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Farid ad-Din Attar | Otto Höschle

Erste vollständige Versübersetzung der Vogelgespräche

Farid ad-Din Attar: Vogelgespräche

 

Ausschnitte aus Farid ad-Din Attar: Vogelgespräche, aus dem Persischen von Otto Höschle.

Farid ad-Din Attar: Vogelgespräche

Die berühmten Vogelgespräche (die Mantiq at-tair) des persischen Dichters Farid ad-Din Attar aus Nischapur (1136–1220) bezeichnet Navid Kermani als »eines der wunderbarsten und bei aller Leichtigkeit zugleich tiefsinnigsten Werke der Weltliteratur.« Otto Höschle hat das Epos neu aus dem Persischen übersetzt und legt damit erstmals eine integrale deutsche Version in Versform vor. Nachfolgend einige Auszüge aus seinem Vorwort sowie Leseproben aus dem Lehrgedicht

ie Vögel der Welt versammeln sich, um einen König zu erküren. Der klügste und erfahrenste von allen, der Wiedehopf, rät ihnen, den geheimnisvollen Vogel Simurgh aufzusuchen und zum König zu ernennen. Er wohnt im mythischen Qaf-Gebirge und verkörpert jene Vollkom­men­heit, die von einem König erwartet wird. Doch der Wiedehopf macht ihnen klar, dass die Reise zu ihm mit unermesslichen Gefahren, Entbehrungen und Leiden verbunden sein wird.

Ein Vogel nach dem andern bringt seine Bedenken und Ängs­te vor, und der Wiedehopf entlarvt sie als Ausreden, als Zei­chen von Trägheit und Schwäche, als Mangel an wahrem Willen, zum Simurgh zu reisen und Glück und Vollendung zu finden. Viele jener Vögel, die trotzdem den Mut aufbringen, die Pil­ger­schaft anzutreten, werden in den sieben Tälern, die es zu durch­queren gilt, entmutigt oder dahingerafft, sodass schließlich nur dreißig Vögel zum Simurgh gelangen. Si murgh aber heißt auf Persisch »dreißig Vögel«: Am Ziel angekommen, erblicken die Vögel sich selbst.

Selbsterkenntnis als Gottes­erkenntnis: Nur wer all seine Schwächen und Ängste überwindet, das alte Selbst ablegt und die beschwerliche Reise bis ans Ende bewältigt, vermag sich und Gott zu erkennen und eins zu werden mit der Wahrheit.

Attars Epos verbindet koranische mit altpersischen Motiven zu einem stimmigen Ganzen und erschafft so einen neuen Hö­hepunkt in der Gattung des epischen Lehrgedichts.

Der arabische Titel des persischen Epos – Mantiq at-tair – ist ein Zitat aus dem Koran: »Und Salomon beerbte David. Er sprach: ›Ihr Menschen! Der Vögel Sprache wurde uns gelehrt!‹« (27:16). Mantiq ist zugleich die Sprache wie auch das Gespräch, wobei Letzteres dem Werk gerechter wird, diesem Dialog zwischen dem Wiedehopf als Wegweiser und den zögernden Vögeln. Der Wiedehopf ist es im Koran denn auch, mit dem Salomon spricht und der ihm als Bote zur Königin von Saba dient. Bei Attar ist er zugleich der Seelenführer hin zum Ersehnten, dem Simurgh, einem in vorislamische Zeit zurückreichenden Sagenvogel, vergleichbar mit dem legendären Phönix der spätantiken und mittelalterlichen Tierbücher, einem Vogel also, der stets nur in einem Exemplar vorkommt und somit für das Eins- und Einzigsein (tauhid) Gottes steht.

Attars Epos verbindet koranische mit altpersischen Motiven zu einem stimmigen Ganzen und erschafft so einen neuen Hö­hepunkt in der Gattung des epischen Lehrgedichts. Mit einer durch Glaubens- und Fabelwelten inspirierten Geschichte den Menschen den rechten Weg zu weisen, ist die Absicht des Werks. Es ist der sufische Weg zum höchsten Sinn, zum Gött­lichen, mit Dem es sich am Ende zu vereinen gilt. Das aber ist nur unter großen Leiden möglich und verlangt schließlich gar die Selbstaufgabe, die Bereitschaft, der Diesseitswelt zu sterben und gänzlich in der Jenseitswelt aufzugehen.

