Titelseite
------------------------
Theorie
Praxis
Menschen
Kunst

Titelseite
--------------------------------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Titelseite
-------------------------
Theorie | Praxis | Menschen | Kunst

Cynthia Bourgeault

Das Gebet der Sammlung: eine urchristliche Meditationspraxis für das 21. Jahrhundert

Das Gebet der Sammlung nach Cynthia Bourgeault und Thomas Keating

Quelle: Pexels / Chalice Verlag

Das Gebet der Sammlung (oder das Zentrierende Gebet, englisch: Centering Prayer) ist eine authentische christliche Kontemplations- und Meditationspraxis, die in den frühen 1970er-Jahren von einer Gruppe von Mönchen rund um den amerikanischen Trappisten Thomas Keating [/] entwickelt wurde und auf dem mittelalterlichen Klassiker Wolke des Nichtwissens [/] basiert. Cynthia Bourgeault lehrt diese Übung seit vierzig Jahren und hat darüber ein wegweisendes Buch geschrieben, in dem sie einen kompletten Einführungskurs sowie eine ausführliche Darstellung der größeren spirituellen Zusammenhänge bietet. Nachfolgend einige Auszüge daraus

Ausschnitte aus dem Buch: Das Herz im Gebet der Sammlung von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Das Herz im Gebet der Sammlung

as Erlernen des Gebets der Sammlung beginnt mit dem Verlernen von fast allem, von dem Sie bisher glaubten, dass es zu Medi­tation gehöre:

♦ Im Gebet der Sammlung geht es nicht darum, einen Zustand der Glückseligkeit, des Friedens oder der Stille zu erlangen.

♦ Es hat nichts zu tun mit dem Entwickeln einer »auf einen Punkt ausgerichteten Konzentration«.

♦ Das Ziel liegt nicht darin, ein beständiges »Ich bin« oder eine bezeugende Präsenz zu bilden.

♦ Es geht nicht um den Abbau von Stress oder das Er­langen physischen oder emotionalen Wohlbefindens (obwohl dies tatsächlich die bekannten Begleiterscheinungen der Übung sind).

♦ Es geht nicht darum, Botschaften von Gott zu empfangen.

Worum geht es denn dann?

Im Wesentlichen geht es im Gebet der Sammlung darum zu lernen, die Aufmerksamkeit von unseren Gedanken zurückzuziehen – jenen unaufhörlichen Produkten unseres geschäftigen Geistes –, um in einer sanften, offenen Wachheit für die Göttliche Wirklich­keit zu ruhen.

Ausschnitte aus dem Buch: Das Herz im Gebet der Sammlung von Cynthia Bourgeault

Ilia Delio: Der unfertige Gott

 

Zustimmung zur Gegenwart und zum Handeln Gottes

Dieses sanfte Loslassen der Gedanken wird in der Lehre des Gebets der Sammlung als »Einwilligung« oder »Zu­stimmung zur Gegenwart und zum Handeln Gottes« bezeichnet. Dies zu tun, ist nicht schwer, aber es zu schätzen, ist – am Anfang – schwierig. [Seite 23]

Jedes Mal, wenn wir einwilligen, unsere Bindung an einen Gedanken, egal wie fesselnd dieser auch sein mag, loszulassen und zurückzukommen zu diesem einfachen, unbegrenzten Gewahrsein, nehmen wir im Geist – in Solidarität mit Christus – an dieser großen Geste der Selbsthingabe teil, durch welche die Welt erlöst wurde. Dieses traditionelle Andachtsver­ständ­nis mag bei Ihnen Anklang finden oder auch nicht; auf jeden Fall findet es eine sehr interessante Bestätigung in neuesten Er­kenntnissen der Neurowissenschaften, die nahelegen, dass das Loslassen dessen, woran wir uns mental oder emotional klammern, tatsächlich einige revolutionäre – und evolutionäre – Veränderun­gen in unserer neuronalen Verdrahtung bewirkt. Wir werden ein wenig später in diesen Lektionen auf diese faszinierende Unter­suchung zurückkommen. [Seite 25]

