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Bülent Rauf

Die innere Basis aller Religionen

Tor der Kaaba in Mekka

Das Tuch über dem Tor der Kaaba in Mekka. Foto: Adobe Stock

Der türkisch-britische Mystiker Bülent Rauf (1911–1987) galt als einer der »verborgenen« Wissenden und trug, so wird gesagt, zu seinen Lebzeiten den spirituellen »Hut« von Muhyiddin Ibn ‘Arabi (1165–1240), dem andalusischen »größten Scheich« des Sufismus, dessen Lehre von der Einheit des Seins er zutiefst durchdrungen hatte. Die im Chalice Verlag soeben publizierten Ausschnitte aus seiner Korrespondenz mit Reshad Feild und anderen seiner Studentinnen und Studenten enthüllen packende Einblicke in Bülent Raufs große Weisheit von der gemeinsamen inneren Essenz aller Religionen

uszüge aus persönlichen Briefen von Bülent Rauf an Reshad Feild vom 17. April 1972 und vom 9. und 30. Mai 1973 sowie aus einem weiteren Brief an einen anderen Studenten. Runde Klammern stammen vom Verfasser, eckige Klammern sowie die Fußnoten von den Übersetzern.

 

Rumi, Quanwi und Ibn ‘Arabi

[Brief Nr. 5] Erinnere dich: Maulana [Dschalal ad-Din] Rumi hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Sadr ad-Din Qunawi [1] zu besuchen, um ihm zuzuhören. Eines Tages lud Qunawi Rumi ein, zu ihm zu kommen und neben ihm auf dem post zu sitzen (auf dem [roten] Schaffell, auf dem der Scheich zu sitzen pflegt). Rumi sagte: »Zwei Scheichs können nicht auf demselben post sitzen«, worauf Sadr ad-Din den post ergriff, auf dem er saß, und ihn mit den Worten wegschleuderte: »Wenn dem so ist, brauche ich den hier nicht mehr!«

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Nun höre aufmerksam zu: [Muhyiddin] Ibn ‘Arabi ist das hatam al-auliya’ al-Muhammadiya (das Siegel der mohammedanischen Heiligen), wie er selbst sagt, und [wie er ebenfalls sagt] der letzte Silberstein in der Mauer, der diese vollendet.[2] Und was geschieht dann? Fol­gen­des: Die wilaya (Heiligkeit) wird weitergegeben an die ‘Isawiya, an die Neigung und den Charakter des Jesus’schen, das seine Sub­limierung in Rumi findet. Wenn also Sadr ad-Din Qunawi seinen post wegwirft, bedeutet dies, dass er seine Hand an Rumi weitergegeben hat.[3]

Warum ist das notwendig? Weil es im zweiten Zyklus der Menschheit zu einer Konfrontation kommen wird zwischen denjenigen, die wissen, und jenen, die nicht wissen wollen.[4] Wer wird den Übergang in den zweiten Zyklus der Menschheit vorbereiten? ‘Isa (Jesus). Und wie? Indem eine Zusammenkunft aller Träger [oder: Bewahrer] von Wissen und Glauben vorbereitet wird, kurz gesagt, eine Vereinigung. Auf welcher Ebene? Auf der inneren Ebene (das ist es, wovon Ibn ‘Arabi spricht).

Ist irgendeine Art von wilaya (Heiligkeit) möglich, ohne dass Ibn ‘Arabis Wissen vor oder nach ihm weitergegeben wird? Nein. Jegliche wilaya, egal zu welcher Zeit oder in welcher Gegend, vollzieht sich immer, wirklich immer, durch die Unterweisung in Ibn ‘Arabi, durch das, was er uns hinterlassen hat (Die neunundzwanzig Seiten und die Fusus al-hikam) [5] und [was er auch] Sadr ad-Din Qunawi hinterlassen hat, damit dieser, als er seinen post wegwarf, es an jenen weitergeben konnte – nämlich Rumi, der aus der Linie der ‘Isa­wiya-(Jesus-)Tradition stammt. […]

Die »Hand« ist an Rumi übergegangen, der von da an der größte Exponent der Liebe sein sollte, welche die Tradition von Jesus ist. Auf diese Art wird die Liebe jeden Tag bis ins Heute überliefert.

