Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst
Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst
Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst
Gott ist Mensch geworden, um unsere menschliche Wirklichkeit zur Vollendung zu bringen, sagt der ungarisch-schweizerische Theologe und Philosoph Ladislaus Boros (1927–1981) in diesem ausführlichen Text über die dreifache Menschwerdung der Welt, des Menschen und Gottes.
ür uns Menschen und um unseres Heiles willen ist Er vom Himmel herabgestiegen.« So gibt das Glaubensbekenntnis Antwort auf die alte Frage der Christologie: Warum ist Gott Mensch geworden (cur Deus homo)? Es wird hier ein zweifacher Grund angegeben: für uns Menschen (propter nos homines); damit der Mensch »er selbst«, das heißt wirklich Mensch sein kann; und: um unseres Heiles willen (propter nostram salutem); damit er uns von der Schuld erlöse. Das sind die zwei heilsgeschichtlichen Grundfunktionen Christi. Unter ihnen gibt es eine Rangordnung. Diese wird im Glaubensbekenntnis auch unverkürzt zum Ausdruck gebracht.
Gott ist grundsätzlich deshalb Mensch geworden, damit Er unsere menschliche Wirklichkeit zur Vollendung bringe. Christus ist der Vollender des menschlichen Wesens. Unabhängig davon, dass die Sünde in die Welt eingetreten ist, hätte Er die Tat der Menschwerdung vollzogen. Da nun aber die Menschheit sich mit der Schuld belastet, das heißt, sich einer Gottesferne ausgeliefert hat, »musste« Christus uns zuerst mit Gott aussöhnen, unser Erlöser werden. Diese zweite (nachträgliche) heilsgeschichtliche Funktion Christi hebt aber seine seit Ewigkeiten vorausgesehene und vorausgeplante Lebenstat nicht auf: Christus bleibt derjenige, der das Menschenwesen zu seiner Entfaltung bringt. Diese Vollendung des Menschenwesens vollzieht sich jedoch von nun an am Kreuz.
Das Letzte alles Aussagbaren heißt: »Gott ist Mensch geworden.« Dieser Satz stellt für unser menschliches Denken eine absolute Grenze dar. Vor ihm versagt menschliches Sprechen, jegliche Anstrengung und jegliches Gefühl.
Christus hebt unser menschliches Wesen (und damit auch das Weltall, das sich in uns verdichtet) in den Bereich der Vollendung hinein. Auch in diesem Sinne ist Christus der »erhebende Gott« (Deus elevans). Das Letzte alles Aussagbaren heißt: »Gott ist Mensch geworden.« Dieser Satz stellt für unser menschliches Denken eine absolute Grenze dar. Vor ihm versagt menschliches Sprechen, jegliche Anstrengung und jegliches Gefühl. Versucht man, in diese oft gehörte Aussage einzudringen, bemerkt man, wie zerbrechlich das menschliche Denken ist. Man muss deshalb vorsichtig sein, wenn man solche Sätze ausspricht. So vorsichtig, wie Gott selber war, Der die Menschwerdung lange vorbereitete, sie gleichsam aus der gesamten Menschheitserfahrung still emporsteigen ließ. Was wäre aus uns geworden, ohne diese große Geduld Gottes, die alles in zurückhaltender Aufmerksamkeit reifen ließ? Gott übt Schonung mit unserer gesamten Existenz, also auch mit unserem Denken. Das Ewige hat weder Angst noch Eile. Gott weiß um die Verletzlichkeit des Menschen. Deshalb zwingt Er nicht, schreckt nicht, nötigt nicht. Er steht still vor der Tür und klopft leise an.