Cynthia Bourgeault beim Gebet der Sammlung

Cynthia Bourgeault bei einem gemeinschaftlichen Gebet der Sammlung am Festival of Faith 2017 [/] in Louisville, Kentucky

Das Gebet der Sammlung stellt eine absolute Win-win-Praxis dar. Was auch immer mit uns während einer Meditationssitzung geschieht, es ist in Ordnung. Wenn wir sofort, nachdem wir uns auf den Stuhl oder die Gebetsbank niedergelassen haben, in eine tiefe, zwanzigminütige Stille fallen: Groß­artig! In diesem Fall erleben wir eine gründliche spirituelle Er­ho­lung. Und wenn wir dort sitzen und jede einzelne Minute sich wie zwanzig Minuten anfühlt, unser Verstand sich in Gedan­ken verbeißt, wir aber weiterhin unser Bestes geben, um diese loszulassen: Das ist genauso großartig! Dann haben wir eben eine gute Aerobic-Einheit für das Training unseres »Muskels« der Zu­stimmung absolviert. [Seite 26]

Selbstverständlich ist das Gebet der Sammlung eine innere Erfah­rung und keine äußerliche Performance. Doch es hat auch einen gewissen Yoga-Aspekt, der in seiner bisherigen Lehre stets zu wenig betont worden ist. Wenn wir in der Meditation sitzen, präsentieren wir uns tatsächlich als eine Ikone für eine der arche­typischsten und edelsten menschlichen Aktivitäten: die Gemein­schaft mit dem Unendlichen. Sind wir uns der natürlichen Würde und Schönheit dieses Archetyps bewusst, wird es unserem Körper helfen, seine Haltung leichter zu finden. Gleichzeitig stellt dies für alle anderen, die mit uns gemeinsam in einer Gruppe meditieren, eine wertvolle Hilfe dar. [Seite 35]

Sich an Gott zu erinnern, ist kein mentales Konzept, sondern eine Schwingung tief in unserem Körper.

Somit findet sich die Relevanz dieses Gebets nicht während der Gebetszeit selbst; das, was man im Allgemeinen unter einer »mystischen Erfahrung« versteht, wird vom Gebet der Sammlung weder beabsichtigt noch gutgeheißen. Stattdessen liegt seine Bedeutung in seinem Vermögen, eine Person langsam, aber stetig mit »der Ge­sinnung Christi« in Übereinstimmung zu bringen, und in einer Lebenseinstellung des Mitgefühls, der Großzügigkeit und der Frei­heit, die daraus entspringt.

»Gott sollte wie ein Zahnschmerz mit sich getragen werden!«, erklärte der orthodoxe Lehrer des neunzehnten Jahrhunderts Theo­phan der Klausner [/].[1] Während die meisten von uns vielleicht eine sanftere Metapher bevorzugt hätten, liefert sie doch ein eindrück­liches Bild für die Tatsache, dass unser Gottesbegriff ein sinnlicher ist. Sich an Gott zu erinnern, ist kein mentales Konzept, sondern eine Schwingung tief in unserem Körper, eine Leitstrahlfrequenz, auf die wir uns zunehmend sensitiv eingestimmen können. [Seite 81]

»Die Wirkung von Gebet besteht darin, unser Identitätsgefühl zu transformieren«

Symeon der Neue Theologe [/] sagt über einen gescheiterten spirituell Praktizierenden nicht, »dass seine Wachsamkeit nicht auf seinem Herzen ist«, sondern »nicht in seinem Herzen«. Und es ist genau diese winzige Präposition, die, so glaube ich, den Schlüssel zum Rätsel des inneren Beobachtens ganz herumdreht.

Es ist schwierig, sich Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit anders als »auf etwas« vorzustellen. Es ist uns nahezu unmöglich, das Wort »achtgeben« ohne den Zusatz »auf« zu verwenden, dermaßen groß ist die Kraft dieses geheimnisvollen Energiefeldes, sich selbst in einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu manifestieren. Traditionelle Meditationsmethoden der Konzentration wissen sehr wohl darum und geben daher dem Verstand ein einfaches Objekt für seine Auf­merksamkeit: die Atmung, ein Mantra, ein Bild.[2]

Aufmerksamkeit ist wie eine aufgerollte Latenz, »zitternd wie Queck­silber« (in den Worten des Poeten Dschalal ad-Din Rumi).

