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Cynthia Bourgeault
Wahrhaft Suchende sind bereits in einer größeren Einheit und somit jenseits von Form und Trennung
Foto: Cynthia Bourgeault
Cynthia Bourgeault, die moderne Mystikerin, episkopale Priesterin, Schriftstellerin und international bekannte Exerzitienleiterin, wurde gerade erst in die renommierte Watkins-Liste [/] der hundert spirituell einflussreichsten Menschen des Jahres 2021 aufgenommen. Diese Auszeichnung verdankt sie zum Teil ihrem gefeierten neusten Buch Das Auge des Herzens: Eine spirituelle Reise ins Reich des Imaginativen, dessen deutsche Ausgabe wir kürzlich im Chalice Verlag veröffentlicht haben. Trotz ihrer mit Terminen randvollen Agenda durften wir das folgende Interview mit ihr führen (dessen englisches Original Sie hier nachlesen können)
Quelle: Chalice Verlag
Chalice Magazin: Cynthia, am 31. Mai werden Freunde und Studenten von Reshad Feild rund um die Welt seines Todestages im Jahr 2016 gedenken. Du hast einmal eure »gemeinsame Herzensverbindung« erwähnt und geschrieben:
Die Wege von Reshad und mir haben sich seit nunmehr fast zwanzig Jahren immer wieder gekreuzt. Lediglich in der menschlichen Zeit haben wir uns verpasst, aber im Imaginativen tanzen wir miteinander. Einige seiner Schülerinnen und Schüler, sowohl in New Mexico als auch in Vancouver, waren meine stärksten Verbindungen, Taktgeber und Kollegen auf dieser Reise. Und natürlich hat sein Buch [Die letzte Schranke] den Vogel in meinem Herzen aus seinem Käfig befreit.
Wenn du dir vorstellst, du könntest mit ihm einen Nachmittag verbringen, worüber würdest du – nach einem fröhlichen Tanz – mit ihm sprechen wollen?
Cynthia Bourgeault: Zuallererst über den »zweiten« oder »inneren« (oder Kesdschan-) Körper, der ein besonderes und feinstoffliches Vehikel für unsere Lebendigkeit ist und in der christlichen inneren Tradition häufig als »das Hochzeitsgewand« bezeichnet wird. Auch die höheren Reiche wären ein Thema und die Frage, wie der kosmische Dienst des Bewussten Kreises der Menschheit eigentlich aussieht, wenn er von der anderen Seite aus betrachtet wird. Und zum Zweiten würde ich mit ihm über das Wesen dieser planetarischen Schwelle oder Krise sprechen wollen, der wir uns als Menschheit gerade gegenübergestellt sehen, und was wirklich benötigt wird, um Hilfe zu bringen.
Quelle: Chalice Verlag
Ein robustes Band des Schutzes, des Segens und der Führung rund um unseren fragilen Planeten
Chalice Magazin: Über diesen Bewussten Kreis der Menschheit schreibst du in deinem jüngsten Buch, Das Auge des Herzens:
Ein alter chassidischer Volksglaube besagt, dass unsere Welt zu jedem Zeitpunkt von sechsunddreißig bewussten Menschen in ihrer planetaren Umlaufbahn gehalten wird. Weder kennen sich diese Menschen untereinander, noch wissen sie, ob sie selbst tatsächlich zu dieser Gruppe gehören. Doch die Qualität ihrer Arbeit, die wie Weihrauch in die Erdatmosphäre aufsteigt, erzeugt ein robustes Band des Schutzes, des Segens und der Führung oder Unterweisung rund um unseren fragilen Planeten [Seite 142].
Später in diesem Buch erklärst du:
Im engeren Rahmen meiner eigenen christlichen Traditionslinie war im letzten Jahrzehnt ein markanter und beschleunigter Exodus spiritueller Meisterinnen und Meister hin zur anderen Seite zu verzeichnen. Rafe [Bruder Raphael Robin], der im Jahr 1995 verstarb, haben sich mittlerweile Raimon Panikkar [/] (2010), Murat Yagan [/] (2013), Beatrice Bruteau [/] (2014), Bruno Barnhart [/] (2015), Bernadette Roberts [/] (2017) sowie Thomas Keating [/] und Joseph Boyle [/] (beide im Oktober 2018) angeschlossen [Seite 173].
Reshad, den wir zu diesem Bewussten Kreis zählen würden, hat einmal gesagt: »Das Ende eines Zyklus ist nicht das Ende der Möglichkeit, es ist erst der Anfang.« Was für einen Anfang könnte dann dieser Exodus zu genau diesem geschichtlichen Zeitpunkt bedeuten?
