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Ladislaus Boros

Hoffnung als Sehnsucht nach dem Himmel

Zwei spielende Kinder im Regenwald

Foto: Pexels / sudip paul

Menschliches Hoffen und Sehnen ist letztlich ein immerwährendes Suchen nach den vielgestaltigen Vorformen dessen, was wir im religiösen wie auch im alltäglichen Sprachgebrauch gerne als »Himmel« bezeichnen. Für den ungarisch-schweizerischen Theologen und Philosophen Ladislaus Boros (1927–1981) ist daher eine dialektische Betrachtung des Himmels eine Voraussetzung für ein tieferes Vertändnis menschlicher Hoffnung als solcher

Initial Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört und in kein Menschenherz ist eingedrungen, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben« (1 Kor 2.9). Dieser Grundtext der Hoffnung soll gleich am Anfang unserer Meditationen stehen als Verheißung, als Warnung und als Hinweis. Wir müssen zwar die ewige Vollendung all unserer Sehnsüchte, den Himmel, aus dem Gesamt unserer irdischen Erfahrung »emporsteigen« lassen, gleichzeitig aber die irdische Sehnsucht ins menschlich Unerreichbare »hinausprojizieren«. Erst so können wir über den Himmel Gültiges aus­sagen. Himmel ist etwas unsere Kräfte ganz und gar Überstei­gendes, aber auch etwas, wonach wir unmöglich nicht verlangen können. […]

Jeder Augenblick des Himmels wird aus Momenten des reinen Gleichgewichtes der inneren Gegensätze bestehen, in einer Auf­hebung der Gegensätzlichkeit, in einem Schweben über dem Abgrund des Ja und des Nein unseres eigenen Seins. Dasein als reine Spannung wird sich im Himmel verwirklichen.

Das Woher unserer eigenen Sehnsucht und des Drängens der Welt liegt für uns im Dunkel. Der Ursprung der Strebungen kann nie ins volle Licht gezogen werden. […] Wenn auch unser Daseinsdrang sich über seinen Ursprung ausschweigt, gibt er uns dennoch sein Wohin kund. Er entfaltet sich vor unseren Augen zunächst in zahlreichen, einander oft entgegengesetzten Strebungen. Zugleich zeigt es sich, dass die Gegensatz­spannung nicht nur zwischen den verschiedenen Strebungen, sondern auch innerhalb der Einzelstrebungen, in ihrer eigensten Struktur vorhanden ist. Jedes menschliche Verlangen entsteht aus Gegensätzen, ist dialektisch angelegt. Die einzelne Strebung ist immer ein labiles Gleichgewicht der Gegensätze. Diese Gegensätze zeigen die Richtung des Daseinsdranges an. Die innere Ge­gensätz­lich­keit der Strebungen zu erforschen, heißt deshalb, die schweigende Urdynamik unseres Daseins irgendwie zum Sprechen zu bringen. Eine solche Untersuchung erfordert aber eine Art konkretes Denken. Wir müssen das zu Erforschende aus unseren eigenen, persönlichen Lebenserfahrungen emporsteigen lassen, seine Spuren in unserer einmaligen Lebensgeschichte entdecken. Somit ist irdisches Denken über den Himmel immer eine existenzielle Be­­mü­hung. […]

Jeder Augenblick des Himmels wird aus Momenten des reinen Gleichgewichtes der inneren Gegensätze bestehen, in einer Auf­hebung der Gegensätzlichkeit, in einem Schweben über dem Abgrund des Ja und des Nein unseres eigenen Seins. Dasein als reine Spannung wird sich im Himmel verwirklichen. Gelingt es uns also, das innere Gleichgewicht der Strebungen aus der Erfah­rung zu entwerfen, die seltenen Augenblicke des Gleichgewichts in unserem Leben auf ihre ewige Gestalt hin zu durchleuchten, dann wird in uns eine ferne Ahnung vom Himmel entstehen, dann begreifen wir, in welche Dimensionen die übernatürliche Vollen­dung unser kleines, irdisches Leben ausspannen wird.

Es ist notwendig, diesen mühsamen Weg der Durchleuchtung des Konkret-Gestalthaften zu gehen, denn ohne Vorstellung stehen wir als endliche Wesen wie in der Leere des Nichts. Wir müssen in vorgestellten Chiffren die Sprache des Unvorstellbaren suchen. Noch ein letzter Vorbehalt: Die philosophische Einsicht ist nie wie ein Wissen, das wir besitzen. Der Einzelne muss das ihm selbst Gewisse finden. Dass er es findet, kann er selbst nicht erzwingen. Das Philosophieren kann nur bestätigen, was jeder schon erfährt. Es vermag zu ermutigen, es vermag gegen leeres und halbes Denken zu schützen. Es erhellt die stille Gewalt der Ahnung, der das Bewusstsein unendlicher Vollendung entspringt.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Wir sind Zukunft, enthalten in unserer Ladislaus-Boros-Gesamtausgabe, Band 4: Glaube, Hoffnung, Liebe

