Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst
Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst
Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst
Weihnachten ist das Fest der Unberechenbarkeit Gottes. Deshalb ist das eigentliche Tun, die letzte Haltung der Heiligkeit: ein Bereitsein, ein Ausharren, ein Auftun der Seele, ein Ausbreiten der Arme. Ein Text des ungarisch-schweizerischen Theologen und Philosophen Ladislaus Boros (1927–1981)
eihnacht ist das Fest, das uns wieder zum Bewusstsein bringt: Gott ist anders; Er kennt keine Gewöhnung; Seine Wege sind immer neu; Er ist jung; Er kommt zu uns, wie Er will. Somit feiern wir an Weihnachten auch das Fest der Unberechenbarkeit Gottes. Nicht nur in der Weihnachtsnacht, auch später, nach seiner Auferstehung, ist der Herr stets so erschienen, dass wir ihn mit einem anderen verwechseln konnten: als Gärtner, als Wanderer, als Hungriger, als Mann am Ufer. Dass Gott anders zu uns kommt, als wir Ihn erwarten, dass Seine Wege sich nicht vorausberechnen lassen, kann eine Bedrohung sein für den gottsuchenden Menschen. Wie kühn und selbstüberwindend musste der Glaube jener gewesen sein, die zum ersten Mal vor einem Kind im Stroh niederknieten und in ihm Gott anbeteten! In diesem Zusammenhang wollen wir über ein Thema nachdenken, das in den Weihnachtsbetrachtungen fast nie vorkommt oder nur am Rande erwähnt wird: über die Versuchungen der Weihnacht.
Dies ist ein Artikel aus unserer Gesamtausgabe von Ladislaus Boros, Band 9: Kürzere Schriften
Die erste Versuchung: Gott lässt Sich nicht festlegen
Die erste Versuchung der Weihnacht heißt: Gott lässt Sich nicht festlegen. Die Unberechenbarkeit Gottes macht, dass der Mensch Ihn nie in seine Gewalt bringen, Ihn nie so festhalten kann, wie er Ihn haben möchte. Gott entzieht Sich immerfort unserem Zugriff. Er lässt Sich nicht einfangen in Regeln, Systeme und Methoden. Selbst die Heiligen sind nur zu oft dieser Versuchung erlegen: Sie wollten immer wieder Gott zwingen durch die Anhäufung ihrer Vorkehrungen, durch die große Summe ihrer Gebetsworte, durch die langen Zeiten, die sie mit ihrem Grübeln erfüllten. Sie verlangten oft danach, Gottes Nähe, Sein Wort, Seine Offenbarung allzeit zur Verfügung zu haben, Seine Tröstungen, Sein Licht, Seine spürbare Gnade dauernd zu fühlen. Gott hat sie eines Besseren belehrt.
Zwar soll der Mensch durch Gebet, Selbstüberwindung und vor allem durch schlichte Güte im Alltag die Wege Gottes bereiten. Er soll Hügel einebnen und Täler ausfüllen. Aber: Ob Gott dann diese Ihm vorbereiteten Wege betritt, ob Er die festlich geschmückte Tür oder eine andere wählt, das liegt allein bei Ihm. Deshalb ist das eigentliche Tun, die letzte Haltung der Heiligkeit: ein Bereitsein, ein Ausharren, ein Auftun der Seele, ein Ausbreiten der Arme. Gott gibt Seine Gegenwart, wo und wann und wie Er will. Der Römerbrief drückt diese Dimension menschlicher Gottbeziehung unmissverständlich aus:
Ich werde Mich dessen erbarmen, dessen Ich Mich erbarme, und mit dem Mitleid haben, mit dem Ich Mitleid habe. Also nicht auf das Wollen noch auf das Laufen kommt es an, sondern auf den Sich erbarmenden Gott (Röm 9.15–16).
Die gleiche Haltung fand im Psalm 127 ihren überwältigenden Ausdruck:
Wenn Jahwe nicht das Haus baut, mühen sich umsonst, die daran bauen. Wenn Jahwe nicht die Stadt behütet, späht umsonst der Wächter aus. Umsonst ist es auch, dass ihr früh euch erhebt und spät euch niedersetzt, und esset der harten Mühsal Brot: Er gibt es Seinem Freund im Schlaf.