Die »Hand« ist an Rumi übergegangen, der von da an der größte Exponent der Liebe sein sollte, welche die Tradition von Jesus ist. Auf diese Art wird die Liebe jeden Tag bis ins Heute überliefert. Hättest du deine Neunundzwanzig Seiten aufmerksam gelesen, könntest du gar nicht anders, als dich daran zu erinnern, dass die letzte Seite (oder ungefähr die letzte Seite) von der Liebe handelt. Wie also hätte Ibn ‘Arabi die Liebe nicht erwähnen können, aber irgendein Ägypter, der später kam, davon sprechen können? Ha­ben Bayazid Bistami [/], dessen Mausoleum sich im Iran befindet, und [Abu Hafs ‘Umar al-] Suhrawardi [/] – er und Ibn ‘Arabi verneigten sich wortlos voreinander [6] –, nicht beide die Liebe erwähnt? Und worin erreicht die Liebe ihren Höhepunkt?

Du musst dich daran erinnern, all deine Wissenspartikel miteinander zu verbinden! Wende dich nochmals deinen Neunundzwanzig Seiten zu und du wirst erkennen, dass dschamal [Schönheit] Liebe und/oder Liebe dschamal ist. »Denn Er ist in der Tat schön und liebt das Schöne!« […]

Rumi sprach persisch, und seine Anhänger verwenden ein persisches Wort (das auf Türkisch gleich lautet), das sie zu jedem Mo­ment des Tages wiederholen, wann immer sie können und egal, was sie auch gerade tun mögen. Man kann nicht sagen, dass dies ein dhikr [Gottgedenken] ist, allerdings ist es, wenn auch auf andere Weise, ein wunderschönes Erinnern ([auch das bedeutet] dhikr).

Es handelt sich um das Wort dost (Freund, Liebhaber) und es wird »dooost« ausgesprochen. Es ist lieblich und schön und, ach, so erfreulich, es auszusprechen und zu wissen, dass Hu [Er] dein ständiger dost ist. Da Hu das Absolute ist, kann es nur der dost von Ihm sein, und indem du es wiederholst, bist folglich du Sein eigener dost und du bist nichts anderes als Er, außerhalb Dessen es nichts gibt, und nicht Er, sondern Sein dost, der nicht außerhalb Seiner ist.

Dieses »dooost« unablässig zu repetieren, will ich dir schon seit einiger Zeit auftragen; und gib es auch jenen Menschen auf, die ihren Unterricht dank Gottes Gnade durch dich erhalten. Jenes dhikr, das dich [Hasan] Schuschud gelehrt hat, ist dasselbe, das sie auch bei [John G.] Bennett rezitieren.[7] Es ist ein ausgezeichnetes dhikr und es hat die Eigenschaft des »Sich-Einverleibens« des manifestierten Hu, so als ob Er eingeladen würde, einzutreten und an dem einzigen geschaffenen Ort zu wohnen, von dem Er sagt, dass er Ihn zu fassen vermöge: dem Herzen.

Übe dies unbedingt; allerdings darf anderes dabei nicht in Vergessenheit geraten, wie etwa die wazifas [8] und «Hu Allah» oder «Allah Hu», weil Hu das ist, was wir sind und wonach wir streben, weil wir uns danach sehnen, Seine dschamal (Schönheit) zu erkennen. Ach, es gibt so viel Gnade auf unserem Weg, der Seine dschamal ist!

Ein Zusammenkommen wird nicht auf der Stufe der Religionen möglich sein, weil die religiöse Form ein Unterscheidungsfaktor bleibt; auf der inneren Stufe jedoch ist es möglich.

Auf ihrer inneren Stufe sind alle Religionen eins

[Brief Nr. 7] Alle Religionen haben eine innere Basis oder Wurzel. Wenn diese religiös verfasst wird, nimmt sie die Indi­vidualität von Form und Verschiedenheit an. Doch in ihren Grundfesten, an ihrem Fundament, auf ihrer inneren Stufe, sind alle diese Religionen eins, denn die Wahrheit ist eins.

Im nächsten Zyklus der Menschheit werden sich zwei Gruppen bilden: diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen wollen. Die Versammlungsplattform derjenigen, die wissen, wird auf der inneren Stufe liegen.

Wir alle arbeiten an der Vor­bereitung dieses kommenden Menschheitszyklus, der sich auf der inneren Ebene abspielen wird. Niemand, der gelehrt werden kann, sollte ausgeschlossen werden, außer jenen, die nicht wissen wollen und dieses Wissen in den Wind schlagen.

Ein Zusammenkommen wird nicht auf der Stufe der Religionen möglich sein, weil die religiöse Form ein Unterscheidungsfaktor bleibt; auf der inneren Stufe jedoch ist es möglich. Geheimniskrämerei ist nur auf der religiösen Stufe aufrechtzuerhalten; die innere Wahrheit kann vor jenen, die wissen müssen, nicht länger verborgen gehalten werden.