Ilia Delio: Ursächlich Liebe
Ladislaus Boros Gesamtausgabe Band 4

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch Wir sind Zukunft, enthalten in unserer Ladislaus-Boros-Gesamtausgabe, Band 4: Glaube, Hoffnung, Liebe

Selbstvollendung als Vollendung der Welt

Das menschliche Bewusstsein kommt erst durch die Gegenwart eines Anderen zu sich selbst. Die Welt ist somit nicht nur Be­dingung der Möglichkeit menschlicher Existenz, sondern radikaler das grundlegende Existenzial (die alle Bestimmungen durchziehende Grundbestimmung) endlichen Daseins. Das Andere ist für den Selbstvollzug des Daseins immer das Zuerst-Gegebene. Das eigene Ich folgt immer nur hinterher. Darin offenbart sich die grundsätzliche und unaufhebbare Weltimmanenz des Menschen.

An der eben angedeuteten Struktur der Bewusstwerdung lässt sich ein durchgreifendes Daseinsgesetz ablesen: Das Dasein kommt erst zu sich, indem und insofern es sich in einem Anderen verliert. Das Wesen des Menschseins ist auf Selbsthingabe angelegt. Selbst­verlust gebiert Selbstgewinn; aus Selbsthingabe entsteht Selbstbe­sitz. Ein inkarnierter Geist ist somit mit innerer Notwendigkeit auch hineingebunden in die Welt: Die Weltlichkeit des Menschen ist nicht etwas, das die endliche Person auch noch »neben« ihrer Geistigkeit »betreibt«, sondern ein notwendiges Moment am Selbstvollzug dieses Geistes. Der geistige Vollzug des Anderen ist die Bedingung der Möglichkeit des geistigen Selbstvollzugs. Wie vorhin schon angedeutet: Selbstwerdung geschieht in der Selbst­hingabe. Die Urgeste jeder menschlichen Strebung ist somit das sorgende und hinnehmende Umkreisen eines Anderen, das zärtliche Verweilen bei dem, was uns gegeben ist, das selbstlose und sich selbst zurückstellende Gegenwärtigwerden für ein fremdes Sein.

Das besagt freilich nicht, dass der Mensch diese Grundhaltung der Strebung nicht zerstören oder unterdrücken kann. Wie jede Gabe, so ist auch die Selbstlosigkeit eine Aufgabe, die sich in seltenen, gelungenen Existenzen zur Tugend entfalten kann. Die wirklich Selbstlosen sind deshalb so dünn gesät. Darum schätzt man diejenigen als etwas Seltenes – sagt Hugo von Hofmannsthal [/] –, die ruhig und aufmerksam zuzuhören verstehen. Ebenso selten ist ein wirklicher Leser. Am seltensten einer, der seine Nebenmenschen auf sich wirken lässt, ohne den Eindruck unablässig durch seine innere Unruhe, Eitelkeit und Selbstsucht zu zerstören, ja zu vernichten. Vom Wesen her gesehen bleibt aber wahr: Der Mensch ist ein vom Anderen Abgeleiteter, Abkünftiger. Zu sich einkehren kann er nur in Auskehr, sich finden, indem er suchend das Andere entgegennimmt. Das Wesentliche kann demnach nur in einer Hingabehaltung hingenommen werden, die keinen Vorteil sucht und keine Absicht verfolgt, also Nur-Hingabe, Liebe, ist. Die Liebe ist darum das eigentliche Studium des Seins, weil sie allein aus dem Anderen die Konsequenzen zieht. Demnach kann auch unsere Vollendung von uns selbst nicht errungen werden; sie wird uns als Antwort auf unsere Hingabe geschenkt.

Die grundsätzliche Verweigerung der Hingabe an das Andere bedeutet deshalb Selbstverkümmerung. C.S. Lewis [/] drückte diese Urgegebenheit folgendermaßen aus:

Lieben heißt auch, verletzlich sein. Liebe irgendetwas, und dein Herz wird ganz gewiss gequält und möglicherweise gebrochen. Willst du dein Herz ganz zuverlässig unversehrt bewahren, darfst du es nie verschenken, nicht einmal einem Tier. Umgib es sorgfältig mit Steckenpferden und kleinen Verwöhnereien; meide alle Verwicklungen; verschließe es sicher in den Sarg deiner Selbstsucht. Dort wird es aber – gesichert, dunkel, reglos, ohne Luft – sich verändern. Du hast nur die Wahl zwischen Tragik – oder wenigstens dem Wagnis einer Tragödie – und Selbstverdammung. Der einzige Ort außerhalb des Himmels, wo du vor allen Gefahren und Trübungen der Liebe vollkommen sicher sein kannst, ist die Hölle.