Noch am ehesten lässt sich die unberechenbare, nicht festlegbare Ankunft Gottes durch das wesenhafte Schweigen, durch die Stille vorbereiten. Deshalb heißt es auch in der Weihnachtsmesse:
Tiefes Schweigen hielt alles umfangen, die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte ihres Weges erreicht, da kam, Herr, aus dem Himmel, vom Königsthron herab Dein allmächtiges Wort (Weish 18.14–15).
Der Apostolische Vater Ignatius, zweiter Nachfolger Petri auf dem antiochenischen Bischofsstuhl, nannte in seinem Brief an die Magnesier Christus »das aus dem Schweigen hervorgegangene Wort«. Schon die Heiden erahnten diese Zusammenhänge: Die urechte Haltung des Geistes ist – so sagte Heraklit – ein »Hinhorchen auf die Wahrheit der Dinge«, ein Stillwerden vor dem Geheimnis. In der Stille erfahren wir die immerwährende Neuheit Gottes. In ihr machen wir uns auf Seine Unberechenbarkeit gefasst.
Die zweite Versuchung: Gott ist oft enttäuschend
Die zweite Versuchung der Weihnacht ist: Gott ist oft enttäuschend. Wie soll dieses kleine Kind die Welt mit fester Hand zügeln? Aber nicht nur in der Nacht Seiner ersten Ankunft, sondern auch in Seiner ganzen Weltregierung zeigt Sich Gott scheinbar armselig und hilflos. Unser Gott ist nicht genügend leuchtend. Wir möchten Ihn schöner, wunderbarer, mächtiger haben. Warum zeigt Er Seine Macht nicht deutlicher? Warum schont Er die Schurken und lässt die Menschen guten Willens Attentaten zum Opfer fallen? Warum vergeudet Er so viel kostbare Bemühung? Warum lässt Er halbvollendete Werke in Trümmer fallen und fängt alles von vorne an? Gott ist offensichtlich der Welt nicht gewachsen.
Merke aber: Der Mensch ist immer geneigt, enttäuscht zu sein durch das, was ihm das Teuerste ist, was er für immer liebgewonnen hat. Das Eigentliche hat nicht die Evidenz, die gleichsam dichte Vorhandenheit des Vordergründigen. Wir können nicht erwarten, dass das, was für uns leuchtend ist, für alle Menschen leuchtend werde, wie durch ein Wunder. Es ist dennoch schwer zu ertragen, dass das für uns Schöne nicht für alle Menschen schön ist. So wird der Mensch, selbst der heiligste, oft an dem irre, was ihm das Liebste ist: an seiner Mutter, an seiner Frau, an seinem Freund, an seinem Gott. Bemüht er sich aber, diese Versuchung zu überwinden – und das ist der wesenhafte Auftrag des Weihnachtsfestes an unser Christsein –, so bemerkt er, dass das Eigentliche nicht vorweisbar ist, dass es in dem Maße wächst, als unsere Hingabe reiner geworden ist.
Vom Liebsten darf man nicht erwarten, dass es für alle lieb, vom Herrlichsten, dass es für alle Menschen herrlich sei. Es gibt eine letzte Tiefe menschlicher Existenz, wo das Geschenk ganz individuell wird, einmalig, nur für diesen einzigen Menschen gültig. Durch die überwundene Versuchung der »Enttäuschung durch Gott« vertieft sich die Welt geistig um uns herum, erschließt uns ihre wesenhaften Bezüge hinter der von allen erfassbaren OberXäche. Jeder Vorstoß ins Eigentliche muss durch diese Versuchung der Enttäuschung hindurch.
Die dritte Versuchung: Gott weist uns in den Alltag zurück
Die dritte Versuchung der Weihnacht besteht darin, dass Gott uns in den Alltag zurückweist. Das hat Er getan, indem Er ein Kind wurde und einfachen Menschen untertan war. Religiöse Eigentlichkeit und Hochmut können im menschlichen Wesen dicht nebeneinander existieren. In den echt religiösen Erfahrungen wird der Geist fühliger, heller und weiter. Die Grenzen des eigenen Seins dehnen sich aus. Eine Höhe des Daseins wird erreicht, die zugleich die Höhe der Welt ist. Das Gemüt schwebt über einem leuchtenden Abgrund. Die ganze Welt erscheint in solchen Momenten als klein und kümmerlich. Der Geist ragt ins Andere, ins Unbekannte hinein, über alles Weltliche hinaus. Ein mächtiges Kraftgefühl und eine Herrschergröße erwachen in ihm.
