Gesicht und vollkommen weißes Haar. Ich mag solche Ältesten, die immer auch eine Jugendlichkeit ausstrahlen, selbst wenn sie bereits in den Siebzigern oder Achtzigern sind. In ihren Augen funkelt eine kindliche Unschuld mit der Weisheit von jemandem, der viel durchlebt und gesehen hat. Camai (ausgesprochen Tschamai), der Älteste, begrüßte alle und fuhr in seiner Yupik-Sprache fort; der Dolmetscher übersetzte für alle, die kein Yupik verstanden: »Er sagt, die Ältesten hätten diese Wahl übernommen, weil sich ihr bisheriger Verlauf so störend für die Gemeinden und deren Wohlergehen gestaltet habe. Dies sind die Regeln der anstehenden Wahl, wie er sie skizziert: Jeder Kandidat für das Amt des obersten Häuptlings erhält die Möglichkeit, vor der Menge zu sprechen, doch kein Kandidat darf über sich selbst sprechen, sondern ausschließlich über seinen Gegenkandidaten. Der Redner, der die meisten guten und wahren Dinge am Gegenkandidaten findet, wird diese Wahl gewinnen.«

Aus dem großen Publikum heraus konnte man einzelne Kommentare der Zustimmung vernehmen: »Jetzt kommen wir endlich zur Sache«, sagte jemand hinter mir. »Gut!«, hörte ich eine weitere Stimme, die einer Yupik-Frau, sagen, »genau so ist es bei uns Tradition!«

 

»Ich glaube, du wärst ein guter Anführer für unser Volk«

Der Dolmetscher fuhr mit dem Übersetzen fort: »Er sagt, sie würden nun die Kandidaten nennen, die jeweils übereinander zu sprechen haben.« Die Namen wurden aufgerufen, und die beiden Hauptkandidaten für das Amt des obersten Häuptlings wurden ausgewählt, um übereinander zu sprechen. Es waren diese beiden gewesen, die während des Wahlkampfs so harte Worte übereinander verloren, Gefühle verletzt und dadurch eine Spaltung quer durch Familien und Gemeinden ausgelöst hatten.

Zwei Älteste aus dem Volk der Haida

Zwei Älteste des Volks der Haida. Quelle: Adobe Stock

Die Kandidaten wussten, dass die Ältesten erkennen würden, falls sie Qualitäten des Gegenkandidaten anführen sollten, die diesen gar nicht auszeichneten. Und falls einer der Kandidaten über den anderen schlecht reden sollte, würde er nicht nur die Wahl verlieren, sondern, noch schlimmer, in den Augen seines Volkes Schande über sich bringen. Solche Dinge gerieten selten in Vergessenheit und die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit in den Augen der Menschen könnte Jahre dauern. Jeder Kandidat musste daher sehr achtsam bei der Wahl seiner Worte sein, mit denen er den anderen zu beschreiben versuchte.

Ich hörte zu, beobachtete und war fasziniert. Dann erhob sich Charlie, einer der Hauptkandidaten, um das Wort zu ergreifen: »Ich kenne William. Er ist ein guter Vater und kümmert sich gut um seine Familie. Er achtet auf seine Kinder und lehrt ihnen unsere Bräuche. Er kennt sich in unserer Kultur sehr gut aus und teilt sein Wissen unvoreingenommen mit jedem, der danach fragt. Ich habe William als sehr guten Jäger und Fischer erlebt. Er kennt die Ländereien und Gewässer, wie es unsere Vorfahren taten. William nimmt an den Zusammenkünften des Stammesrats teil, weil er, das weiß ich genau, sich um unser Volk und unsere Art zu leben sorgt. William spricht sehr gut Yupik und Englisch und kann daher mit uns und mit Menschen von außerhalb kommunizieren. Ich weiß, dass William ein Mann ist, der die schwierigen Dinge unserer modernen Zeit verstehen kann.« Charlie hielt eine ganze Weile inne, dann stockte seine Stimme. Als er sie wiedergefunden hatte, sagte er mit Tränen in den Augen: »Mir ist bewusst, dass William ein guter Mann ist und dass er sich wirklich um jeden sorgt, so wie wir alle, die für die Position des obersten Häuptlings kandidieren! Ich habe in der Vergangenheit einige schlechte Dinge über diesen Mann gesagt, und es tut mir leid. Es war egoistisch von mir und ich hoffe, dass William in seinem Herzen den Ort findet, mir zu verzeihen.« Charlie setzte sich. Die Stille im Raum war spürbar, und dann – plötzlich – setzte tosender Applaus ein.