Ein alter chassidischer Volksglaube besagt, dass unsere Welt zu jedem Zeitpunkt von sechsunddreißig bewussten Menschen in ihrer planetaren Umlaufbahn gehalten wird.
Cynthia Bourgeault: Für mich bedeutet dies vor allem, dass wir Hilfe und Weisheit von der anderen Seite brauchen werden, eine Kraft und eine Klarheit, die weit über unser eigenes menschliches Vermögen hinausgehen. Mit anderen Worten: Wir haben es mit einer GROSSEN Krise oder einer großen Schwelle zu tun, die einen deutlich höheren Beitrag von dem erfordert, was Jakob Böhme »Beweglichkeit und Majestät« nannte: also die spirituelle Einwirkung aus Welten, die höher sind, als die unsrige. Hoffentlich kann dies zu einer Trendwende führen und diese Krise in eine neue Bewusstseinsschwelle verwandeln (vielleicht hin zum lang erwarteten Anbruch des Integralen?). Aber ich zögere, ganz so weit zu gehen. Meine eigene Befürchtung ist eher, dass wir es mit einer Störung im Stil des Untergangs von Atlantis zu tun haben, katalysiert von einer durch Menschenhand verursachten Klimaveränderung.
Aufmerksamkeit ist eigentlich die Kraft, an etwas teilzunehmen.
Murat Yagan, Scheich Suleyman Dede und Reshad Feild in den frühen 1970er-Jahren. Foto: Privatarchiv Reshad Feild
Chalice Magazin: In Das Auge des Herzens schreibst du, dass
Weisheitsschulen entweder an den Scheitelpunkten großer Vorwärtssprünge des Bewusstseins oder in Zeiten planetarischer Destabilisierung aus dem Untergrund an die Oberfläche treten; und dass sich unsere Gegenwart in beiderlei Hinsicht dafür qualifiziert, können wir alle bezeugen. […] Und dennoch lassen es einige Zeichen unserer heutigen Zeit geboten erscheinen, auf eine besondere Weise achtsam zu sein [Seite 173].
Kannst du ein wenig genauer ausführen, was mit dieser besonderen Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit gemeint ist, die heute erforderlich ist?
Cynthia Bourgeault: Aufmerksamkeit ist eigentlich die Kraft, an etwas teilzunehmen. Sie ist etwas anderes als eine argwöhnische mentale Hyperwachsamkeit oder ein egoisch identifiziertes »über den Dingen Schweben«. Sie ist ein klares, objektives, vollständig verkörperlichtes Vermögen, eine Situation einfach dadurch zu erhellen, dass wir ihr eine Art gesteigerter Lebendigkeit und Verbundenheit einflößen, die sich aus dem schlichten Akt unseres Teilnehmens ergibt.
Chalice Magazin: In deinem Buch über das Gebet der Sammlung zitierst du das Diktum deines Lehrers Thomas Keating, dass diese Kontemplationsübung nicht »mit Attention, sondern mit Intention ausgeführt« wird. Und an einem Vortrag am Festival of Faith 2019 hast du gesagt: »Kontemplation ist mit Liebe imprägniertes Wissen.« Wie kann uns das Gebet der Sammlung helfen, unsere Welt auf die Weise zu imprägnieren, zu erhellen, ihr diese Lebendigkeit einzuflößen und so an unserem Alltagsleben teilzunehmen?
Cynthia Bourgeault mit Pater Thomas Keating in der Trappistenabtei Saint Benedict’s Monastery, Snowmass, Colorado, 2012. Foto: Cynthia Bourgeault
Cynthia Bourgeault: Es ist wichtig, sich von Anfang an darüber im Klaren zu sein, dass »Liebe« nicht das Liebesgefühl meint. Sie ist etwas Tieferes und von vollkommen anderer Natur als eine Emotion. Thomas versuchte zu erklären, dass sie mehr mit Willen zu tun hat – aber auch das bedeutet nicht Willenskraft. Es sind die Zuschreibungen unseres kleineren Selbsts, die bei der Bestimmung dieser großen spirituellen Begriffe ein derartiges disharmonisches Durcheinander mit sich bringen.
Ich vermute, dass »Liebe« die größte Annäherung vonseiten der westlichen mystischen Traditionen an »ein Wissen« darstellt, »das körperlich auf dem Betriebssystem der Wahrnehmung beruht, dessen physiologisches Verknüpfungszentrum im Herz liegt.« Eine solche Liebe erlaubt eine vollkommen andere Art des Wahrnehmens und des Teilnehmens – ohne Gefühlsaufruhr, ohne Negativität, ohne Dualismus.