Doch Aufmerksamkeit ist nicht nur ein Kohlebogen, der vom Subjekt zum Objekt springt. Ebenso ist sie ein autonomes Energie­feld – eine feinstoffliche Substanz von extrem feiner Schwingung, wie einige Schulen der inneren Arbeit lehren. Und obwohl ihre gewöhnliche Konfiguration der Subjekt-Objekt-Modus ist, kann sie auch innerlich gehalten und als ein eigenständiges Schwingungs­feld erlebt werden: als eine aufgerollte Latenz, »zitternd wie Queck­silber« (in den Worten des Poeten Dschalal ad-Din Rumi).[3]

In dieser Konfigurierung »reflektiert sie nicht über das Dasein«, sondern reflektiert es: spiegelt es wie ein stiller Teich, schimmert mit derselben vibrierenden »Ich bin«-Präsenz. Sie wird zu einem kleinen, stark konzentrierten Seinsreservoir in uns selbst, einem Quell »spondischer« oder selbstopfernder Energie (wie Beatrice Bruteau [/] sie nennt),[4] auf die keine Aufmerksamkeit gerichtet werden muss, weil sie selbst das Subjekt der Aufmerksamkeit ist und nicht das Objekt. Wenn wir beginnen, diese Erfahrung zu verstehen, verändert sich schlagartig unsere innere Ausrichtung, weil wir uns tiefgreifend des Unterschieds bewusst werden zwischen Aufmerksamkeit und [wie man mit einem deutschen Wortspiel vielleicht sagen könnte] Inmerk­samkeit.

In ihrem meisterhaften Essay “Prayer and Identity” vertieft die zeitgenössische non-duale Philosophin Beatrice Bruteau diesen scheinbar geringfügigen, doch in Wirklichkeit aufschlussreichen Unterschied brillant. Nach ihrer einleitenden Behauptung, »die Wirkung von Gebet besteht darin, unser Identitätsgefühl zu transformieren«,[5] beginnt sie, das Wesen und die Richtung dieser Transformation darzulegen, indem sie zunächst auf das schaut, was dekonstruiert werden muss:

Die erste Aufgabe ist zweifellos die, Ihr Identitätsgefühl von Ihren Selbstbeschreibungen zu lösen. Damit ist nicht gemeint, dass Sie eine andere Beschreibung für sich finden, welche die richtige wäre. Es bedeutet zu erkennen, dass Sie nicht beschrieben werden können. Nichts von dem, was mit Ihrem Namen benannt wird – Ihr Körper, Ihre Geschichte, Ihre Per­­sönlichkeit, Ihre Gefühle –, ist letzten Endes »Sie«. Was auch immer beschrieben und von anderen Beschreibungen unterschieden werden kann, all das gilt es abzustreifen, damit die übriggebliebene Selbstheit als »nackt« bezeichnet werden kann, wie es in den mystischen Überlieferungen häufig geschieht.

Wir lassen das gewohnte psychologische Universum hinter uns, und zwar aufgrund der entscheidenden Entdeckung, dass das wahre Selbst niemals einfach nur eine gründlich gesäuberte, hoch-funktionelle Version des »falschen Selbsts« sein kann. [Seiten 97–98]

 

Cynthia Bourgeault und Thomas Keating in Snowmass

Cynthia Bourgeault mit Pater Thomas Keating in der Trappistenabtei Saint Benedict’s Monastery, Snowmass, Colorado, 2012. Quelle: Cynthia Bourgeault

Sein »erlangen« durch das Loslassen des Identifizierens

Wir müssen mit unserem subjektiven Akt des Bewusst-Seins zusammenfallen [koinzidieren], und nicht über die Tatsache unseres Seins oder unseres Bewusst-Seins nachdenken [reflektieren].[6]

[…] Ohne es direkt anzusprechen, verweisen viele Lehrer der inneren Tradition darauf, dass diese Fähigkeit nicht bloß eine Technik ist, die wir erlernen können. Die Fähigkeit, »mit dem subjektiven Akt des Bewusst-Seins zusammenzufallen« (anstatt einfach in eine men­tale Reflexion zu verfallen), ist an sich bereits ein hochenergetischer spiritueller Zustand und verlangt ein beträchtliches Maß an innerem Sein (oder »Präsenz«), um aufrechterhalten zu werden.