So wollen auch wir in dieser weihnachtlichen Meditation das Geheimnis der Menschwerdung von einer Seite nachzuvollziehen suchen, die für uns menschlich erlebbar ist, wovon wir sprechen können, die uns nicht erschreckt und unser Denken nicht verwirrt. Als Leitfaden nehmen wir den unaufdringlichen Ausspruch von Paulus:
Alles gehört euch,
ihr gehört Christus,
Christus gehört Gott.«
(1 Kor 3.23)
In einer aufmerksamen Betrachtung über dieses für uns Nachvollziehbare möchten wir uns an das letzte Geheimnis herantasten: Christus ist der Vollender der Welt.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Weihnachtsmeditationen, enthalten in unserer Ladislaus-Boros-Gesamtausgabe, Band 9: Kürzere Schriften
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Weihanchtsmeditationen, enthalten in unserer Ladislaus-Boros-Gesamtausgabe, Band 9: Kürzere Schriften
»Alles gehört euch« – Menschwerdung der Welt
Eine der bemerkenswertesten Tatsachen der neuzeitlichen Denkentwicklung ist, dass der Mensch sich immer mehr seiner Weltverbundenheit bewusstwird. Er schaut aber die Weltwirklichkeit nicht mehr als eine statische Größe, gleichsam als einen schon immer vorgegebenen Rahmen an. Er betrachtet sie vielmehr als eine Einheit der Evolution, als eine Kontinuität des Werdens, welches sich als Herausbildung einer in Milchstraßen, Sonnensystemen und Planeten geordneten Welt, als Hervorbringung von immer komplizierteren Formen des Lebens, als Sich-Vorantasten zu einem immer höheren Grade des Bewusstseins bemerkbar macht. Mit dieser Welt fühlt sich der Mensch verbunden. Er betrachtet sich als das »Produkt« einer jahrmilliardenlangen Entwicklung, gleichsam als die Blüte, oder die äußerste Spitze einer universalen Anstrengung der Welt. Das All ist in seinem Wesen beheimatet. Die Stelle der radikalsten Verbundenheit des Menschen mit dem Universum ist der Leib. In ihm und durch ihn geht die Welt ins Geistige über. So ist der Menschenleib der Ort der Umwandlung. In ihm vereint sich die Weltmaterie mit dem Geist. Das Wesen des Geistes besteht aber darin, dass er unendlich offen ist auf das Unendliche hin. Diese radikale Umformung des Materiellen ins Geistige heißt einfach »Mensch«, »leibgewordener Geist« oder »geistgewordene Materie«. Somit ist der Mensch das Zentrum des Alls. In ihm konzentrieren sich die materiellen Kräfte der Welt und stoßen in den Bereich des Geistes vor. Der Mensch ist die Einheit aller Natur, die höchste Einigung des Werdens der Welt.
Nach der christlichen Philosophie – die einen ihrer denkerischen Höhepunkte bereits bei Thomas von Aquin [/] erreicht hat – ist der Mensch ein einheitliches Wesen. Materie und Geist sind in ihm wesenhaft geeint. Der Mensch setzt sich nicht aus zwei »Dingen« zusammen (aus Materie und Geist), sondern ist ein einziges Wesen. Aus den Zweien entsteht ein Drittes, das keines von den beiden ist. Die menschliche Seele ist die höchste Ausfaltung des Leibes. Erst durch die Lehre von Thomas von Aquin über die »Leib-Seele-Einheit« vermögen wir den Sinn jener Weltverbundenheit des Menschen anzugehen, von der vorher die Rede war. Durch diese Beziehung des Leibes zur Seele kann das Weltall wirklich hineingehen in die Offenheit des Geistes. Das Produkt der jahrmilliardenlangen Anstrengung der Welt, der menschliche Leib, ist wirklich Geist. Er beherbergt nicht nur Geist, sondern ist seinshaft eins mit ihm. Die Entwicklung des Weltalls bekundet eine Vorzugstendenz für das Komplexere und Einheitlichere. Mit der Höherentwicklung des Lebens wird diese Ausrichtung immer deutlicher, bis schließlich im Menschen die Welt zu ihrer Eigentlichkeit durchbricht, zu Geist wird. Entwicklung ist in dieser Perspektive »Menschengeburt«. Seit den allerersten Anfängen des kosmischen Werdens geschieht »Menschwerdung der Welt«.
Diese kosmische Menschwerdung muss überall, in jeder ihrer Phasen (und nicht nur bei der Erschaffung der menschlichen Seele) als echte Schöpfung aufgefasst werden. Dies geht aus dem Begriff der Evolution selber hervor. Evolution bedeutet doch, dass aus einem Weniger ein Mehr wird, dass der Weltbestand sich seinshaft überbietet. Dies geschieht nicht nur hie und da, sondern in jedem Augenblick während des ganzen Prozesses der Entwicklung. Es wäre ein denkerisch unhaltbarer Kompromiss, wollte man sich dabei auf ständige Eingriffe Gottes in die Schöpfung berufen, als ob die Welt eine Maschine wäre, die Gott im Laufe der Zeit auf immer höhere Touren bringt. Die Welt selber evolviert sich, und nicht Gott evolviert die Welt. Gott steht außerhalb der gesamten Ursachenreihe der Welt, ist nicht ein Glied in der Kette der Zweitursachen. Gott schafft die Welt, indem Er ihr die Kräfte verleiht, sich selbst zu schaffen, ihren Seinsbestand immer höher zu heben, ja, sich in den Geist hinein zu entfalten. In dieser Perspektive wäre es völlig berechtigt zu sagen, die Welt selber bringe von sich aus den menschlichen Geist hervor, ohne dass wir dadurch die unmittelbare Sondererschaffung jeder einzelnen Menschenseele durch Gott irgendwie in Zweifel ziehen würden. Wir sind mit Leib und Seele Kinder der Erde, ganz. Und wir sind auch, ja gerade darin, Kinder Gottes, ganz.