Wenn wir lernen, auf diese Weise teilzunehmen, »erhellen« wir unsere Welt tatsächlich und »flößen« ihr eine andere Art von Energie ein. Insoweit uns das Gebet der Sammlung hierzu verhilft, also indem es unsere übermäßige Abhängigkeit von Verstandesdenken und Gefühlsergriffenheit mindert, legt es das Fundament für diese neue Weise des aufmerksamen Teilnehmens.
In unserer heutigen Kultur, die fixiert ist auf »Identitätspolitik« und »das Erzählen meiner Geschichte«, stehen die Chancen für eine größere Einheit schlecht
Chalice Magazin: Reshads eigener Lehrer, Bülent Rauf [/] (1911–1987), schrieb in seinem allerletzten Brief an ihn:
Sich selbst zu kennen, heißt sicher, Ihn zu kennen, Dessen Abbild der Mensch ist. Denn Erfüllung bedeutet, das Bild und den Gegenstand dieses Bildes zu vereinen; und vollständige Erfüllung ist nur in Liebe möglich. Wenn Leute mit Vorbehalten, mit Vorurteilen, mit egozentrischer und sich selbst schützender Engstirnigkeit und Bigotterie zu dir kommen, ist es besser für sie, wegzubleiben und geeignete beschränkte Formen und Dogmen zu finden, die ihrer Selbstgerechtigkeit schmeicheln. Denn unser Weg ist das genaue Gegenteil davon. Wir geben das Selbst, das wir genährt haben, für eine Universelle Wahrheit auf, welche die Matrix unseres wahren Selbsts ist.
Obwohl Religion und formalisierte spirituelle Traditionen bis zu einem gewissen Grad immer dazu neigen, ein sich selbst nährendes Gefühl zu fördern, »man sei etwas Besonderes«, begegnen wir in all diesen Traditionen doch auch immer wieder Menschen, die nach der Einheit und nicht nach dem Trennendem suchen. Diejenigen, die über Form und Trennung hinausgehen, nannte Bülent »Menschen des Weges«. Wie stehen deiner Ansicht nach die Chancen für eine größere Einheit unter den wahrhaft Suchenden auf der ganzen Welt?
Cynthia Bourgeault: Wahrhaft Suchende sind bereits in einer größeren Einheit; sie muss nicht erst erzeugt werden. Indem wir über das Bedürfnis nach »unserer eigenen« Geschichte und damit über Form und Trennung hinausgehen, manifestieren wir bereits diese Einheit; denn Einheit ist das, was bleibt, nachdem die künstlichen Grenzen aufgehoben worden sind. Aber in unserer heutigen Kultur, die fixiert ist auf »Identitätspolitik« und »das Erzählen meiner Geschichte«, stehen die Chancen für eine größere Einheit schlecht. Glücklicherweise erinnert uns jene alte chassidische Geschichte daran, dass es um Qualität geht und nicht um Quantität. Auch wenn nur ein paar wenige darüber hinausgehen, verfügen sie über eine Kraft, die das Ganze voranbringt.
Chalice Magazin: In deinem Buch Love Is Stronger than Death (das spätestens 2022 in unserem Verlag erscheinen soll) zitierst du deinen Lehrer Rafe mit den Worten: »Die letztjährigen Worte stammen aus der letztjährigen Sprache, und die Worte des kommenden Jahres warten auf eine andere Stimme.« Vielleicht meinte Bülent Rauf etwas Ähnliches, wenn er seinen Schüler Reshad immer wieder darauf hinwies: »Du musst eine neue Sprache erfinden!« Wenn du von »wahrhaft Suchenden« sprichst, was sind deines Erachtens deren wesentlichen Kennzeichen? Und was für eine neue Sprache müssen sie sprechen?
Cynthia Bourgeault: Diese Sprache »erfinden« wir nicht; wir laden sie mittels unseres eingestimmten Gehorsams direkt aus dem Imaginativen herunter. »Erfinden« hat einen Beigeschmack von mentaler Cleverness; »Gehorsam« bedeutet wörtlich »(aus) den Tiefen zuhören.« Wenn wir so lauschen, sprechen wir auch eine universeller zu verstehende Sprache. Manchmal kommt sie in der Form von Poesie, Musik und Kunst daher, manchmal als die Stille selbst. Das Bemerkenswerte ist ihre universale Transparenz für jene, deren Herzen offenstehen.
Bülent Rauf und Reshad Feild in den frühen 1970er-Jahren in der Türkei. Foto: Chalice Verlag
Chalice Magazin: In Die letzte Schranke zitiert Reshad die Worte Bülents:
Wir haben nichts zu tun mit Religion oder Form. Wir sind verbunden mit der inneren Bedeutung, dem inneren Strom der Wahrheit, die aller Religion zugrunde liegt. Unser Weg ist nichts für jene, die über die äußere Form nicht hinauskommen. Er ist für die, die geradewegs zur Essenz gelangen wollen.