Die Strin­genz, mit der Attar dabei ans Werk geht, erreichten weder sein Vorgänger Sana’i von Ghazna [/] (1080–1131) noch sein Nach­folger Rumi [/] (1207–1273). Auch sie wählten die Form des masnawi (des gereimten Doppelverses) und der Epos Rumis über­trifft die Vogelgespräche gar um ein Vielfaches an Versen, aber die verspielte, frei assoziierende und in sich uneinheitliche Form von Rumis Masnawi-yi Ma’nawi (»Doppelverse des Sinns«) entbehrt bei aller poetischen Kraft und Raffinesse des klaren Handlungsverlaufs des Attar’schen Lehrgedichts.

Illustration aus den Vogelgesprächen (Matiq at-tair)

Illustration auf dem Einband einer Ausgabe der Vogelgespräche (Manti at-tair) von ca. 1610 aus Isfahan. Quelle: Wikimedia Commons. Zur Vergrößerung Computermaus über das Bild bewegen

Was alle sufischen Lehrgedichte hingegen verbindet, ist die Viel­zahl an eingeschobenen Erzählungen und Gleichnissen, durch welche die spirituelle Absicht des jeweiligen Kapitels exemplarisch veranschaulicht wird. All diese Geschichten und Legen­den aus dem Koran, aus dem Leben der Sufi-Heiligen, der Gottesnarren und sinnlos Verliebten ersparen dem Publi­kum eine allzu trockene Belehrung und helfen ihm auf gleichnishaft unterhaltsame Weise, den Weg zu finden hinaus aus dem durch Triebe, Besitztum, Dünkel und Sünde verblendeten Diesseits. Im Jenseits, dem undefinierbaren Dort, wird auch der letzte Rest an Verblendung entschwunden und die illusionäre Schale des Selbsts abgeworfen sein. Es bleibt der Wesens­kern, und der wird eins mit dem Göttlichen. Dies den Suchen­den auf Tausenden von Arten klarzumachen, ist seit je die Aufgabe des Sufi-Scheichs, sei es mit den Mitteln der Predigt und des Traktats – oder aber mittels Poesie, vom Vierzeiler über das Ghasel bis hin zum belehrenden Epos.

Farid ad-Din Attar lebte von 1136 bis 1220 im nordostiranischen Nischapur, in Chorassan also, einer kulturell besonders bedeutsamen Region, die auch Gebiete des heutigen Afghanis­tans und Turkmenistans umfasst. Von seinem Leben wissen wir wenig; er war nicht, wie etwa Rumi, ein gefeierter Ge­lehr­ter, sein Beiname Attar kennzeichnet ihn als Parfümhersteller, Drogisten und Apotheker, er ging also, wie viele Sufi-Scheichs, einem handwerklichen Beruf nach. Düfte und Arzneien aber spielen in der Metaphorik der Sufis eine wichtige Rolle: Die Göttliche Liebe trägt dem geneigten Gottsucher ihren Duft zu – und alle Wegweiser hin zu Gott sind Arznei für die Seele des Suchenden. Gemäß Legende starb Attar im Mongolenüber­fall, der im dreizehnten Jahrhundert weite Teile des Mittleren Ostens überzog. Eine volkstümliche Anekdote aus seinem Leben ist seine Begegnung mit dem späteren Sufi-Meister und Dichter Rumi im Kindesalter, damals nämlich, als dessen Fa­milie aus Balch im heutigen Afghanistan nach Westen floh und in Nischapur dem Scheich einen Besuch abstattete. Rumi jedenfalls ließ sich von den Werken des Drogisten inspirieren, trotz aller oben genannten Unterschiede.

Hossein Behzad: Farid ad-Din Attar

Ein Phantasieportrait Attars vom bekannten iranischen Maler Hossein Behzad aus dem Jahr 1960. Quelle: Wikimedia Commons

Leseproben

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Durch Ihn erkenne Ihn, nicht durch dich selbst

Suchst du Ihn im Verborgnen, ist Er sichtbar,
willst du Ihn aber sehn, ist Er verborgen.

Begehrst du, Ihn zu sehn, verbirgt Er Sich,     Vers 100
wünschst du, Er wär verborgen, zeigt Er Sich.

Doch suchst du beides, ist Er ohnegleichen,
ist nicht das eine noch das andere.