Hier wäre noch ein letzter Gedanke zu erwähnen. Indem wir als Kinder der Erde existieren, tragen wir bereits das Leben Gottes in uns. Wenn wir gemeinhin sagen, Gott erschaffe uns aus dem Nichts, so ist das nur eine rein negative Bestimmung der Schöpfertätigkeit. Das Eigentliche und Positive der Schöpfung heißt dagegen: Gott erschafft uns aus nichts anderem als aus Sich selbst. Nach keinem anderen Gesetz, unter keinem anderen Einfluss. Alles Erschaffene lebt als Gedanke und Bild Gottes. So steht alles Geschaffene in einer geheimnisvollen Verbindung mit der zweiten göttlichen Person.
Der Logos ist der vollkommene Selbstausdruck des Vaters. Ein Bild, das dem Vater gegenübersteht und doch er selbst ist. In diesem vollkommenen Bild Gottes gründet die Möglichkeit einer Schöpfung überhaupt, das heißt die Möglichkeit eines endlichen Abbildes Gottes. Alles Erschaffene ist, indem und insofern es die Züge der zweiten göttlichen Person trägt.
Das bedeutet […], dass wir in einer heiligen Welt leben […], dass wir das Menschsein als heilig zu erfahren suchen [und] dass wir uns nicht zufriedengeben mit dem Schon-Verwirklichten.
Verbinden wir diesen Gedanken mit dem vorigen, mit der Idee einer dauernden Schöpfung, die sich uns als Evolution darstellt, so heißt es: Von Augenblick zu Augenblick geht die Welt mit schöpferischer Neuheit aus der zweiten göttlichen Person hervor. Der Logos ist an jedem Punkt der Evolution mit seiner schöpferischen Wirksamkeit gegenwärtig, schafft sich in der Welt sein eigenes Abbild.
Genauer: Er verleiht der Welt die Fähigkeit, sich aus eigenen Kräften immer mehr zu ihm »emporzuarbeiten«. »Das All ist in ihm, durch ihn und auf ihn hin erschaffen« (Kol 1.16). Das eigentliche, wenn auch nur vorläufige Ziel dieser kosmischen Bewegung ist der Mensch. Nach sehr langem Suchen und Herumtasten findet die Evolution (die evolutive Schöpfung) immer mehr ihre letzte Form. Langsam verebben die biologischen Kräfte der Verwandlung, da die Welt mit der Hervorbringung des menschlichen Geistes einen endgültigen Riss in die Materie geschlagen hat. Und immer mehr – jährlich, monatlich und stündlich –, immer mehr Geist wird in der Welt erschaffen und somit immer mehr Erkenntnis, Liebesfähigkeit und Freiheit.