Wenn Suchende den Entschluss fassen, eine Tradition, eine Lehre oder eine Gruppe zu »verlassen«, weil sie das Gefühl haben, dass die Form über deren Essenz zur Kruste erstarrt ist und dass diese sie vom großen Ganzen trennt, oder weil die Form ihrer Sehnsucht nach Vereinigung widerspricht, können sie sich auf beschwerlichem und einsamem Territorium wiederfinden. Was braucht es, um nicht verloren zu gehen? Wie können wir mit der manchmal erstickenden Unvermeidlichkeit von Form zurechtkommen?
Cynthia Bourgeault: Meister Eckhart [/] sagte einmal: »Kein Sein ohne eine Wesensform.« Ich glaube, das ist wahr. Ohne Form gibt es keinen Modus der Artikulation… Also ist es ganz eindeutig beschwerlich und einsam. Der Trick besteht darin, Besonderheit (Form) als die notwendige Syntax von Selbstmitteilung wertzuschätzen, ohne sich darin zu verlieren. Und wenn wir wirklich über die Form hinaus sind, verliert auch die Sache mit der Einsamkeit ihren Schrecken. Dann leben wir schlicht und ergreifend.
Chalice Magazin: Würdest du sagen, dass unsere Einsamkeit verwandt ist mit jener, die Gott verspürt und überwinden will, wenn Er in dem berühmten Hadith qudsi sagt: »Ich war ein verborgener Schatz, und Ich liebte es, erkannt zu werden; also erschuf Ich die Welt, auf dass Ich erkannt werde«? Oder auch, dass unser Leiden ähnlich gelagert ist wie das Leiden Gottes, wenn Er, wie du in einem Interview mit Renate McNay [/] gesagt hast, die Form auflösen muss und dies, »so wie die Sonne, die sich danach sehnt, eine Schneeflocke zu halten, nicht tun kann, ohne sie zu schmelzen«?
Cynthia Bourgeault: Ja, damit befinden wir uns auf der richtigen Spielwiese, wenn wir es unbeschwert halten können. Es geht nicht um die Emotion der Einsamkeit oder die Emotion des Ausgeliefertseins – mehr um unsere »Haltung« zur Einsamkeit, unsere »Unterschrift« unter das Leiden. Diese tieferen Eigenschaften unserer Einstellung sind in Tat und Wahrheit Träger universaler Verständlichkeit, heilige Wege der Verknüpfung und des Mitgefühls, die vom ewig verborgenen Göttlichen Ursprung ausgehen als Quellen der Manifestation und der Freude – und »sich draußen in unendlicher Kreativität verstecken«, wie Thomas Keating es so wundervoll ausdrückt.
Mesoterische Weisheitstraditionen können für Suchende schöne Brücken bauen
Chalice Magazin: Heutzutage sind immer mehr Menschen enttäuscht oder fühlen sich gar abgestoßen von der organisierten Religion und den etablierten Kirchen, während andere beides als eine Art Bollwerk für ihre politischen Ansichten und zur Verteidigung ihrer sozialen und kulturellen Identität (miss)brauchen. Insbesondere diejenigen, die nach wahrer spiritueller Bedeutung dürsten, sind oft frustriert und wenden sich ab, um in anderen Richtungen danach zu suchen. Ist dieser Trend etwas, das dich beunruhigt, oder verstehst du ihn eher als unvermeidliche historische Entwicklung, vielleicht sogar als eine Chance? Welchen Sinn haben solche Organisationen, wenn sie nicht imstande sind, die notwendige »Nahrung« bereitzustellen für diejenigen, die spirituellen Hunger leiden?
Ich habe im »spirituellen, aber nicht religiösen« New-Age-Sektor allzu viele Kinder gesehen, die zu laufen versuchten, ohne zuvor das Krabbeln gelernt zu haben.
Cynthia Bourgeault: Die meisten authentischen Weisheitslehrerinnen und -lehrer, die ich kenne, haben gesagt, dass jede Religion eine formale, starre und oft heuchlerische äußere Form hat, aber dass die exoterische (also die äußere) Spur absolut grundlegend ist, um tiefer gelangen zu können. Ich glaube tatsächlich, dass dem so ist, denn ich habe im »spirituellen, aber nicht religiösen« New-Age-Sektor allzu viele Kinder gesehen, die zu laufen versuchten, ohne zuvor das Krabbeln gelernt zu haben. Dabei geht etwas verloren, das dann später aufgeschlüsselt und umgestaltet werden muss, meistens in den Belangen von Demut und Gehorsam.