Vergeblich ist dein Tun, drum such nicht weiter!
Vergeblich redest du, drum red nicht weiter!

Das, was du sagst und was du weißt, das bist du,
ja hundertfach, wenn du dich selbst erkennst.

Durch Ihn erkenne Ihn, nicht durch dich selbst,
Er weist den Weg zu Sich und nicht das Denken.

Wer Ihn lobpreist, der kann Ihn nicht beschreiben,     105
kein Tapfrer und kein Feiger wird’s je schaffen;

dies Unvermögen paart sich mit der Weisheit,
denn Er ist nicht erklärbar, nicht beschreibbar.

Nur Wahn ist, was die Menschen dazu meinen,
nur Täuschung ist’s, davon was zu berichten.

Ob gut, ob schlecht gesprochen – was sie sagen,
das alles sagen sie ja von sich selbst.

Gespräch Omars mit Uwais

Als Omar voll Erregung vor Uwais trat,*
sprach er: »Ich will aufs Kalifat verzichten.

Wenn’s einer kaufen will, verkauf ich es,     525
und wär’s auch für ’nen einzigen Dinar.«

Als das Uwais vernahm, sprach er zu Omar:
»Verzicht aufs Kalifat, dann bist du frei

von Gram! Was fortzuwerfen ist, wirf fort,
lass dem den Vorsitz, der sich dafür eignet!«

Als dieser Fürst das Kalifat ablehnte,
erhob ein Aufschrei sich bei seinen Freunden

und alle riefen: »Tu das nicht, oh Führer!
Das Volk ist ganz verwirrt, um Gottes Willen!

Die Last hat der Siddiq dir aufgebürdet,     530
und das tat er berechtigt, nicht aus Blindheit.

Wenn du von seiner Weisung dich nun abkehrst,
wird seine Seele durch dein Tun gekränkt sein.«

Als Omar dieses Argument vernahm,
da wurd ihm seine Bürde nur noch schwerer.

* Omar (Umar ibn al-Chattab) [/]: einer der ergebensten Vertrauen des Propheten Mohammed und der zweite der vier Rechtgeleiteten Kalifen (Nachfolger). Uwais al-Qarani [/] ist der islamische Mystiker aus dem siebten Jahrhundert, der als »erster« Sufi gilt und vom Propheten Mohammed dessen zweiten Mantel (als Ausdruck der inneren, spirituellen Nachfolge) geerbt haben soll; zu Uwais al-Qarani siehe auch bei Bülent Rauf.

Bewahre mich doch vor dem Fanatismus

Nicht aufrecht bist du, ‘Alis Wissen fehlt dir,     610
ein Triebmensch bist du, Ketzer mehr und mehr.

Töt deine Ketzerseele, werde gläubig,
hast du sie umgebracht, bist du gerettet!

Schwatz nicht drauflos voll Fanatismus, spiel dich
nicht eigensinnig als Gesandter auf!

Dem stimmt ja das Gesetz nicht zu – und du,
was sagst du über die Prophetenfreunde?

Oh Gott, in mir drin gibt’s nicht solches Schwatzen,
bewahre mich doch vor dem Fanatismus!

Halt meine Seele davon rein, sag, dass     615
in meinem Buch nicht solche Dinge stehn!

Ich reiste viele Jahre über Meer und Land

Ich reiste viele Jahre über Meer
und Land, zog unermüdlich meines Weges,

durch Täler, über Berg und Wüste flog ich     705
und schlug mich durch die Welt zur Zeit der
Fluten.

Mit Salomon begab ich mich auf Reisen,
durchmaß das Angesicht der Erde häufig.

Ich kenne meinen König durch und durch
und könnt doch nicht allein zu Ihm hinreisen.

Wollt ihr mir Weggefährten werden, seid ihr
Vertraute dieses Schahs und Seines Hofs.

Befreit euch von der Schande eurer Selbstsucht,
von Gram und Wirrnis eurer Glaubensleugnung.

Wer Ihm sich hingibt, wird befreit vom Selbst,     710
vom Gut und Böse auf dem Weg des Liebsten.

Gebt’s Leben auf, den Fuß setzt auf den Weg,
das Haupt legt frohgemut auf jene Schwelle!

Wir haben einen unbestrittnen König,
Der hinterm Qaf-Gebirge lebt – Sein Name

ist Simurgh, Sultan aller Vögel ist Er;
Er ist uns nah, doch wir sind Ihm sehr fern,

denn Sein erhabner Horst ist unzugänglich
und keine Zunge fasst je Seinen Namen.