Was bedeutet all das für unsere christliche Frömmigkeit im Alltag? Es bedeutet zunächst und grundsätzlich:
Dass wir in einer heiligen Welt leben, dass wir also in unsere christliche Anbetung die ganze Welt miteinbeziehen müssen. Dass wir innerlich erfahren sollen, wie in jedem Leben und in jeder Wahrheit Christus selbst aufleuchtet. Eine grenzenlose Achtung jeglicher Kreatur, eine Aufmerksamkeit für jegliches Leben, ein absichtsloses Gutmeinen mit der Schöpfung, selbst in ihren unscheinbarsten Vertretern, eine Offenheit für jegliche Wahrheit (woher sie auch kommen mag, von rechts oder von links) wird da von uns, und zwar als christliche Haltung in der Welt, gefordert. Es bedeutet dann aber auch, zweitens:
Dass wir das Menschsein als heilig zu erfahren suchen und uns den Menschen gegenüber entsprechend verhalten sollen. Dass wir also zunächst uns selbst annehmen, mit all unseren Grenzen und Verheißungen, mit unserer Müdigkeit, mit den Wünschen, die unsere Grenzen unaufhörlich aufbrechen. Dass wir also zunächst grundsätzlich einverstanden seien, überhaupt zu sein, dann aber auch mit dem, was wir geworden sind. Das Heute, das uns konkret aufgetragene Dasein, ist der Standort, von dem wir zu Gott zu gelangen haben. Dies ist heute durchaus nicht selbstverständlich. Ebenso auch: Dass ich den anderen Menschen in heiliger Ehrfurcht begegne, sie in ihrer Eigenart anerkenne, ihre Privatsphäre achte, die Kleinen und Wehrlosen verteidige, vor den Hilflosen innehalte. Ja, dass ich einfach menschlich höflich sei, mit all dem, was dazugehört, mit dem Mitempfinden und Bedenken fremden Lebens, seiner Zustände und Stimmungen, seiner jeweiligen Besonderheit. Schließlich, drittens, bedeutet es:
Dass wir uns nicht zufriedengeben mit dem Schon-Verwirklichten, mit unserer erreichten Situation. Dass wir den Drang der Welt, jenen Drang, der das Weltall auf immer höhere Stufen des Seins trieb und der sich schließlich in uns konzentrierte, bewusst sich in uns auswirken lassen. Dass wir also von uns selbst, von unseren Errungenschaften, von unseren Systemen, ja von unserem Begriff »Gott« nicht allzu viel halten. Vor allem, dass wir Gott immer größer denken müssen und Ihn nicht einsperren in den Rahmen fester Formulierungen. Dass wir also nicht meinen, Ihn »eingefangen« zu haben. Wir sollen das Leben weiterführen. Wir dürfen mit unserem Leben nicht knauserig sein, sondern uns von unserer Liebe hinaustragen lassen über jegliche Verwirklichung.
Diese drei Grundforderungen unseres christlich verstandenen Erschaffenseins eröffnen nun vor uns eine neue Dimension der Menschwerdung. Nachdem die Welt in uns menschgeworden ist, uns mit Leib und Seele hervorbrachte, haben wir die Aufgabe, »menschlicher« zu werden. Die Menschwerdung ist noch nicht vollendet. Die Weltentwicklung brachte nur jenen Seinsstoff hervor, aus dem wir uns durch eigene Anstrengung zu wirklichen Menschen gestalten sollen. Dies ist nun die zweite Dimension der Menschwerdung.
»Ihr gehört Christus« – Menschwerdung des Menschen
Die menschliche Wirklichkeit kann verschiedenartig und auf verschiedenen Wegen ihre Vollendung erstreben. Nichts liegt uns ferner, als diese Möglichkeiten der Einübung in die menschliche Eigentlichkeit auch nur andeutungsweise zu besprechen. Wichtig ist für uns dabei zunächst nur, dass der Mensch sich in der Welt nicht fertig vorfindet. Er ist gleichsam nur ein Vorentwurf seines eigenen Selbsts. Im Menschen ist immer eine geheime Spannung vorhanden zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein möchte. Zwischen dem, was er schon verwirklicht hat, und dem, was ihm noch zu leisten bleibt. Wer im menschlichen Bereich »sein« will, muss stets neu beginnen. Das Anfangen ist ein immerfort wirksames Element des Menschseins.
Dies bedeutet, dass der Mensch sich unaufhörlich neu entschließen muss, als Mensch zu bestehen. Dies fordert von ihm eine »Tapferkeit zum Menschsein«: Gefahren zu sehen und in ihnen standzuhalten; jede Situation, auch die schwierigste, zu benützen, um zu wachsen, um mehr Mensch zu sein. All das – und noch anderes mehr – bedeutet: das Lebendige und das Zukunftsverheißende aus unserem eigenen Wesen hervortreten lassen. Die Alten bezeichneten diese Anstrengung mit einem abgegriffenen Wort, das heute Missbehagen erweckt: »Tugend üben«. Wer aber schon erfahren hat, wie bitter es ist, auf das eigene Leben zurückzuschauen und sich dabei sagen zu müssen, dass dieses Leben nicht so geworden ist, wie es hätte werden können, der weiß, wie groß das damit Gemeinte ist.
Ist es aber so, dass der Mensch von sich aus sich selbst vollenden könnte; dass er aus eigener Bemühung zur Erfüllung der in ihm angelegten Möglichkeiten heranzureifen vermag? Dies ist leider (oder glücklicherweise) nicht der Fall. Damit kommen wir zum eigentlichen Kern unserer Betrachtung: Das eigentliche Wesen des Menschen ist menschlich unerreichbar; der Mensch kann sich selbst nicht verwirklichen; das Menschsein übersteigt sich selbst unendlich.