Nun war es an William, die richtigen Worte zu finden: »Danke für deine guten Worte, Charlie. Du bist ein guter Mensch und beweist Mut mit dem, was du sagst. Ich akzeptiere deine Entschuldigung und auch ich muss mich entschuldigen für das, was ich über dich gesagt habe. Ich bereue das heute sehr. Du bist ein guter Mann. Wir alle wissen, dass du ein guter Mann bist. Du bist einer der besten Jäger in dieser Gegend, und du verhältst dich anständig, sodass du ein gutes Vorbild für unsere jungen Männer bist. Ich habe deine Achtung und deinen Respekt für die Tiere beobachtet, die du jagst. Du sorgst dafür, dass das Tier schnell getötet wird und nicht leiden muss. Du verschwendest nichts vom Tier und passt auf, dass alle anderen Jäger ihren gerechten Anteil bekommen. Du bist ein sehr anständiger Mensch. Und wenn du nach der Jagd ins Dorf zurückkehrst, teilst du großzügig mit den Ältesten, den Witwen und deiner Großfamilie. Du bist ein großzügiger Mensch. Du bist immer bereit, anderen Jägern zu helfen, wenn sie ihr Boot zu Wasser lassen oder einholen müssen. Du unterstützt andere Jäger dabei, die Robben und Walrosse zu zerlegen, ohne dich je zu beschweren, so, wie es uns unsere Väter und Vorfahren lehrten. Charlie, du hast unsere Art zu leben, gut gelernt, du bist ein guter Lehrer, Ehemann und Vater. Ich glaube, dass du über die notwendigen Eigenschaften verfügst, um ein guter Anführer für unser Volk zu sein. Ich bitte dich um Verzeihung für die schlechten Dinge, die ich über dich gesagt habe. Bitte vergib mir.« Und an diesem Punkt brach William in Tränen aus und ging auf Charlie zu. Charlie erhob sich und beide Männer umarmten sich mit Tränen in den Augen.

Wenn eine ganze nationale Bürgerschaft und ihre Führer sich gegenseitig verbal bekämpfen, wenn offen über das Töten gesprochen wird, frage ich mich oft, welche Botschaften damit an unsere Jugend gesendet werden.

Alle im Raum standen auf und applaudierten. Viele Leute waren zu Tränen gerührt; eine ältere Frau schluchzte vor Freude darüber, Zeugin einer solch großen Heilung gewesen zu sein, einer Heilung nicht nur für diese beiden Männer, sondern für alle Anwesenden aus allen betroffenen Dörfern. In der Folge lösten sich die Konflikte in den Gemeinden auf und die Harmonie war wiederhergestellt. Die Arbeit der Ältesten war abgeschlossen.

Es ist diese Weisheit, die es dem Volk der Yupik und der ganzen indigenen Kultur Alaskas ermöglicht hat zu überleben und zu gedeihen. Ich fühlte mich privilegiert, eingeladen zu sein, Zeuge dieser lebendigen Weisheit zu werden. All das steht in frappierendem Gegensatz zu dem, was wir üblicherweise bei unseren Landes- und Nationalwahlen sehen, bei denen sich unsere Anführer wortstark verprügeln und offen über das Töten von Feinden reden. Wie die Ältesten uns lehren, erzeugen solche Worte nichts als Spaltung und Streit. Wenn eine ganze nationale Bürgerschaft und ihre Führer sich gegenseitig verbal bekämpfen, wenn offen über das Töten gesprochen wird, frage ich mich oft, welche Botschaften damit an unsere Jugend gesendet werden. Ich mache mir Sorgen darüber, was unsere Kinder aufnehmen und wie sich dies in Zukunft auf uns auswirken wird, wenn sie an der Reihe sind.

© Ilarion Merculieff 2023
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag

Anmerkungen

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[1] Vermittler sind im Allgemeinen involviert in der Beratung bei gemeindepolitischen und kulturellen Fragen und stammen normalerweise aus der Region oder der Gemeinde.

[2] Der North Pacific Fishery Management Council (NPFMC) ist die zuständige Bundesbehörde zur Sicherstellung der Einhaltung des internationalen Vertrags und regelt auf Bundesebene die Fischerei in den Gewässern des Nordpazifiks.

[3] Mit “the Lower 48” bezeichnen die Einwohner Alaskas die Conterminous [aneinandergrenzenden] United States, also die achtundvierzig (von ihnen aus gesehen südlich gelegenen) nicht durch Ozeane oder internationale Grenzen voneinander getrennten »Festland«-Bundesstaaten der USA [Anmerkung der Übersetzer].

[4] Wenn die Möglichkeit, nach traditioneller Nahrung zu jagen und zu fischen, verloren ginge, würde die Verbindung zwischen den erfahrenen, älteren Jägern und den jungen Männern durchtrennt. Ebenso würde die Verbindung zwischen den älteren und den jüngeren Frauen gekappt, wenn die Möglichkeit, wilde Nahrung zu sammeln, verschwände. In diesen »Lebenslerncamps« kommen die Jüngeren in ausgedehnten Kontakt mit den Älteren, erlernen ihre Sprache im Kontext der realen Erfahrung, aus der sie hervorgegangen ist, erhalten Ethik und Werte eines »echten Menschen« vermittelt, wie zum Beispiel die Art und Weise, wie man als Gruppe zusammenarbeitet, wie man Lebensmittel mit anderen teilt, wie man Fische und Wildtiere respektiert und schätzt und wie man den Ältesten, dem Land, den Fischen und Wildtieren sowie den Gewässern Respekt entgegenbringt. Diese Lebensweisen sind weitaus wichtiger, als es den meisten Nicht-Indigenen bewusst ist, und sie werden ständig von uniformierten Bundes- und Staatsbeamten sowie von Teilen der Öffentlichkeit infrage gestellt, denen das Verständnis dafür fehlt, warum diese Lebensweisen so schützenswert sind.