Verhüllt ist Er von hunderttausend Schleiern,     715
die jenseits sind von Licht und Finsternis.

In beiden Welten könnt’ es niemand wagen,
von Ihm sich einen Vorteil zu erhoffen.

Als unumschränkter Schah bleibt Er versunken
in Sein vollkommenes Erhabensein.

Wie flög zu Ihm wohl der Verstand der Vögel,
wie wüsste der denn, wo Er wohnt? Kein Weg

führt hin, für keinen wär der zu ertragen,
obwohl Myriaden Wesen Ihn ersehnen.

Die reinste Seele kann Ihn nicht beschreiben     720
und kein Verstand vermag Ihn zu begreifen;

Verstand und Seele sind verblüfft, die Augen
erblinden gar vor Seinen Eigenschaften.

Kein Weiser sah Seine Vollkommenheit,
kein Sehender sah jemals Seine Schönheit;

Seine Vollkommenheit erkennt kein Wesen,
da lahmt das Wissen und gelangt kein Blick hin.

Diese Vollkommenheit und Schönheit zu
erfassen, ist bloß Wahn für die Geschöpfe.

Wie könnt’ der Weg im Wahn beschritten werden?     725
Wie könntest du dem Mond ’nen Fisch
bescheren?*

Myriaden Köpfe rolln wie Bällchen auf
dem Weg und schrein ›Oh weh!‹ und ›Ach herrje!‹

* Wortspiel: mah (Mond) und mahi (Fisch).

Der Simurgh erscheint

Erstmals erschien der Simurgh, als Er glanzvoll
um Mitternacht hinwegflog über China

und mitten drin ’ne Feder fallen ließ,
die dann in aller Welt für Aufruhr sorgte.

Wer sie erblickte, zeichnete sie ab,
und wer das Bild sah, war sehr stark beeindruckt.

Die Feder liegt dort im Museum jetzt,     740
drum heißt’s: »Such Wissen, sei es auch in
China!«*

Wär’s Bild von dieser Feder nicht bekannt,
gäb’s auf der Welt nicht diesen ganzen Aufruhr;

von ihrer Schönheit sind das alles Spuren,
das Bild der Feder prägte alle Seelen.

Sie zu beschreiben hätt’ nicht Hand noch Fuß,
drum ziemt sich’s nicht, noch mehr davon zu
reden.

Wer jetzt von euch bereit ist für den Weg,
kehr sich ihm zu und schreite frisch voran!

* Berühmtes Wort, das Mohammed zugeschrieben wird.

Sultan Mahmud und die Ewigkeit

Ein Heiliger, dem graden Weg stets folgend,
sah eines Nachts im Traum Mahmud, den Sultan.*

Er sprach: »Oh Sultan, du vom Glück Beseelter,     935
wie geht es dir im Reich der Ewigkeit?«

Der sagte: »Schweig! Verletz nicht meine Seele!
Dies ist kein Ort der Herrschaft! Fort mit dir,

denn meine Herrschaft war nur Wahn und Irrtum:
Wie passte Herrschaft zu ’ner Handvoll Dreck?

Nur Gott, der Sultan über alle Welt,
kann doch allein der Herrschaft würdig sein.

Sobald ich meine Schwäche sah und Wirrnis,
beschämte meine Sultansherrschaft mich;

benennst du mich, so nenn mich den ›Verwirrten‹,     940
nenn mich nicht ›Sultan‹, Er allein ist Sultan!

Sein ist die Herrschaft – mir hätt’s mehr genützt,
hätt’ ich auf Erden Bettelei getrieben,

die Zeit, statt an der Macht, im Schacht verbracht
und Schmutz gefegt, anstatt ein Schah zu sein.

Nun find ich keinen Ausweg: Rechenschaft
verlangt man Punkt für Punkt von mir.
Verkümmern

solln Federkleid und Flügel des Homa,**
der mich mit seinem Schatten einst bedeckte!«

* Schah (oder Sultan) Mahmud (971–1030) herrschte von Ghazni in Südafghanistan über ein weiträumiges Reich und kommt in zahlreichen Anekdoten vor.

** Homa: phönixähnlicher Riesenvogel der persischen Sage, dessen Schat­ten dem, auf den er fällt, Königsherrschaft beschert.