Dies möchte ich in einer kurzen Analyse der drei Grundfunktionen unserer menschlichen Wirklichkeit entfalten:
Die menschliche Erkenntnis. Erkennen bedeutet immer, dass der Geist eine konkrete Wirklichkeit zu seiner eigenen Innerlichkeit macht, ohne aber dadurch den Eigenbestand des Erkannten anzutasten. Durch die Erkenntnis verschiedener Einzelgegenstände beginnt der Mensch, sich in der Welt auszukennen. Er versteht langsam, wie Dinge, Lebewesen und Menschen sich verhalten und wie man sie, wenn man Erfolg haben will, behandeln soll. Er entdeckt Gesetze der Natur, Gesetze der sozialen Wirklichkeit und jene sehr komplizierten Eigenschaften des personalen Lebens, durch die das menschliche Zusammensein beherrscht wird. All das ist konkretes, vereinzeltes Wissen. Der Mensch versucht immer wieder, diese Erkenntnisbrocken in ein logisch durchgearbeitetes System zu bringen und scheitert dabei weitgehend. Dabei erfährt er aber gerade, dass er eine Ahnung von etwas Umfassenderem hat, das keineswegs aus seinen Einzelerkenntnissen zusammensetzbar ist.
Zuweilen ereignet sich vor seinen Augen eine wundersame Umwandlung der Welt. In einem Augenblick erlebt er, dass all seine bisherigen Erfahrungen das Eigentliche nicht erfasst haben, den Grund der Gründe, das Sein der Seienden. Von dorther wird er sich dessen bewusst, dass sein Wissensdrang unendlich mehr war als Neugier. Sein Geist wurde immer schon von einem Absoluten angezogen, von der Fülle des Seins. Indem er diesem Absoluten nachging, entdeckte er die Dinge des konkreten Lebens, die aber seine Sehnsucht nicht zu befriedigen vermochten. In jedem konkreten Erkenntnisakt wird das Ganz-Andere mitgewusst und mitverlangt. Somit ist der Mensch in seiner Erkenntnis immer schon (implizit) ein Gottsucher. Das Absolute tritt ihm in jedem Begrenzten nahe. Vollenden würde sich die menschliche Erkenntnis erst dann, wenn das Absolute für sie zu einer konkret fassbaren Wirklichkeit würde, wenn das unbegrenzte Sein sich restlos hineinverbergen würde in ein begrenztes Seiendes. In jedem Erkenntnisakt verlangt demnach der Mensch nach der Menschwerdung Gottes.
Die menschliche Sehnsucht. Auch die menschliche Sehnsucht ist aufgespalten zwischen der Maßlosigkeit des Anspruchs und der Begrenztheit der Verwirklichung. Der Mensch ist wesenhaft unzufrieden mit jeglichem Erfolg in der Welt. Etwas Geheimnishaftes lebt in ihm, das seine Taten immer weiter vorantreibt zu neuen Zielen, zu neuen Verheißungen. Mit unerbittlicher Notwendigkeit verlangt der Mensch nach einem Mehr. Jeglicher Versuch, die Fülle der Sehnsucht zu verwirklichen, ist aber zum Scheitern verurteilt.
Deshalb versucht der Mensch nur zu oft, unterwegs innezuhalten, das Vorläufige als endgültig zu nehmen. Er bleibt aber dabei – vielleicht uneingestanden – unglücklich und unerfüllt. Deshalb denkt der ehrliche Mensch gar nicht daran, wunschlos zu sein. Selbst in seinen alltäglichsten Erfahrungen lebt er stets ins Uferlose hinein. Sein Wesen »dämmert nach vorwärts«. Das Unbekannte als das Schönere und Eroberungswürdige lockte stets die Menschen. Und es lockt uns heute noch. Unser Wesen liegt noch an der Front. Unsere eigentliche Genesis ist immer noch im Gange. Jede Erfüllung ist für den Menschen nur ein Beginn eines weiteren Suchens. Der Geschmack am Glück, die Hoffnung auf eine noch größere Erfüllung gehören zu seinem Lebenselement. Der Mensch ist von seinem Wesen her aufgefordert, »in der Neuheit des Lebens zu wandeln« (Röm 6.4). Der Apostel Paulus weist aber auch darauf hin, wie belastend ein solches Leben ist: »Darum verzagen wir nicht: Denn mag auch unser äußerer Mensch sich aufreiben, unser innerer Mensch wird von Tag zu Tag neu« (2 Kor 4.16).