Diese Präsenz muss »akkumuliert«, nicht nur gemeistert werden. Bis eine bestimmte kritische Schwelle erreicht ist, gleiten wir unweigerlich wieder in den mentalen Operationsmodus zurück, weil unsere innere Kraft, für das Sein präsent zu bleiben, noch nicht ausreicht.

In der klassischen inneren Lehre hängt dieses Vermögen zu anhaltender Präsenz von der Akkumulation dessen ab, was als »freie Aufmerksamkeit« bezeichnet wird – womit die Aufmerksam­keit gemeint ist, die in der Lage ist, in dem bereits besprochenen (»wie Quecksilber zitternden«) inneren einheitlichen Feld zu verbleiben, anstatt sich dauernd in identifizierten Reaktionen nach außen ziehen zu lassen.

Der große Energieabfluss, dem unsere Fähigkeit zu reinem Sein unterliegt, geschieht durch unsere tiefverwurzelte Gewohnheit, »uns mit unseren Selbstbeschreibungen zu identifizieren.«

Der große Energieabfluss, dem unsere Fähigkeit zu reinem Sein unterliegt, geschieht durch unsere tiefverwurzelte Gewohnheit, »uns mit unseren Selbstbeschreibungen zu identifizieren«, wie Bruteau es formuliert, – also unsere Aufmerksamkeit automatisch in den Subjekt-Objekt-Modus fließen zu lassen, anstatt sie »im Herzen« zu bewahren, wie Symeon der Neue Theologe mahnt.

Das Problem liegt nicht nur in der Unzulänglichkeit der Beschrei­bungen; das schwerwiegendere Problem besteht darin, dass dieser Prozess an sich äußerst entropisch ist. Der repetitive Vorgang, sich selbst durch Identifizierung zu finden (auch wenn dies mit wahren und angemessenen Beschreibungen versucht wird), hält die Seinsenergie knapp unterhalb der kritischen Schwelle, die nötig wäre, um dem Gravitationsfeld der narrativen Selbstheit zu entkommen.

Wie Symeon der Neue Theologe bemerkte, ist somit die altehrwürdige Strategie, »den Ort zu finden, wo das Herz ist« – also die Fähigkeit, die bezeugende Präsenz aus diesem inneren Zentrum der Schwerkraft heraus zu unterstützen anstatt vom Verstand aus –, nichts anderes als ein Loslassen des Identifizierens. Lösen wir die Bindung und brechen wir die Siegel des Subjekt-Objekt-Modus der Aufmerksamkeit, dann ist das, was zum Vorschein kommt, ein äußerst energetisiertes Feld reiner »freier Auf­merksamkeit«, die schließlich ein neues Zentrum der Selbstheit ins Leben ruft.

Bruteau beschreibt die Beziehung zwischen dem Zu­rück­ziehen der Energie von den Deskriptoren (oder »Prädika­ten«, wie sie diese hier nennt) und ihrem Wiedererlangen als reines Sein in einer Textstelle von beispielloser Schönheit und Klarheit:

Wenn Sie sich aller Prädikate vollständig entleert haben – einschließlich der Selbstbeschreibung als ein »Empfänger« –, sind Sie äußerst ausgefüllt von reinem »Ich bin.« Und genau dann, wenn dieser Punkt erreicht ist, explodiert dieses in die schöpferisch ausströmende Energie. […] Ich bezeichne diese Energie als »spondisch« oder »selbstopfernd«, weil sie sich ergießt wie ein heiliges Trankopfer, und diese vollkommene Freiheit nenne ich »schöpferische Freiheit«.[7] [Seiten 100–101]

Früher oder später beginnen wir, dieses »Zerren« in Richtung des Herzzentrums auch außerhalb der Gebetszeiten zu spüren

Praktizierende des Gebets der Sammlung begreifen schon früh, wie dieses Abfließen, zu dem unsere Aufmerksamkeit neigt, unterbrochen werden kann. Da das Gebet zur Gänze mit »Intention und nicht mit Attention« arbeitet (wie Thomas Keating immer wieder betonte), hat unsere Aufmerksamkeit keinen besonderen Fokus, noch nicht einmal den Atem oder ein Mantra. Die Übenden müssen früh lernen, wie sie die Aufmerksamkeit in diesem inneren, undifierenzierten Zustand bewahren (oder, was häufiger der Fall ist, sie in diesen zurückbringen) können.

