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Cynthia Bourgeault

»Bleibt beieinander, Freunde, zerstreut euch nicht!«

Mühlrad am Bach

Foto: Adobe Stock

In einer der Lektionen ihres Online-Kurses Spiritual Gifts from the Imaginal Realm [/] (»Spirituelle Geschenke aus dem Reich des Imaginativen«) vom März 2021 beschreibt Cynthia Bourgeault, die moderne Mystikerin, episkopale Priesterin und Buchautorin, das von G.I. Gurdjieff empfohlene Modell des »kleinen Kreises« der Gruppenarbeit und welche Voraussetzungen es braucht, damit diese Form der Zusammenarbeit die notwendige Hilfe in unserer krisengeschüttelten Welt leisten kann

it aller geziemenden Hochachtung vor jenen chassidischen »solitären Sechsunddreißig« [siehe dazu unser aktuelles Interview mit Cynthia Bourgeault] muss gesagt werden, dass die Arbeit des Bewussten Kreises der Menschheit über die Jahrhunderte hinweg faktisch in kleinen Gruppen hingebungsvoller Sucher und Sucherinnen im Rahmen von Weisheitsschulen vonstattenging. Die Zivilisationsgeschichte ist voll von Erinnerungen an diese sagenumwobenen Schulen: von Atlantis über Ägypten bis Babylon und Chaldäa, von Pythagoras und Zoroaster bis zu den großen tibetischen Lamas. Diese Schulen kommen am stärksten zum Vorschein in Zeiten einer planetarischen Krise oder an der Schwelle eines großen Evolutionssprungs im menschlichen Bewusstsein.

Unübersehbar ist, dass unsere eigene Epoche sich in beiderlei Hinsicht dafür qualifiziert. In dieser Zeit einer noch nie dagewesenen globalen Krise, in der sich nicht nur die menschliche Kultur, sondern auch die menschliche Spezies als solche erheblich unter Druck befindet, ist die Ausbreitung von Weisheitsschulen nicht verwunderlich. Die moderne Chaostheorie [/] erinnert uns daran, dass neue Phänomene vorhersagbar in Zonen »lokaler Instabilität« auftreten – zum einen, weil genau dort Veränderung möglich ist, und zum anderen, weil dort lokale Veränderungen die größtmögliche globale Wirkung erzeugen können.

Gurdjieff war ein entschiedener Befürworter des Modells des »kleinen Kreises«. Er war davon überzeugt, dass eine Gruppe, wenn sie richtig funktioniert, Führung aus dem Imaginativen in einem weitaus größeren Maßstab empfangen, filtern und übermitteln kann als selbst das höchstmöglich erleuchtete Individuum.

Wir haben es hier selbstverständlich mit einem großen »Wenn« und einem rutschigen Pfad zu tun, auf dem schon viele spirituelle Gemeinschaften mit guten Absichten ins Schlittern geraten sind. Doch es gibt belastbare Grundregeln der Weisheit, und wenn diese befolgt werden, kann ein vereinigendes Energiefeld gebildet werden: ein »zweiter Körper« sozusagen, den Gurdjieff anschaulich als »Netz« bezeichnet. Ist dieses Netz erst einmal hergestellt, hält es die Gruppe über eine beachtliche geografische Entfernung zusammen (ohne dass die einzelnen Mitglieder horizontal miteinander in Kontakt kommen müssen) und ist auch imstande, die gemeinsame Energie der bewussten Arbeit der Gruppe mit bemerkenswerter Genauigkeit und ausgerichteter Kraft zu übertragen.

Eine Gruppe muss durch ein gemeinsames Ziel an der Spitze geeint sein.

Die erste dieser beiden Grundregeln besagt, dass die Gruppe durch ein gemeinsames Ziel an der Spitze geeint sein muss. Dessen Fundament kann weder die Gemeinschaft als solche oder die gegenseitige Unterstützung sein, noch kann es in der Hingabe an die Gruppenleiterin oder den Gruppenleiter liegen. Ersteres führt zu Sentimentalität, das Zweite zu Projektion und Manipulation; beides schleust dissonante Schwingungen in das Energiefeld ein.

Dasselbe Prinzip gilt für einen guten Chor. Kein anspruchsvolles Gesangsensemble versammelt sich vorrangig zum Zweck der Gemeinschaft. Die Chorsängerinnen und -sänger kommen einzig und allein aus einem Grund zusammen: um gemeinsam der Musik zu dienen, ihr Ausdruck zu verleihen und ihre Schönheit zu entfesseln. Vereint durch die Macht dieses Ziels, ist es ihnen möglich, mit ihren gegenseitigen Stärken und Schwächen zusammenzuarbeiten. Gemeinsam erreichen sie das, was keiner von ihnen allein bewirken könnte.

Die Gruppenmitglieder müssen willens sein, ihre Atmosphäre bewusst zu gestalten.

Die zweite Grundregel legt fest, dass die Gruppenmitglieder willens sein müssen, ihre Atmosphäre oder Stimmung bewusst zu gestalten. Erinnert euch daran, dass eure Atmosphäre der energetische Raum ist, der sich über euren physischen Körper hinaus ausdehnt. Wenn ihr still innerhalb dieser Ausdehnung ruht, könnt ihr eure eigene imaginative Präsenz unmittelbar »schmecken«. Zwischen solchen ruhigen Atmosphären wird das bewusste Ziel übermittelt und die Gruppe kommt in eine energetische Übereinstimmung.