Dies bedeutet, dass der Mensch eine Dynamik auf das Menschlich-Unerreichbare in sich trägt. Das Gnadenhaft-Geschenkte ist immer zugleich das Notwendig-Gewollte. Die menschliche Sehnsucht könnte sich erst erfüllen, wenn sie mit ihrem eigentlichen »Gegenstand« konfrontiert würde, wenn das Absolute sich hineinbergen würde in das Fassbare und Erreichbare; wenn Gott zum Menschen würde. Im Sinnmittelpunkt aller Sehnsüchte des Menschen steht der menschgewordene Gott.
Was in der Liebe gemeint ist, übersteigt jegliche Verwirklichung. In der Liebe geschieht ein Vorgriff auf die letzte Vollendung.
Die menschliche Liebe. Die Liebe besteht in dem, dass zwei Personen eine Seinseinheit eingehen; dass sie seinshaft aussprechen: »Wir.« Liebe ist ein Vorgang, in dem zwei Menschen ganzheitlich voneinander her leben. Damit haben wir bereits ein Letztes der menschlichen Liebe ausgedrückt. Was in der Liebe gemeint ist, übersteigt jegliche Verwirklichung. In der Liebe geschieht ein Vorgriff auf die letzte Vollendung. Das letzte Ziel der Liebe ist wesenhaft mehr als alles, was von dieser Liebe jetzt verwirklicht werden kann. In seiner Liebe sucht der Mensch ein Unbedingtes jenseits alles Bedingten. Eine »begrenzte Liebe« ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Geschöpf in seiner Zerbrechlichkeit wird demnach in der Liebe zum »Gegenstand« unseres Strebens ins Unendliche. Eine Forderung, die kein Mensch erfüllen kann. Kein Geliebter ist der ihm zuströmenden Liebe gewachsen.
Die Liebe besteht demnach in einem täglich neuen Ringen gegen die Macht der unmittelbaren Evidenz (»du bist begrenzt«) und in dem verzweifelten Versuch, diesem Begrenzten eine Unbegrenztheit zuzuschreiben. Wer die Liebe je erfahren hat, der weiß, dass dies die eigentliche Versuchung menschlicher Liebe ist. Hier erahnen wir den tiefen Sinn des berühmten Liedes von Louis Aragon: «Il n’y a pas d’amour heureux» (Es gibt keine glückliche Liebe). Menschliche Liebe ist unvollendbar. Es sei denn, dass das Absolute sich in einem endlichen Menschen restlos darstellen würde. Der menschgewordene Gott ist demnach der eigentliche »Gegenstand« jeder menschlichen Liebe. Er ist innerlich mitgemeint, mitangestrebt überall, wo ernst und ehrlich geliebt wird.
Versuchen wir nun, die zwei ersten Punkte unserer Betrachtung zusammenzufassen. Der Drang der Weltentwicklung formt sich im Menschen um. Er lebt in uns als Träumen, HoVen, Begehren und Unruhe, als eine Ausrichtung des Endlichen auf das Unendliche. Diese Verengung der Gesamtevolution in der menschlichen Wirklichkeit erzeugt in uns einen gewaltigen Druck von Ideen und Wünschen. Deshalb gärt und brodelt es ständig in unserem Inneren. Das Universum will sich in uns zum Absoluten emporringen. Es ist nun ganz deutlich geworden: »Auf ihn hin wurde alles erschaffen.« Christus ist jener Pol, auf den alle Energien zusammenstreben. Die Geburt des Sohnes Gottes ist somit nicht ein vom kosmischen Geschehen isoliertes Ereignis. Die Menschwerdung Gottes ist die Vollendung des Universums und des Menschen. Gott »musste« in die Geschichte eintauchen, weil Er die Welt »auf Sich selbst hin« entworfen hat. »Alles gehört euch, ihr gehört Christus« – nun wollen wir auch das letzte Glied dieser dichten Aussage betrachten:
»Christus gehört Gott« – Menschwerdung Gottes
Nachdem wir das unfassbare Ereignis des Seins, die Menschwerdung, für unser Erlebnis vorbereitet haben, dürfen wir den Satz aller Sätze, das Geheimnis aller Geheimnisse aussprechen: Gott ist Mensch geworden. Wir haben gesehen: Es ist nichts »vernünftiger« als diese Aussage. Die ganze Welt und die Wirklichkeit des Menschen wären ohne sie nicht denkbar. Jetzt müssen wir uns aber anstrengen zu begreifen, wie ungeheuerlich all das ist, wovon wir bis jetzt gesprochen haben. Dies wollen wir tun, indem wir die drei Elemente dieser Aussage kurz darstellen: »Gott« – »Gott wird« – »Gott wird Mensch«.