Alles, was der Aufmerk­sam­keit als Objekt dient, ganz gleich wie fromm oder heilig es auch sein mag – eine Vision, eine Fürbitte, ein Juckreiz an der Nase –, wird in dieser Übung als »Gedanke« betrachtet und muss losgelassen werden. Indem Praktizierende allmählich die Kunst erlernen, Energie von allen Objekten der Aufmerksamkeit zurückzuziehen, entwickeln sie gleichzeitig (und größtenteils unbemerkt) eine innere Fähigkeit, zwischen Aufmerksamkeit und Inmerksam­keit zu unterscheiden. Loslassen ist in erster Linie eine Regung – ein feines inneres Fallen- und Freilassen – und jede Möglichkeit, sie zu üben, verstärkt dieses Muster.

Eines Tages erkannte ich plötzlich, dass die Sache mit Gott in diesem Fall der Neben­schauplatz und das Loslassen die Hauptveranstaltung ist.

Ich praktizierte das Gebet der Sammlung bereits einige Jahre, bevor mir die kumulative Wirkung dieses Musters bewusst wurde. Wie die meisten Anfängerinnen dachte ich, das Ziel des Gebets der Sammlung bestehe darin, die Gedanken loszulassen, damit Gott mich mit Seiner Präsenz »erfüllen« könne.

Eines Tages erkannte ich plötzlich, dass die Sache mit Gott in diesem Fall der Neben­schauplatz und das Loslassen die Hauptveranstaltung ist. Das war der Zeitpunkt, an dem sich die Übung für mich veränderte, weil ich begriff, dass die Gedanken kein Hindernis darstellen: Die Gedanken bilden das Rohmaterial. Und so vertiefte jede Ge­legen­heit des Übens, den Fokus der Aufmerksamkeit loszulassen, das Re­servoir der »freien Aufmerksamkeit« in mir und stärkte das Signal des Funkleistrahls meines Herzens.

Früher oder später erreichen wir einen Kipppunkt (was häufig zum ersten Mal in der Synergie intensiver Einkehrtage geschieht), an dem die Stärke dieses Signals größer wird als die von den Ge­danken ausgeübte Anziehungskraft. Wenn dann an der Ober­fläche des Verstandes ein Gedanke auftaucht, wird das entgegen­gerichtete Zerren aus der Tiefe so stark, dass das Loslassen mühelos gelingt; anders funktioniert es auch nicht.

Typischerweise beginnen wir nun, dieses »Zerren« auch außerhalb der Gebetszeit zu erleben, weil sich die Ereignisse des täglichen Lebens nun zunehmend als helfende Erinnerung an die tiefere Sehnsucht des Her­zens (statt als Ablenkungen davon) anbieten. [Seiten 101–102]

 

Wolke des Nichwissens: Titelbatt eines Manuskripts aus de 15. Jahrhundert

Titelblatt eines Manuskripts der Wolke des Nichtwissens aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Der Titel des Werks (Clowde of Unknowyng) findet sich unterstrichen auf der zweiten und dritten Zeile von oben. Quelle: British Library, Harley MS 959

Die Wolke des Nichtwissens aus dem fünfzehnten Jahrhundert

Vor bald fünfzig Jahren brachte Thomas Keating, der Abt der Saint Joseph’s Abbey in Spencer, Massachusetts, den Ball des Gebets der Sammlung ins Rollen und zwar mit seiner berühmten Frage anlässlich eines klösterlichen Treffens seines Ordens: »Ist es denn nicht möglich, die Essenz des christlichen kontemplativen Pfades in eine Meditationsmethode zu gießen, die für moderne, draußen in der Welt lebende Menschen zugänglich ist?« Besorgt darüber, dass es immer mehr junge christliche Suchende zu östlichen Meditationspfaden hinzog, lud Thomas seine Mönchsbrüder ein, gemeinsam mit ihm den in ihrem christlichen Hinterhof vergrabenen Schatz ans Licht zu heben.