Wenn die individuellen Atmosphären übermäßig mit ihren persönlichen Bedürfnissen, Plänen und Reaktivitäten beschäftigt sind, kann keine Übereinstimmung erzeugt werden und das energetische Durcheinander wird sich entweder selbst neutralisieren oder sich um ein emotionales Anliegen niedrigerer Ordnung verselbstständigen (so enden wir dann bei Hexenverfolgungen und politischem Fanatismus). Der bewusste Umgang mit individuellen Atmosphären ermöglicht es, dass innerhalb der gesamten Gruppe eine tiefere Übereinstimmung entsteht. Und innerhalb einer solchen strahlend kristallinen imaginativen Struktur können manchmal Wandlungen angestoßen werden, die buchstäblich den Lauf der Geschichte verändern.

Mittels eines solchen Netzes, so lehrte Gurdjieff, »sind wir imstande, eine ganze Stadt wechselseitig zu beeinflussen.« Über seine eigene kleine Diaspora in Paris und seine dortige Funktion während der dunklen Jahre der nationalsozialistischen deutschen Besatzung sagte er: »Paris ist groß, doch wenn in einem Teil der Atmosphäre Bewegung erzeugt wird, wird diese sich überall ausbreiten. Wenn an einem Punkt Wärme empfunden wird, wird die Hitze bald in allen Punkten spürbar sein.«

Gurdjieff in Paris vor einem Ausflug

Gurdjieff beim Aufbruch zu einem Ausflug mit Familie und Freunden vor seiner Wohnung in der Rue des Colones Renard in Paris 1949. Quelle: Aus dem Film Some Moments with Mr. Gurdjieff

»Unsere Freundschaft gründet auf dem Wachsein«

Ganz offensichtlich meinte er dies wortwörtlich. Er kümmerte sich mittels seiner immer gefüllten Speisekammer (mit Waren, die er auf dem Schwarzmarkt ergattert hatte) in diesen dunklen Wintern der Jahre 1941 bis 1945 um Wärme für seine Nachbarn und verwöhnte seine Studentinnen und Studenten mit extravaganten Banketten, an denen die eigentliche Speise, die aufgetischt wurde, die Liebe war. Noch heute ist spürbar, wie die Überbleibsel dieser Liebe in seiner kleinen Wohnung in der Nähe des Arc de Triomphe umherschweben.[1]

Die Reichweite dieses »Wärmegefühls« ist schwer abzuschätzen, doch im Hauptquartier der Nazis an der Place de la Concorde, keine vierhundert Meter von Gurdjieffs Wohnung entfernt, geschah Ende August 1944 ein geräuschloses Wunder: Anstatt einen minuziös ausgearbeiteten Plan in die Tat umzusetzen, gemäß dem eine Spur der Verwüstung hinterlassen und der Louvre, die Kathedrale Notre Dame und andere wertvolle Kulturdenkmäler unserer kollektiven westlichen Geschichte in Schutt und Asche gelegt worden wären, brachen die besiegten deutschen Besatzer ganz einfach ihre Zelte ab und zogen sich angesichts der vorrückenden alliierten Befreiungsarmee zurück. Der Beschluss, den Plan nicht auszuführen, wurde nie getroffen; es kam einfach nicht dazu.[2]

Ich sage nicht, dass beides, dieses »Wärmeempfinden« und die Art des deutschen Rückzugs, in einem Zusammenhang steht… Doch in der Kausalität des Imaginativen offenbaren derartige Synchronizitäten häufig die Wirkung imaginativer Ley-Linien [/]. Diese Ley-Linien werden über das Netz aktiviert, und es ist die Lebenskraft des gereinigten Ziels der Gruppe, die in ihnen fließt.

Ein Text zur bewussten Reflexion:

Das Mühlrad

Bleibt beieinander, Freunde.
Zerstreut euch nicht, noch schlaft.

Unsere Freundschaft gründet
auf dem Wachsein.

Das Mühlrad empfängt das Wasser
und dreht und verschenkt es,
weinend.

So steht es im Garten,
während ein weiteres Rund
durch ein trockenes Flussbett rollt,
auf der Suche nach dem,
was es zu brauchen glaubt.

Bleibt hier, in jedem Augenblick zitternd
wie ein Tropfen Quecksilber.[3]

Dschalal ad-Din Rumi

© Cynthia Bourgeault 2021
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag

Anmerkungen

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[1] Über Gurdjieffs Leben und Wirken in Paris unter der deutschen Besatzung siehe: Roger Lipsey: Gurdjieff in neuem Licht, Kapitel 6 sowie insbesondere Seiten 246–259.

[2] Siehe dazu: Cynthia Bourgeault: Das Auge des Herzens, Seiten 158–159; sowie Larry Collins und Dominique Lapierre: Brennt Paris?, Berlin: Ullstein Verlag, 2002.

[3] Übersetzt aus: Coleman Barks: The Essential Rumi: New Expanded Edition, New York: HarperCollins, 2004, Seite 247.