Von diesen Höhen der Welt muss der christlich religiöse Mensch zurückkehren in die Kümmerlichkeit der kleinen Leute, in die Frömmigkeit des Alltags, wohin sein menschgewordener, kindgewordener Gott ihn ruft. Damit hat die Weihnacht die ganze menschliche Religiosität umgeworfen. Von nun an vollzieht sich Größe immer in einem Vergessen und Nichtbeachten der eigenen Größe, in der Überwindung des Hochmuts. Die Größe sucht sich von nun an nur in jenen Menschen Wohnung, die wissen, dass sie nichts sind, die eines Tages ihrer selbst, ihrer eigenen Herrlichkeit überdrüssig werden. Es besteht von nun an eine enge, unauflösliche Verbindung zwischen Verzicht auf Größe und echter menschlicher Größe oder, mit anderen Worten ausgedrückt, zwischen Opfer und Freude. Das erscheint widerspruchsvoll, wie das im Augenblick geschieht, in dem eine Mutter ihrem Kind das Leben schenkt. Dass Opfer und Freude eine Einheit bilden, dass man sich nur durch Geben bereichert, dass man verzichten muss, um wirklich groß zu werden, das ist eine Wahrheit, die man zwar erfährt, aber nicht beweisen kann.
Diese Unbeweisbarkeit der letzten Grundlagen menschlicher Wesentlichkeit bildet die mächtigste Versuchung unseres Christseins. Nur eine bis ans Ende des Lebens bestandene Versuchung kann die Einsicht bringen: Wer sich groß macht, wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt, wird erhoben. Es ist fast unmöglich, diese feinsten Bezüge der Welt des Herzens mit treffenden Worten auszudrücken. Das Lied Mariens – unser eigentlichstes Weihnachtslied – verstand es:
Macht hat Er geübt mit Seinem Arm und zerstreut, die stolzen Herzens sind. Herrscher hat Er vom Thron gestürzt, Niedrige aber erhoben. Hungernde hat Er mit Gütern erfüllt, Reiche gehen lassen mit leeren Händen.
Wer nicht wüsste, woher dieses Lied stammt, könnte meinen, es sei das Lied einer Revolution. Und es ist wirklich ein Lied der Revolution, der Revolution der Weihnacht.
Menschwerdung Christi – Menschwerdung des Menschen
Der Geist der Menschwerdung, der Geist der Weihnacht heißt also schlicht und dicht:
Er war in göttlicher Gestalt und wollte doch nicht gewaltsam an seiner Gottheit festhalten. Er gab sich vielmehr hin, nahm Knechtsgestalt an und war den Menschen gleich. In seiner ganzen Erscheinung als Mensch erfunden, entäußerte er sich selbst und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuze (Phil 2.6–8).
Hier wurde unserem Christsein ein Weg gewiesen: Selbstlosigkeit, Selbstentäußerung ist die Vorbedingung christlicher Selbstwerdung. Der Mensch findet sein eigentlichstes Wesen, indem er sich dahingibt. Darin bewahrt er sich selbst und erlangt Vollendung. Der Mensch kann sich nur halten, indem er den Griff seiner Selbstsucht lockert. Das menschliche Sein ist wesenhaft auf eine Ekstase hin gebaut: Es findet sich nur dadurch, dass es sich aussetzt. Je mehr sich der Mensch an sich selbst klammert, desto weniger ist er »er selbst«, desto weniger ist er ein Mensch.
Der Geist der Menschwerdung Christi ist also auch der Geist der Menschwerdung des Menschen. Sperrt sich der Mensch in seinem eigenen Ich ein, so findet er sich selbst leer und ohne Verheißung. Somit schließt die Selbstwerdung des Menschen (und die Menschwerdung Gottes) in letzter Analyse den Tod ein. Erst im Tode wird der Mensch nämlich dermaßen, »von sich genommen«, dass er fähig ist – wenn er dieses Von-sich-genommen-Sein frei bejaht –, vollendet demütig zu sein, das heißt, das vollendete Sein zu erreichen, indem er sich vollends verschenkt.