Der Weise und das Meer

Ein Weiser stieg zum Meer hinab und fragt’ es:
»Oh Meer, warum bist du so dunkelblau,

warum trägst du wohl solch ein Trauerkleid,
und warum kochst du, wenn kein Feuer da ist?«

Dem Herzensreinen gab das Meer zur Antwort:
»Die Trennung von dem Freund wühlt mich so auf,

doch weil ich schwach bin, bin ich nicht das Seine,     1005
trag Trauer drum aus Gram um Ihn; die Lippen –

die Küsten – sind aus Wirrnis mir vertrocknet,
vom Liebesfeuer kocht mein Wasser auf.

Find ich ’nen Tropfen nur vom Flusse Edens,
werd ich an Seiner Türe ewig leben,

wenn nicht, verdurst ich tags und nachts wie viele
Myriaden, die den Weg zu Ihm beschreiten.«

Der Geizhals

Ein Dummkopf hatte ein Gefäß voll Gold;
nur dieses hinterließ er, als er starb.

Sein Sohn sah ihn nach einem Jahr im Traum     1025
mit Mäuseantlitz und verweinten Augen;

am Ort, wo er das Gold verborgen hatte,
dort huschte er wie’n Mäuschen hin und her.

Da sprach der Sohn zu ihm: »Ich möcht’ dich fragen,
warum du grad an diese Stelle kommst?«

Er sprach: »Ich barg mein Gold an diesem Ort
und weiß nicht, ob man es gefunden hat.«

Der Sohn sprach: »Warum dieses Mausgesicht?«
Der sprach: »Ein jeder, der ins Gold verliebt ist,

wird auferstehn mit einer Mäusefratze,     1030
die ganze Zeit vor Reue aufgewühlt.

Dies ist mein Angesicht, schau mich nur an!
Ich rate dir, lass ab vom Gold, mein Sohn!«

Die Antwort des Wiedehopfs

Da sprach der Wiedehopf: »Ihr Unfruchtbaren,
wie kann aus kargen Herzen Liebe sprießen?

Wie lang noch zögert ihr, ihr Bettlervolk?
Die Leidenschaft passt nicht zu Zögerern!

Wem ’s Auge aufgeht in der Liebe, der
riskiert sein Leben und beginnt zu tanzen!

Dann weißt du, dass der Simurgh ohne Schleier     1085
Sein sonnengleiches Antlitz offenbarte,

Myriaden Schatten auf die Erde warf
und dann auf diese heiligen Schatten blickte,

die Er der ganzen Welt beschert’ und denen
in jedem Nu ’ne Vogelschar entsprang.

Drum wisse, dass die Formen aller Vögel
vom Schatten Simurghs stammen, Ahnungsloser!

Hättst du’s zuvor gewusst, dann wär dir klar,
dass du mit Ihm durchaus verbunden bist!

Und solltest du’s schon wissen, sieh dich vor,     1090
mach dies Geheimnis keinesfalls bekannt,

denn wer zu dem gelangt, versinkt darin,
doch hüte dich davor, es ›Gott‹ zu nennen!

Wirst du zu dem, was ich gesagt hab, bist du
nicht Gott – doch du versinkst in Ihm für immer.

Wie würd, wer so versinkt, in Gott verwandelt?
Wie wär, was da geschieht, denn nur Gerede?

Weißt du, um wessen Schatten es hier geht,
dann bist du frei vom Leben wie vom Tod.

Hätt’ sich der Simurgh niemals offenbart,     1095
hätt’ Er auch keinen Schatten werfen können;

und wär Er im Verborgenen geblieben,
wär nie Sein Schatten auf die Welt gefallen.

Was immer hier sich zeigt durch Seinen Schatten,
hat zu Beginn schon dort sich offenbart.

Fehlt dir das Aug, den Simurgh zu erblicken,
so fehlt dir’s Herz, das wie ein Spiegel glänzt.

Nicht einer hat den Blick für so viel Schönheit,
wir hielten ihren Glanz nicht aus, und keiner

kann je in Liebe mit Ihm tändeln, deshalb     1100
schuf Seine große Güte Sich ’nen Spiegel:

das Herz! – Das Herz betrachte, Sehender,
wenn du Ihm in Sein Antlitz schauen willst!«

© Otto Höschle 2022