Als der Prophet all die Götzenbilder aus der Kaaba hinausbefördern ließ, legte er seine Hand auf die Christus-Ikone.

Bedeutung und Signifikanz der Christus-Ikone in der Kaaba

[Brief Nr. 8] Ich bin untröstlich, dass ich auf deinen sehr freund­lichen Brief vom Juni und das überaus gelehrte Doku­ment über die Kaaba (insbesondere in Bezug auf die Ikone), das du mir geschickt hast, bisher noch keine Antwort geben konnte. Ich fand es höchst aufschlussreich und spreche dir meinen unendlichen Dank aus für deine tiefschürfende Darlegung und das interessante Material betreffend des Hauses [Got­tes] als Ganzem.

Ich möchte indes auf einen Punkt in Bezug auf die Ikone (die Abbildung Christi) zu sprechen kommen, nämlich auf die Tat­sache, dass der Prophet, als er all die Götzenbilder aus der Kaaba hinausbefördern ließ, seine Hand auf diese eine Ikone legte.

Nun, der Punkt ist dieser: Er legte seine Hand auf die Ikone und ordnete an, dass diese nicht entfernt werden durfte. Und der Punkt im Besonderen: Warum hat er seine Hand auf die Ikone gelegt? Es wäre auch eine andere, gewöhnlichere Form der Zeichen­gebung möglich gewesen, den Gegenstand nicht zu entfernen; doch bei den Arabern ist das Auflegen der Hand auf ein Gesicht, einen Kopf, ein Zeichen der Zuneigung, der Zärtlichkeit, der Vertrautheit und vor allem der Anerkennung und Wertschätzung. Diese Handlung lenkte die Aufmerksamkeit aller auf die Ikone, doch es bleibt die Tatsache, dass der Prophet mit dieser Geste auch das Abbild bedeckte, das Gesicht der Ikonendarstellung.

Nun tendieren einige zu der Ansicht, dass er, nachdem er die Anbetung jeglicher menschlichen Abbildungen an einem Ort, welcher der Anbetung des Göttlichen vorbehalten war, verboten hatte, das Abbild Christi mit seiner Hand verdecken musste. Das jedoch ist die »äußere« Interpretation dieser Angelegenheit.

Die wahre Absicht bestand darin zu verhindern, dass diejenigen, die diese Darstellung vielleicht zum ersten Mal sahen, einen Schock erleiden würden angesichts dieser bemerkenswerten [künstlerischen] Um­setzung der Gleichartigkeit von Merkmalen, oder zumindest der frappant aire de famille (auffälligen Familienähnlichkeit), oder kurz gesagt: ihrer unübersehbaren Ähnlichkeit, die bei den anwesenden Betrachtern den Eindruck hätte erwecken können, dass es sich bei der Ikone um ein Bildnis des Propheten Mohammed selbst handle.

Die Verwandtschaft der in den Himmel auf­genommenen Jungfrau mit Mohammed, egal wie weit entfernt (nämlich ganz zurück bis zum Schoß Abrahams), war ein anerkannter Umstand.

Gemäß gewissen inneren Traditionen besitzt die Bruderschaft aller Gesandten eine anerkannte metaphorische Wirklichkeit. In diesem Fall also war die Verwandtschaft der in den Himmel auf­genommenen Jungfrau mit Mohammed, egal wie weit entfernt (nämlich ganz zurück bis zum Schoß Abrahams), ein anerkannter Umstand. Es wäre ein Leichtes gewesen anzunehmen, dass der Prophet Mohammed wie Jesus aussah oder umgekehrt und dass das Abbild, das von einem der beiden geschaffen wurde, gleichermaßen den anderen hätte repräsentieren können.

Der Einschluss der Apsis in die Mauern der Kaaba durch den Propheten Mohammed ist ein weiteres Thema, das es genauer zu betrachten gilt. Hatte die Apsis einen christlichen Ursprung oder ist dies unbekannt? Denn falls es sich um eine christliche Ergän­zung der Kaaba handelt (ka‘ba stammt ab vom Wort mu’ka‘‘ab, Kubus, und letzteres entspringt übrigens derselben arabischen Wur­zel), dann würde die Aufnahme der Apsis in die Mauern der Kaaba diesen als bloßen Würfel schmälern, jedoch die christliche Tradition in die mohammedanische mit einschließen. Dass die Apsis später wieder ausgeschlossen wurde, könnte mit der historischen Übertünchung der Mosaiken der Hagia Sophia in Istanbul Ende des siebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in Zusammenhang stehen.