Deshalb fasst Paulus die Menschwerdung Christi als einen »Gehorsam bis zum Tod« auf. Wer aber – in unserer Heilsordnung – »Tod« sagt, meint zugleich Auferstehung. So ist der Weg dieses kindgewordenen Gottes von der Gesinnung der Menschwerdung her bereits vorgezeichnet. Er wird der gestorbene und der auferstandene Gott sein. Wir erahnen nun, welch eine unsagbare Belastung und zugleich welch eine Verheißung die Weihnacht für uns ist.
Begreifen ist immer nur der Anfang noch größeren Begreifens
Zusammenfassend können und müssen wir sagen: In der Tat der Menschwerdung hat Gott eine neue Ordnung erschaffen. Eine Ordnung, in der das bewusst bejahte Kleinsein zur Vollendung führt. Gott hat uns in eine Bewegung der Selbstloslösung hineingerissen, in eine Selbstloslösung, aus der – durch die Hinnahme des Todes – die Auferstehung hervorgehen wird. Dabei musste Gott alle unsere Systeme und Ahnungen umwerfen. Er musste uns der Gefahr der Unberechenbarkeit, der Enttäuschung und der Alltäglichkeit aussetzen. Erst darin wird das in sich einrollende menschliche Ich aufgebrochen auf eine ewige Erfüllung hin.
Eine letzte Andeutung noch: Selbst wenn wir diese letzten Zusammenhänge begriffen haben – und wenn es uns gelang, so war es die Gnade der Weihnacht –, dürfen wir nicht meinen, das Letzte erfasst zu haben, vom Letzten erfasst zu sein. Es war nur eine Etappe auf dem endlosen Weg, auf dem Weg unseres grenzenlosen Hineinschreitens ins Geheimnis. Das Begreifen ist immer nur der Anfang eines noch größeren Begreifens. Gott werden wir immer nur nachstürmen. Ihn, Seine Gedanken holen wir nie ein. Mag das jetzt auf der Ebene unserer irdischen Existenz als Not erscheinen, es ist in Wirklichkeit die Voraussetzung grenzenlosen Glücks. Wir bleiben ewige Gottsucher.
Darin ist der Gang der morgenländischen Weisen ein Symbol sowohl unserer irdischen Existenz als auch unserer himmlischen Erfüllung.
Wir suchen Gott, um Ihn zu finden, während unseres irdischen Lebens. Wir suchen Gott, nachdem wir Ihn fanden, in der ewigen Seligkeit. Damit man Ihn suche, um Ihn zu finden, ist er verborgen; damit man Ihn suche, nachdem man Ihn fand, ist Er unermesslich (Augustinus: In Joannis evangelium tractatus 63:1).
Das ist die Struktur des geschöpflichen Werdens zu Gott, eines Werdens, das seinem Wesen nach nie ein Ende hat. In diesem Geist knien wir vor unserem kleingewordenen Gott nieder, verstummend vor Seinem Geheimnis. Vielleicht erhalten wir von Ihm, wie die Weisen aus dem Morgenland, die Weisung, »auf einem anderen Weg« in unser Land, in die Welt der Alltäglichkeit zurückzukehren. Denn: Wer einmal von diesem Gott ergriffen wurde, wer in Ihm sein Heil erschaut hat, für den hat ein neues Leben mit gänzlich neuen Wegen begonnen.
© Annegret Boros 2022
Aus Ladislaus Boros: Sinn der Weihnacht in Gesamtausgabe, Band 9, Xanten: Chalice Verlag, 2023, Seiten 279–284.
Hören Sie hier die Manuskriptlesung dieses Textes durch Ladislaus Boros in einer historischen (technisch leider nicht besonders guten) Tonbandaufnahme vom 25. Dezember 1977.
Ladislaus Boros
Der unberechenbare Gott: Die Versuchung von Weihnacht
26 Minuten
Weitere Aufnahmen finden Sie im Audioarchiv Ladislaus Boros.
Texte zum Thema
Ladislaus Boros: »Menschwerdung – eine Weihnachtsmeditation«
Ladislaus Boros: »Der unberechenbare Gott – eine Weihnachtsmeditation«
Ladislaud Boros: »Sinn der Weihnacht: der junge Gott«
Paul Coutinho: »Seid wachsam! – Zur Adventszeit«
Agnes Hidveghy: »Stille Nacht, Heilige Nacht – Zeit der Umkehr«
Johannes Maria Reißmüller: »Das Leben ist Liebe dem Wesen nach...«