»Gott.« Der Name steht für das Unfassbare und Schlechthin-darüber-hinaus-Liegende. Wenn der Mensch über Gott nachdenkt, kommt er unweigerlich in Versuchung. Er möchte alle Schönheiten der Welt, alle Sehnsüchte seines Herzens und überhaupt jegliche Erfüllung seiner Ahnungen zusammentragen. Dieses Hohe, Schöne und Erfüllende, das heißt das Beste seines eigenen Wesens, möchte er für »Gott« halten, also irgendwie sich selbst anbeten. Damit würde er aber alles zugrunde richten. Denn die Erfüllung liegt für den Menschen immer im Unerreichbaren. Gott ist gerade Das, Was nicht aus dem Seinsstoff der Welt Sich zusammensetzen lässt. Nur das Absolut-Andere kann das menschliche Wesen restlos erfüllen. Über das Erfüllende kann aber nur gesprochen werden, indem man das einmal Ausgesagte im gleichen Atemzug auch verneint. Vielleicht ist es eine besondere Gnade unserer Zeit, dass wir die Andersheit Gottes mit allen Fasern unserer Existenz erleben dürfen. Vielleicht geht es gar nicht anders: Die Menschheit muss diese schrecklichste aller Erfahrungen, die »Ferne« Gottes durchleiden, damit sie wieder ein Gefühl dafür bekommt, wie radikal »anders« Gott eigentlich ist.
»Gott wird.« Wenn wir es dennoch wagen, über Gott das Höchste und Reinste alles Denkbaren auszusprechen, dann müssen wir unbedingt eines sagen: Gott kann nicht werden. Gott ist Derjenige, Der über jegliche Wandlung und jegliches Vergehen unendlich erhaben ist. Er ist der »unbewegte Beweger«, Sich selbst genug, auf niemand angewiesen. Dieser BegriV von Gott ist erhaben und schön – zugleich aber grundsätzlich falsch. Wir können zwar Gott nicht anders denken; aber Gott ist dennoch anders. Im Lichte der weihnachtlichen Selbstoffenbarung Gottes wird uns bewusst, dass der Mensch, nachdem er sich mühsam daran gewöhnt hat, Gott als den Ganz-Anderen und Fernen zu denken, in Ihm nun zugleich den Uns-allen-Gleichen und -Nahen erfahren muss. Gott ist so, wie Er in Christus erschienen ist: »Philippus, wer mich sieht, der sieht zugleich auch den Vater« (Joh 14.9). Der Gott der Offenbarung kommt und geht. Er bereitet mühsam Seine eigene Ankunft vor. Nachdem Er zu uns gekommen ist, geht Er von uns weg, reißt Sich gleichsam von uns los. Er wird zu einem kleinen Kind, lebt eine unscheinbare Existenz unter uns, erlernt den Beruf eines Zimmermanns, unternimmt Wanderungen und Ausflüge, wird müde und abgespannt, vollendet sein Werk im Blutschweiß der Angst und im Schrei der Gottverlassenheit. Wenn schon das menschliche Denken an »Gott« zerbricht, so bleibt der Mensch vor einem »werdenden Gott« fassungslos. Diese Fassungslosigkeit steigert sich noch mehr, wenn er das dritte Element der Aussage bedenkt:
»Gott wird Mensch.« Es ist seltsam: Der Mensch verlangt mit seinem ganzen Wesen nach Gottes Anwesenheit. Wenn sich aber diese einstellt, vermag er sie nicht zu ertragen. In der Heiligen Schrift finden wir überall die folgende Struktur der Epiphanie, der Selbstoffenbarung Gottes: Die Begegnung mit Gott ist leidvoll und bedeutet einen Umsturz der gesamten Existenz. Wenn Gott erscheint, muss der Mensch sein Antlitz verhüllen, fällt wie tot hin. Der Mensch versteckt sich vor Gott (wie unsere Ureltern es – in einer tief symbolischen Gebärde – taten). Wohin soll aber der Mensch vor Gott flüchten? »Selbst in der Unterwelt bist Du noch da!« (Ps 139.8). Ein Fremder schaut uns unentwegt an: »Wie lange schaust Du von mir nicht mehr weg, gönnst mir nicht Ruh’, um den Speichel zu schlucken?« – so klagte schon Hiob (7.19). Das verwirrte Volk sprach am Sinai zu Moses: »Sprich Du mit uns, sonst sind wir des Todes« (Ex 20.19).