© Meral Arim 2021
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag

Anmerkungen

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[1] Sadr ad-Din Qunawi (1207–1274) war einer der wichtigsten Schüler sowie der Stiefsohn von Ibn ‘Arabi.

[2] Bülent Rauf bezieht sich hier auf einen Traum Ibn ‘Arabis, über welchen dieser schrieb: »Ich sah, dass die Kaaba aus abwechselnd gesetzten silbernen und goldenen Steinen gebaut war. Der Bau war abgeschlossen, und es gab nichts hinzuzu­fügen. Ich betrachtete sie und bewunderte ihre Schönheit. Dann wandte ich mich zu der Seite zwischen der jemenitischen und der syrischen Ecke, nahe bei der syrischen Ecke. Ich bemerkte, dass dort, in zwei Reihen der Wand, zwei Steine fehlten, ein goldener und ein silberner. Der fehlende goldene Stein war in der oberen Reihe, der silberne in der unteren. Ich sah, wie ich an die Stelle dieser beiden Stei­ne gesetzt wurde.« Zitiert aus Stephen Hirtenstei: Der grenzenlos Barm­herzige: Das spirituelle Leben und Denken des Ibn ‘Arabi, Xanten: Chalice Verlag, 2008, Seite 235. Hirtenstein erläutert dazu ebenda: »Wie Ibn ‘Arabi an anderer Stel­le erklärt, entspricht der silberne Stein seiner äußeren Erscheinung, was völlig mit den Gesetzen des Siegels der Propheten [das heißt Mohammeds] über­einstimmt, während der goldene Stein seiner inneren Natur entspricht, die in völliger Übereinstimmung mit Gott, ohne Vermittler, ist.«

[3] Das Weitergeben der »Hand« symbolisiert die Übertragung der Autorität.

[4] Vergleiche auch Briefe 7, 9 und 95; sowie Reshad Feild: Die letzte Schran­ke: Ich ging den Weg des Derwischs, Xanten: Chalice Verlag, 2014, Seite 170 ff; und derselbe: »Die beiden Konfrontationen und der Sieg« in Gesammelte Werke, Band III, Xanten: Chalice Verlag, 2016, Seiten 1647–1656.

[5] Zwei wichtige Schriften über und von Ibn ‘Arabi. »Die neunundzwanzig Seiten« finden sich in Muhyiddin Ibn ‘Arabi: Der verborgene Schatz, Zürich: Chalice Verlag, 2006, Seiten 63–126. Die Fusus al-hikam finden sich in: Muhy­iddin Ibn ‘Arabi: Die Weisheit der Propheten, Zürich: Chalice Verlag, 2005.

[6] Vergleiche dazu Stephen Hirtenstein: Der grenzenlos Barmherzige, Seite 208, Fußnote 33: »Einem jemenitischen Sufi zufolge trafen sich die beiden Männer persönlich, obwohl dies durchaus eine Legende sein kann. ›Er [Ibn ‘Arabi] hatte eine Begegnung mit dem Lehrer Suhrawardi. Die beiden Männer verneigten sich eine Weile schweigend voreinander und gingen dann wortlos auseinander. Scheich Ibn ‘Arabi wurde dann nach seiner Meinung über Suhrawardi befragt, worauf er antwortete: »Er ist von Kopf bis Fuß von der Norm des Propheten durchdrungen.« Als Suhrawardi nach seiner Meinung über Ibn ‘Arabi befragt wurde, sagte er: »Er ist ein Ozean Göttlicher Wirklichkeiten«‹ (Futuhat al-Makkiyya IV:560)«.

[7] Hasan Lütfi Schuschud [/] (1901–1988) war einer der höchsten türkischen Sufi-Scheichs des Naqschbandiya-Ordens sowie das damalige Oberhaupt der »Meister der Weisheit«. John G. Bennett lernte ihn 1962 kennen und lud ihn im April 1972 nach England ins Sherborne House ein. Reshad Feild besuchte ihn, auf Anweisung von Bülent Rauf, um etwa dieselbe Zeit in Istanbul und schreibt über seine Begegnung mit ihm unter anderem in Die letzte Schranke: Ich ging den Weg des Derwischs, Seiten 142–145. Zu Hasan Schuschud siehe auch Briefe 94 und 96.

[8] Eine wazifa (arabischer Plural: wazaif) ist eine Übung in der Form von einzelnen oder mehreren Gottesnamen, die der Schülerin oder dem Schüler vom Scheich oder der Scheicha aufgegeben werden und die täglich eine genau bestimmte Anzahl von Malen wiederholt werden müssen.