Einer der Mönche, Pater William Meninger, nahm die Heraus­forderung an. Er griff sich sein zerlesenes Exemplar des spirituellen Klassikers Wolke des Nichtwissens aus dem vierzehnten Jahrhun­dert, schlug bei Kapitel 7 auf und stieß sofort auf den Absatz, der danach schnell zum Eckpfeiler der Methode des Gebets der Samm­lung werden sollte. Mitten in einer Erörterung der Frage, warum es im Gebet nicht vieler Worte bedarf, sondern nur eines »nackten, reinen Ausgerichtetseins auf Gott«, rät dieser anonyme englische Kontemplierende:

Falls du dieses Sehnen in ein Wort fassen willst, um es besser gegenwärtig halten zu können, nimm ein einsilbiges; das ist besser als eins mit zwei Silben. Je kürzer es ist, desto besser entspricht es dem Vollzug der Übung. Solch ein Wort wäre »Gott« oder »Lob« [Anmerkung des Übersetzers Willi Massa: Urtext: love]. Wähle eines von beiden oder auch ein anderes, das dich anspricht. Nimm dieses Wort so tief in dein Herz, dass es dort bleibt, was immer auch geschehe.[8]

Und im Wesentlichen ist es dies, was die Praktizierenden des Gebets der Sammlung seither tun.

In den frühen 1970er-Jahren wurde damit begonnen, diese schnörkellose Methode christlicher Meditation, ursprünglich »das Gebet der Wolke« genannt, Exerzitanten an der Saint Joseph’s Abbey anzubieten – anfänglich nur Geistlichen, kurz darauf auch Laien. Schon sehr bald machte es einen Sprung über die Mauern des Klosters und wurde, umgetauft in »Gebet der Sammlung«, zu einer kraftvollen Graswurzelinitiative.

In den frühen 1980er-Jahren wurde deutlich, dass es einer institutionellen Infrastruktur bedurfte, um die Entwicklung bewältigen zu können und die Lehr­standards innerhalb dieses aufkeimenden Verbundes aufrechtzu­erhalten – und so kam es 1983 zur offiziellen Gründung von Con­templative Outreach [/]. In den letzten dreißig Jahren wuchs diese kontinuierlich zu einer internationalen Organisation, die mittlerweile mehrere Hunderttausend Mitglieder zählt. [Seiten 135–136]

Die damalige Epoche war geistig gesehen eine gefährliche. Bereits im Jahr 1329 hatte die Römische Kirche die mystischen Schriften Meister Eckharts verdammt, als sich die ersten Risse im monolithischen Bollwerk der römisch-katholischen Theologie auftaten.

Die Wolke des Nichtwissens ist einer der großen spirituellen Klassi­ker der mittelalterlichen christlichen Mystik. Die meisten Wissen­schaftler stimmen darin überein, dass es das Werk eines anonymen englischen Mönches aus dem vierzehnten Jahrhundert ist, der einige Jahre später eine weitere Sammlung seiner Lehren beisteuerte, bekannt als Brief persönlicher Führung – Ein Meister unterweist seinen Schüler.

Wie Rainer Maria Rilkes Briefe an einen jungen Dichter fünf Jahrhunderte später, hat dieser Teil den Charakter eines persön­lichen Unterrichts, der von einem älteren, erfahreneren Mönch einem jüngeren auf dem Pfad erteilt wird. Es ist wichtig diese beiden Parameter im Hinterkopf zu behalten:

(1) Die Wolke war anfänglich nicht als ein allgemeines spirituelles Handbuch konzipiert, sondern als eine auf einen ganz bestimmten Empfänger ausgerichtete Schulung, um deren Kern der ältere Mönch wusste; und (2) es ist ganz offensichtlich, dass diese Unter­weisungen nicht an einen Anfänger adressiert waren, sondern an jemanden, der in den grundlegenden religiösen und ethischen Aspekten des christlichen Weges bereits gut ausgebildet war und nun die nächste Stufe anstrebte, die vom Autor »die kontemplative« genannt wird.