Doch in der Menschwerdung zerbricht Gott diese Erfahrung. Gott erscheint in einem Kind, das gar nicht bedrohlich ist, sondern hilflos in der Krippe liegt, um die Pflege und Liebe der Menschen – Seiner Geschöpfe – bettelt. Der Täufer sprach noch, unmittelbar vor dem Auftreten Christi, in drohenden Worten über das, was der Erwartete tun wird. Dann ist Christus erschienen, ein Mensch voll Verständnis und Güte. Einer, der die Sünder und die Schwachen in Schutz nimmt (nicht nur vor den anderen Menschen, sondern sogar vor seinem Vater). Christus stand unbedingt zu uns Menschen. So sehr, dass Paulus – zutiefst erschüttert – von ihm sagen kann: »Selbst wenn wir untreu sind, er bleibt treu, denn er kann sich nicht verleugnen« (2 Tim 2.13). Von nun an können wir nichts Menschliches ausdenken, das nicht auf Gott selbst anwendbar wäre, außer der Sünde. In Christus milderte sich Gottes Macht zur Anmut und zur Güte.
Eine der tiefsten Einsichten der paulinischen Theologie ist, dass Christus zwar gekommen ist, bis zum Ende der Welt aber stets im Kommen bleibt.
So ist also der Gott der Menschwerdung: unendlich fern und unendlich nah, unfassbar anders und uns allen ähnlich. Er vereinigt in Sich alle Schönheiten der Erde und führt all das hinaus über jegliche irdische Vollendbarkeit, hinein in das Leben Gottes. Von nun an ereignet sich in der Welt geheimnishaft nur eines: Christusgeburt. Das ist für uns heute der eigentliche Sinn der Weihnacht. Denn: Die Hirten stehen nicht mehr lauschend auf dem Feld, das Kind Jesus liegt nie mehr in der Krippe. Das ist ein für alle Mal vorbei. Aber eines bleibt: Die Geburt Christi in der Menschheit, die Geburt des »kosmischen Christus«.
Eine der tiefsten Einsichten der paulinischen Theologie ist, dass Christus zwar gekommen ist, bis zum Ende der Welt aber stets im Kommen bleibt. Durch die ganze Geschichte hindurch vollzieht sich Christusgeburt. Am Ende der Zeit steht das Pleroma Christi, der »volle Christus«. Die Christen bauen seinen Leib auf. Dies ist die Weihnacht der Welt. Und dies ist auch der Sinn der Sakramente und des ganzen christlichen Lebens. Die Christen (die soziologisch sichtbaren und die anonymen) versetzen sich durch ihr Leben in Christus hinein, bauen Christus selbst auf. Wenn dann das Maß Christi voll ist, wenn alle, die Christi Seinsfülle ausmachen sollen, in Christus aufgegangen sind, dann ist der »kosmische Christus« geboren, dann ist der Himmel da, dann hat sich die erste Schöpfung vollendet. Dann erst beginnt das eigentliche Leben. Das außerordentliche Abenteuer der Welt wird beendet sein.
Was besagt dies alles für uns existenziell? Es bedeutet: dass der Mensch über seine Schranken hinaus ins Unbegreifliche hinein leben soll; dass er eine von Gott gewollte Unzufriedenheit in sich trägt; dass er die Kleinheit seines eigenen Daseins immer neu überwinden muss. Gott hat ihn so erschaffen, dass er unruhig sein soll und darf, solange er das Unendliche nicht gefunden hat.
Für den Menschen, dieses gebrechliche Wesen, ist nichts groß genug. Mensch zu sein, ist etwas Atemraubendes. Gott lockt uns voran, aus unserem Kleinsein und unserer Gewöhnung heraus. Wenn wir uns zufriedengeben mit dem bereits Erreichten, sind wir nicht wie Gott uns gedacht hat. Und dieses sein Aufgebrochensein auf das Absolute hin muss der Mensch in einfacher Brüderlichkeit leben, im schlichten Dienst am Nächsten im Alltag. »Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, habt ihr mir getan« (Mt 25.40). Dies ist die Tiefe des Geheimnisses der Weihnacht.
© Annegret Boros 2024
Aus Ladislaus Boros: Kürzere Schriften, Gesamtausgabe Band 9, Seiten 267–279.
Texte zum Thema