Die Bücher auf eigene Faust umzuschreiben – selbst dann, wenn es aus Verzweiflung geschieht und im Streben nach Integrität –, lässt persönlichen Egoismus und übermäßiges Autonomiestreben immer anwachsen. Beides muss anschließend begradigt werden, solange es noch machbar ist, bevor es ganz und gar unmöglich wird, eine Schülerin oder einen Schüler noch irgendetwas zu lehren. Das ist die Schlinge, die sich um uns alle gerade zuzieht!!! Wie auch immer wir es anstellen, wir sind dazu verdammt.
Cynthia beim Beten in der Glastonbury Abbey in Hingham bei Boston. Foto: Shambhala Publications
Ich persönlich ziehe es jedenfalls vor, mit den exoterischen Strukturen im Dialog zu bleiben, sie nach Möglichkeit zu reformieren, ihre eklatantesten Dysfunktionalitäten beseitigen zu helfen und gleichzeitig die authentischen exoterischen Pastorinnen und Pastoren (diejenigen mit Liebe und Fürsorge im Herzen) zu ermutigen vorzutreten. Währenddessen können mesoterische Weisheitstraditionen (wie in einigen Bereichen des Buddhismus, des Sufismus und des christlichen benediktinischen Mönchtums) für Suchende schöne Brücken bauen, indem sie ein authentischeres spirituelles und mystisches Umfeld bieten und dennoch an den überlieferten Tugenden des Respekts und der Sanftmut festhalten, den wesentlichen Bestandteilen des traditionellen adab.[1]
Chalice Magazin: In einem Interview, das du kürzlich der Website Buddha at the Gaspump [/] (»Buddha an der Zapfsäule«) gabst, hast du gesagt:
Ein spirituell suchender Mensch, der sich nicht getraut, auch mal etwas zu vermurksen, stellt für Gott ein weitaus größeres Problem dar als einer, der etwas vermasselt und mit der Bitte um Vergebung zurückkehrt und nicht verzweifelt; denn in letzterem Fall sind wir zumindest noch belehrbar. Aber der Mangel an Risikobereitschaft unter jenen, die sich gerne als »spirituell« bezeichnen und ihr entsprechendes Selbstbild wahren wollen, führt, so glaube ich, zu einem echten Verlust der Energie von Integrität und Lebendigkeit des transformierten Wesens.
Glaubst du, wir hätten mehr Mut, Risiken einzugehen, wenn wir verstehen würden, dass, wie John G. Bennett behauptet hat, sogar Gott selbst Risiken oder Gefahren ›unterworfen‹ ist?
Cynthia Bourgeault: Ja, auf jeden Fall. Aber den Mut oder die Klarheit, dies auszusprechen, haben nur wenige. Jakob Böhme fand diesen Mut.
Jakob Böhme: posthumes Portrait von Christoph Gottlob Glymann, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Foto: Wikimedia Commons
Chalice Magazin: Und du hattest deinerseits den Mut und gingst das Risiko ein, Jakob Böhme, den du als »eines der Underground-Genies des christlichen mystischen Pfades« bezeichnest, in deine eigene Lehre aufzunehmen und sein recht herausforderndes Denken einer modernen Leserschaft nahezubringen. Wir selbst sind übrigens sehr dankbar, dass wir durch deine Bücher (insbesondere durch Die Heilige Dreifaltigkeit und das Gesetz der Drei) auf seine Schriften verwiesen wurden, und waren überrascht, dass viele seiner Ideen, so wie die Meister Eckharts, eine große Nähe zu den Lehren des Sufismus aufweisen. Glaubst du, dass Jakob Böhme eine jener Brücken für Suchende aus unterschiedlichen traditionellen Hintergründen sein kann?
Cynthia Bourgeault: Allerdings. Er bildet eine der schönsten Brücken und ist tatsächlich eine der Hauptschlagadern der westlichen mystischen Tradition, die dem Christentum, dem Judentum und dem Islam in ihren jeweiligen mystischen Ausdrucksformen zu lebenspendendem Blut und Sauerstoff verhilft. Wie schön es sein muss, Jakob Böhme auf Deutsch lesen zu können! In seiner Muttersprache ist er noch klarer und ausdrucksvoller.