Warum der sogenannte Cloud-Autor anonym ist? Die Frage schürte jahrhundertelang Spekulationen und führte zu diversen Mutmaßungen, einschließlich derjenigen, dass es sich um eine Frau gehandelt habe.

Meines Erachtens lautet die offensichtlichste Erklärung (abgesehen von der Tatsache, dass wir es hier mit einem ursprünglich privaten Schreiben zu tun haben), dass die damalige Epoche geistig gesehen eine gefährliche war. Bereits im Jahr 1329 hatte die Römische Kirche die mystischen Schriften Meister Eckharts [/] verdammt, als sich die ersten Risse im monolithischen Bollwerk der römisch-katholischen Theologie auftaten. In Oxford hatte sich John Wycliff [/] für eine Bibelübersetzung in der Landes­sprache eingesetzt, und am Ende jenes Jahrhunderts existierte tatsächlich bereits eine Ausgabe, die Wycliffs Anhänger, die Lollar­den [/], in die Hände von Laien legten: die Lunte eines Aufstands, der mehr als ein Jahrhundert später als Reformation ausbrechen sollte.

»Es genügt völlig ein nacktes, reines Ausgerichtetsein auf Gott, das kein anderes Motiv hat als Ihn selbst.«

Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass unser anonymer Autor einige äußerst prekäre theologische Behauptungen aufstellte, beispielsweise: »die dunkle Wahrnehmung deines Seins […], das mit Gottes Sein vereint ist« oder: »Es genügt völlig ein nacktes, reines Ausgerichtetsein auf Gott, das kein anderes Motiv hat als Ihn selbst.« Diese Art von Gedanken hätte einen durchaus auf den Scheiterhaufen bringen können! [Seiten 139–140]

 

Das Gebet der Sammlung bringt uns in den Zustand des objektlosen Gewahrseins

Was tun wir eigentlich während des Gebets der Sammlung? »Der Gegenwart und dem Handeln Gottes zustimmen«, gewiss. »Die Fähigkeiten entwickeln, um die Gnade der Kontem­plation zu empfangen«, ja, sehr wahrscheinlich.[9] Aber wie funktioniert die eigentliche Mechanik dieses Vorgangs? […]

Was auch immer ansonsten auf der spirituellen Ebene passiert – das, was wir eigentlich tun, ist, uns von den Gedanken zu lösen, manchmal sogar non­stop. Während der zwanzigminütigen Gebetszeit lösen wir immer und immer wieder unsere Aufmerksamkeit von einem Gedanken, in dem sie sich verfangen hat, und bringen sie zurück in eine weiträumigere Ausrichtung.

Ein »Gedanke« umfasst in der Terminologie des Gebets der Sammlung alles, was unsere Aufmerksamkeit auf einen Fokus zwingt. Es kann eine Eingebung sein, eine Erinnerung, eine plötzliche heftige Gemütsregung oder der perfekte Schlusssatz der Predigt, die wir am kommenden Sonntag zu halten planen. Ge­nauso gut kann es ein Juckreiz auf der Nase oder das Surren des furchtbaren Neonlichts an der Zimmerdecke sein. Wenn unsere Aufmerksamkeit von etwas in einem Maß abgelenkt wird, dass wir uns damit beschäftigen, ist es ein »Gedanke«. Und im Gebet der Sammlung lautet der Marschbefehl, alle Gedanken loszulassen.

Warum? Die üblichen Erklärungen zu dieser Frage lauten, um »uns selbst leer zu machen, damit wir von Gott erfüllt werden können«, oder sie ermahnen uns, dass ein vollgestopfter, beschäftigter Geist kaum vollständig gegenwärtig sein kann – was nur allzu wahr ist. In meiner eigenen Lehre ziehe ich einen etwas anderen Herangehenswinkel vor.

Jesus im Gemäde »Bergüredigt« von Carl Bloch (1877)

»Die Bergpredigt«: Gemälde von Carl Bloch (1877). Quelle: Wikimedia Commons

Im Lauf der Jahre bestand ich sanft, aber mit Nachdruck darauf, dass es beim Loslassen eines Gedankens nicht um ein bestimmtes erwünschtes Resultat geht; das Loslassen selbst ist die ganze Bedeutung des Gebets. Theologisch habe ich versucht, es auf Grundlage der Kenosis oder des »Loslassens« zu erklären, welches der heilige Paulus (in seiner großartigen Hymne in Philipper 2.6–11) als die Essenz des »Annehmens der Gesinnung Jesu« beschreibt.

Jedes Mal, wenn es uns gelingt, uns aus einem Gedanken zu entkoppeln, geschieht dies im Schulterschluss mit Jesu eigener kenotischer Haltung; mittels dieses Prozesses, in dem wir diese Haltung immer tiefer in unserem Wesen nachbilden, entwickelt sie sich schließlich zu unserer Standardreaktion auf alle Situationen des Lebens. […]

Haben Sie jemals ganz genau beobachtet, was geschieht, wenn Sie einen Gedanken loslassen? Ja, meistens stürzen weitere Ge­danken herein. Aber schenken Sie dem geringen Abstand zwischen ihnen Beachtung: Auch wenn es sich nur um eine Nano­sekunde handelt, ist da ein Moment, in dem Sie gegenwärtig und auf der Hut sind und in dem Ihre Aufmerksamkeit auf keinen besonderen Gegenstand gerichtet ist. In dem Moment befinden Sie sich kurz in einem Zustand des objektlosen Gewahrseins.

Dieser flüchtige Geschmack einer ganz anderen Bandbreite des Bewusstseins in der Lücke zwischen den Gedanken wird in den östlichen Meditationstraditionen und in einigen Nischen der inneren Arbeit in westlichen spirituellen Traditionen ausgiebig kommentiert, doch der Mainstream der christlichen theologischen und religiösen Tradition geht darüber hinweg wie über ein an dieser Stelle nie bemerktes Stoppschild.

Wenn wir diese Lücke aber bemerken und damit zu arbeiten lernen, wird sie uns eine vollständig neue Herangehensweise ermöglichen, und zwar nicht nur an unsere persönliche spirituelle Entwicklung, sondern auch an einige jener beeindruckenderen Werke unserer westlichen spirituellen Tradition, unter denen die Wolke des Nichtwissens eine prominente Stellung einnimmt. [Seiten 145–147]

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2021
Deutsche Übersetzung © Robert Cathomas & Helga Jacobsen

Anmerkungen

Durch Klicken auf die Ordnungszahlen können Sie zwischen Haupttext und Fußnote hin- und herspringen.

[1] Aus einem privaten Gespräch mit Robin Amis im September 1992, als wir an seiner Neuveröffentlichung der gesammelten Schriften von Theophan dem Klaus­ner zusammenarbeiteten. Robin Amis [Hrsg.]: Theophan the Recluse: Writings on Prayer of the Heart, Newburyport, MA: Praxis Press, 1992.

[2] Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Gebet der Sammlung und seiner Schwestermethode, der christlichen Meditation von John Main, in der darauf bestanden wird, dass Aufmerksamkeit an ein Mantra gebunden sein muss.

[3] Dschalal ad-Din Rumi: Von allem und vom Einen, übersetzt von Anne­marie Schimmel, München: Diederichs, 1988, Seite 58.

[4] »Spondisch« stammt vom griechischen Wort für »Trankopfer« [A.d.Ü.].

[5] Cynthia Bourgeault: “Beatrice Bruteau’s ‘Prayer and Identity’” in Thomas Keating [et al.]: Spirituality, Contemplation, and Transformation: Writings on Centering Prayer, New York: Lantern Books, 2008, Seite 84.

[6] Ebenda, Seite 102.

[7] Ebenda, Seite 99.

[8] Willigis Jäger [Hrsg.]: Wolke des Nichtwissens – Der Klassiker der Kontemplation, übersetzt von Willi Massa, Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag in der Verlag Herder GmbH, 2012, Seite 50.

[9] Dies sind Standarderklärungen im Contemplative-Outreach-Unterricht, wie sie in der knappen Einführungsbroschüre und in allen Einführungsworkshops gegeben werden.