In der Gurdjieff-Arbeit vollzieht sich gegenwärtig eine beachtliche Rekonfiguration und es zeigt sich vielfältiges neues Leben
Chalice Magazin: In deiner Lehre öffnest du viele Türen, auch zum Werk von G.I. Gurdjieff, an welchem du selbst rund zehn Jahre lang teilgenommen hast. Einige im Werk Gurdjieffs involvierte Kreise neigen allerdings noch immer zu einer gewissen Verschlossenheit und Exklusivität, vielleicht sogar zu dem von dir erwähnten Mangel an Risikobereitschaft, wenn es darum geht, sich zu öffnen und ihre Erkenntnisse zum Wohl einer größeren Einheit unter den verschiedenen spirituellen Traditionen einzubringen. Findest du nicht auch, dass dies bedauernswert ist, wenn nicht sogar eine Vergeudung eines großen Wissenskorpus?
Georges Iwanowitsch Gurdjieff in Frankreich circa 1947. Quelle: The Collection of Gert-Jan Blom
Cynthia Bourgeault: Innerhalb des Gurdjieff-Werks gibt es viele Überlieferungslinien. Während einige von diesen tatsächlich zur Starrheit tendieren und zu einem eifrigen Konservieren des ihnen anvertrauten Schatzes neigen, waren andere (einschließlich der Bennett-Linie) schon immer weitaus experimentierfreudiger und offener für neue Einflüsse. In der Gurdjieff-Arbeit vollzieht sich gegenwärtig eine beachtliche Rekonfiguration und es zeigt sich vielfältiges neues Leben – ausgelöst durch eine wachsende öffentliche und wissenschaftliche Anerkennung dieser Tradition. Der Stab wird nun an ein weitaus »volksnaheres« Verständnis des Werks weitergereicht, als es sich meiner Meinung nach jemals zuvor auf dem Planeten gezeigt hat. Ich bin mir offen gestanden sicher, dass Gurdjieff hier direkt seine Hand im Spiel hat und dass sich in dieser neuen Konfiguration herausstellen wird, dass die »verneinende« (zweite) Kraft, die getragen wird vom Konservatismus der prominentesten Gurdjieff-Linien, eine wichtige Ausdauer an den Tag legen wird. Das Spiel ist noch nicht vorbei.
Chalice Magazin: Eine der wichtigen Quellen deiner Inspiration und Lehre sind die biblischen Apokryphen wie das Evangelium der Maria Magdalena, über die du ein weithin beachtetes Buch geschrieben hast (das ebenfalls demnächst bei uns auf Deutsch erscheinen wird), und das Thomas-Evangelium, zu dem du zwei ganz außerordentliche Online-Kurse [/] anbietest. Inwiefern haben diese Schriften dein eigenes Verständnis von Jesus geprägt und welche Rolle können sie für das heutige Christentum spielen?
Cynthia Bourgeault: Diese Evangelien untermauern das, was unser Herz ohnehin schon immer gewusst hat über das Wesen dessen, was Jesus vermittelte, und über den Bereich, auf den es sich bezieht. Sie entreißen es der Kontrolle durch eine im Wesentlichen männliche, priesterliche Clique und geben es einer echten, nicht durch Form, sondern durch Essenz bestimmten Weisheitsübermittlung zurück.
Inklusion ist die reinste Essenz der Liebe
Chalice Magazin: Im Gebet der Sammlung, wie es von deinem Lehrer Thomas Keating unterrichtet wurde und das du selbst lehrst und anleitest, wird das sanfte Loslassen von Gedanken als »Zustimmung zur Gegenwart und zum Handeln Gottes« bezeichnet. Im Verständnis der Sufis bedeutet Marias ›unbefleckte‹ Empfängnis, wie es von Muhyiddin Ibn Arabi in seinem Werk Die Weisheit der Propheten gelehrt wird, dass sie sich entspannte, indem
sie mit all ihrem Sein Zuflucht gegen ihn [das heißt Gabriels Form eines wohlgestalten Mannes] in Gott [suchte]; und deshalb wurde sie von einem vollkommenen Zustand Göttlicher Gegenwart überwältigt, von einem Zustand, der identisch war mit dem intellektuellen Geist (ar-ruh al-ma’nawi). Hätte Gabriel ihr seinen Atem auf der Stelle, während sie sich noch in diesem Zustand befand, eingehaucht, wäre Jesus geboren worden als jemand, den keiner hätte ausstehen können wegen der schneidenden Schärfe seiner Natur, dem Zustand seiner Mutter während ihrer Empfängnis gemäß. Sobald jedoch Gabriel zu Maria sprach […], entspannte sie sich aus dem einschnürenden Zustand […] und da hauchte ihr Gabriel [den Geist von] Jesus ein.
Würdest du sagen, dass Ibn Arabi hier dasselbe Loslösen beschreibt, das im Gebet der Sammlung praktiziert werden soll?
Cynthia Bourgeault: Aus dem Stegreif würde ich sagen, dass wir es hier mit einer ganz schönen Menge spekulativer Theorien zu tun haben, sowohl über Marias Zustand als auch über den von Jesus. Es würde mir an Respekt mangeln, wenn ich dies tiefgehender kommentierte, ohne zuvor Ibn Arabis spezifische Lehre hierzu sowie den mystischen Kontext, in den sie eingebettet ist, genauer studiert zu haben.
Doch was ich sagen kann, ist: Immer dann, wenn das Loslassen aus einer Haltung – oder einem Zustand – der Starrheit hinein in Sanftmut, Empfänglichkeit und Nichtidentifikation geschieht (auch wenn diese nicht sonderlich spirituell »perfektioniert« ist), dann veranschaulicht dies die Bedeutung von Thomas Keatings Lehre über das Loslassen. Der heilige Paulus schreibt in seiner klassischen Lehre in Philipper 2.6–11 über Jesus: »Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.« Ich denke, es wäre vertretbar zu behaupten, dass gemäß christlicher Auffassung Liebe reiner ist als Reinheit, selbst wenn (oder insbesondere wenn) sie niedere Elemente in sich aufnehmen muss… Denn Inklusion ist die reinste Essenz der Liebe ist.
Verkündigung: Fresko von Fra Angelico. Quelle: Wikimedia Commons
Chalice Magazin: Was du über Inklusion und Liebe sagst, ist überaus schön. Ist Inklusion, oder auch vorbehaltlose Zustimmung, nicht ein gemeinsames Merkmal von Jesus und Maria? Aber was würdest du von der Möglichkeit halten, die oben zitierte (Sufi-)Interpretation der Empfängnis als das zu verstehen, was Gurdjieff einen Legomonismus, ein Vehikel zur Weitergabe von Wissen über Generationen hinweg, nennt (in diesem Fall: Die Sufis »entlehnen« sich die berühmte christliche Geschichte, um eine wichtige Lehre aus ihrer eigenen Tradition zu übermitteln), wobei Maria »den Schoß des Augenblicks« darstellt und Jesus das, was »aus dem Moment heraus geboren werden kann«, gemäß der Interpretation, dass
dein Körper die Jungfrau Maria [ist]. Der Geist ist Christus, das Wort, das von Gabriel überbracht wurde, dem ewigen Boten. Der Atem ist der Atem der Gnade Gottes, und dieser Atem ist es, der die Seele lebendig macht (Bülent Rauf zitiert in Die letzte Schranke, Seite 96).
Ist dies etwas, mit dem du gemäß deinem eigenen Verständnis und deiner Lehre etwas anfangen kannst?
Bismillah ar-Rahman ar-Rahim (»Im Namen Gottes, des Allerbarmherzigsten und Allergnädigsten«); Kalligrafie des Beginns der Eröffnungssure des Korans. Quelle: Wikimedia Commons
Cynthia Bourgeault: Ich denke, das ist eine schöne Art, sich diese Lehre vorzustellen, obwohl ich gerne mehr über euer Verständnis des Unterschieds zwischen Geist und Atem hören würde, denn diese beiden Wörter sind linguistisch gleich. Für mich ist die Jungfrau Maria näher an rahim, dem Schoß oder dem lebendigen Gefäß der Barmherzigkeit Gottes (Rahim, »Barmherzigkeit«, bedeutet in den semitischen Sprachen auch »Schoß«, daher ist es schwierig, diese Funktion von Maria zu trennen).
Der zeugende Geist, der von Gabriel vermittelt wird, ist das, was die »zweite Geburt« befruchtet – oder die Transformation, die das essenzielle Selbst (oder die wahre Seele eines Menschen) manifestieren wird, und Christus, das fleischgewordene Wort, ist genau dieses essenzielle Selbst. Ich lese dies eher als einen Legomoismus über unsere eigene zweite Geburt – sozusagen unsere eigene spirituelle Erneuerung.
Aber es ist wahr, dass die Zustimmung, das JA zum Geist, ein aktiver und wesentlicher Bestandteil dieser Regeneration ist. Es ist das, was wir beitragen, das »genetische Material« von unserer eigenen menschlichen Seite her, das es dieser zweiten Geburt ermöglicht, fruchtbar und lebensfördernd zu sein, erfüllt von unserer eigenen transformierten Essenz.
Ein wahrer Lehrer ist ein Finger, der auf den Mond zeigt
Chalice Magazin: In deinem Buch Das Herz im Gebet der Sammlung beziehst du dich auf die Wolke des Nichtwissens [/], um von der Elastizität der Zeit zu sprechen, und du schlussfolgerst, dass Zeit verschwindet, wenn wir uns in Kontemplation befinden. Ibn Arabi sagt Ähnliches, wenn er darlegt: »Der Augenblick wird länger oder kürzer entsprechend dem Bewusstsein desjenigen, der ihn erlebt« (aus Reise zum Herrn der Macht, Seite 65). »Echte Kontemplation«, schreibst du, »ist im Wesentlichen eine Erfahrung ›außerhalb der Zeit‹. Die Zeit wird nicht durch den Tod verschlungen, sondern durch die ›vollständige Wiedervereinigung der Willen‹« (Seite 200). Was hältst du dann, im Licht dieses Verständnisses, von jenem anderen berühmten Sufi-Ausspruch: »Zeit ist das ewige Attribut Gottes«?
Cynthia Bourgeault: In diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander; doch ich würde meinen, dass die lineare Zeit (die Zeit, die wir normalerweise hier auf unserer irdischen Ebene erleben und gewöhnlich als »die Zeit« bezeichnen) eine Funktion von ausschließlich dieser Daseinsebene ist. Im nächsten (dem imaginativen) Reich wird Zeit zu einem Volumen und ist nicht länger »von Dauer«. Und wenn wir uns immer mehr dem uranfänglichen Punkt des Zutage-Tretens (oder des Manifestierens) tief im Herzen Gottes annähern, wird die Zeit zunehmend ununterscheidbar von der uranfänglichen Intentionalität oder dem Urwillen. Wenn die Sufi-Maxime dies meint, würde ich zustimmen.
Chalice Magazin: Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer war seit jeher ein Diskussionsthema unter spirituell ausgerichteten Menschen. »Wenn der Schüler bereit ist, wird der Lehrer kommen«, lautet das alte Sprichwort. Aber es ist offensichtlich, wie Reshad betonte, dass der Lehrer den Schüler ebenso braucht. Was ist deiner Meinung nach heutzutage die Bedeutung einer solchen Beziehung, wenn du deinen eigenen Lehrer Thomas Keating und deine eigenen Schülerinnen und Schüler in Betracht ziehst? Und was bedeutet für dich in diesem Zusammenhang »Loyalität« (und was bedeutet es nicht)?
Reshad Feild in Dartington Hall, Devon, 2004. Foto: Chalice Verlag
Cynthia Bourgeault: Ich denke, die Lehrer-Schüler-Beziehung ist archetypisch, heilig, immer relevant, dynamisch – und, wie ihr sagt, gegenseitig. Vor jedem Lehrer oder jeder Lehrerin, der oder die persönliche Loyalität einfordert (das heißt, sich selbst gegenüber, als einzelner Person oder als einem Symbol der Tradition) würde ich so schnell wie möglich davonlaufen.
Ein wahrer Lehrer ist ein Finger, der auf den Mond zeigt – durch die Reinheit dieses Hinweisens ist der Schüler imstande, den Mond zu sehen, und im Licht dieses Mondes erkennt der Schüler die Schönheit und Reinheit des Lehrers. Daher wird niemals Loyalität verlangt, sondern nur Geduld, um dem Prozess und dem Lehrer zu vertrauen, bis wir durchs Nadelöhr navigiert sind. Und selbst hier wird die persönliche Integrität des Schülers oder der Schülerin niemals verletzt, auch nicht aus den alleraufrichtigsten Gründen. Gegenseitigkeit erwächst aus gegenseitigem Respekt, Demut und Vertrauen, die für die Lehrerin oder den Lehrer ebenso gelten wie für den Schüler oder die Schülerin.
Chalice Magazin: Liebe Cynthia, wir danken dir ganz herzlich für dieses Interview.
© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2021
Deutsche Übersetzung © Robert Cathomas & Helga Jacobsen
Weitere Informationen zu Cynthia Bourgeault finden Sie auch auf ihrer eigenen Website www.cynthiabourgeault.org
Anmerkungen
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[1] Höfliche Umgangsformen. »Adab ist ein Verhaltenskodex, der für den Sufismus zentral ist, eine Weise, den Sufi-Pfad mit der richtigen Haltung und wahren Höflichkeit zu gehen. Auf tiefster Ebene ist adab die Haltung der Seele Gott gegenüber, die Weise, wie sich die Seele vor ihrem Herrn mit äußerstem Respekt verneigt und dann diesen Respekt in der äußeren und inneren Welt lebt« (zitiert von The Golden Sufi Center [/]).
Cynthia Bourgeault: Das Herz im Gebet der Sammlung
Cynthia Bourgeault: Das Auge des Herzens
Cynthia Bourgeault: Die Heilige Dreifaltigkeit und das Gesetz der Drei
Cynthia Bourgeault: Jesus: Meister der Weisheit
Elizabeth & John G. Bennett: Monsieur Gurdjieff und seine Idioten
Muhyiddin Ibn Arabi: Die Weisheit der Propheten