Die Auskehr in die Weltlichkeit gehört somit zur Wesensstruktur menschlicher Selbstwerdung. Darin ist bereits eine erste Schlussfolgerung für unser Denken über den Himmel enthalten. Aus dem Gesagten erhellt: Jede Voll­en­dung unseres Wesens kann nur gedacht werden als die gleichzeitige, unsere eigene Verwandlung bedingende Vollendung der Welt. Un­ser Nachdenken über die Dynamik der menschlichen Hingabe enthüllt uns eine unaufhebbare Schicksalsgemeinschaft zwischen Mensch und Welt.

Wir lieben nicht so sehr die konkrete Erscheinung des Du als vielmehr sein Geheimnis. Deshalb erscheint eine Liebe so seltsam unproportioniert zu ihrem Gegenstand.

Hingabe als Aufbruch zum Unbedingten

Ohne den Wahrheitsgehalt des vorhin Herausgestellten in Zweifel ziehen zu wollen (und zu können), müssen wir ihn dennoch durch eine Verneinung dialektisch ergänzen. Die Hingabe an ein Begrenzt-Seiendes setzt im menschlichen Geist bereits einen Überstieg des Begrenzten auf ein Unbegrenztes, Letztes und Unbedingtes voraus. Unsere Weltimmanenz ist immer schon von einer Welttranszendenz getragen. Die gesamte Bewegung der Hingabe ist nur möglich und verständlich, wenn sie schon immer auf das eine, absolute und unbegrenzte Sein vorausgreift. In seiner Hingabe sucht der Mensch ein Unbedingtes jenseits alles Bedingten, ein Unend­liches jenseits alles Endlichen. Darin gründet die prinzipielle Welt­transzendenz des Menschen.

Die Liebe, diese höchste Form menschlicher Hingabe, vermag auch hier das Gesagte zu erhellen: Zunächst erfahren wir in der Hin­gabe der Liebe die glückbringende Bestätigung unserer Weltimma­nenz. In der Liebe eines Du gelangen wir zur Selbstentfaltung, ja zu einer entfalteten Welt: Denn auch unsere Weltlichkeit verändert sich im Lichte der Liebe, selbst das Nächste, das lange Bekannte; vieles erleben wir wie zum ersten Mal; das Alte erhält neue Bedeutung, das Gegenwärtige neue Helle und das Zukünftige neue Verheißung. Doch bricht gerade in dieser Bestätigung unserer Weltlichkeit eine neue Forderung der Liebe auf: Wir sollen das geliebte Du übersteigen, ja, wir haben es – indem wir liebten – bereits getan. Unsere Liebe trägt uns mit einer ihr innewohnenden Notwendigkeit über die verwirklichte Gestalt der Liebe selbst hin­aus. Wir lieben nicht so sehr die konkrete Erscheinung des Du als vielmehr sein Geheimnis. Deshalb erscheint eine Liebe so seltsam unproportioniert zu ihrem Gegenstand.

Man höre die Dichter: Sie sprengen die Welt der Erfahrung, sie suchen nach Vergleichen, als wären sie von Sinnen, sie greifen nach Gegensätzen, nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren, um das geliebte Du und die in seiner Liebe aufleuchtende Welt zu beschreiben. Wir werden mit dem Menschen, den wir lieben, und mit der Welt, in der dieser Mensch lebt, nicht fertig, weil wir ihn lieben, solange wir ihn lieben. Oft begreift ein Dritter nicht, wie es möglich ist, was denn Besonderes an diesem Menschen sei (auch wenn er dem Liebenden zuliebe darüber schweigt). Auch die Eltern erleben das Gleiche: Im Gesicht von Kindern ist ein Letztes, das nur das Auge des Vaters oder der Mutter sieht. Deshalb ist reif gewordene Liebe immer zurückhaltend. Denn das Wesentliche des geliebten Menschen heißt: So wie das All, die unermessliche Geräumigkeit der Welt schrankenlos und aller Geheimnisse voll ist, so unfassbar ist der Mensch, den man liebt.

Deshalb entlässt der geliebte Mensch den Liebenden in eine Transzendenz. Er spürt: Der andere liebt in ihm mehr, als er in Wirk­lichkeit ist; sein Wesen als geliebter Mensch besteht darin, Vor­läufer zu sein; seine Wirklichkeit öffnet sich auf ein transzendentes Mehr. Nachdem das geliebte Du durch seine Gegenwart die Liebe erweckt und auf sich gelenkt hat, nachdem es für den Lie­ben­den restlos alles geworden ist, soll es sich durchsichtig machen, gleichsam zum Nichts werden, damit die Liebe Dem entgegenströme, Dem sie immer schon zugedacht war. Dies macht das Adelige des Geliebten, der Liebe und des Liebenden aus. Man sagt auch: Der Adler kann nicht vom flachen Boden wegfliegen; er muss mühselig auf einen Fels oder Baumstrunk hüpfen. Von dort aber schwingt er sich zu den Sternen.

Hingabe vollendet sich demnach immer nur in einem inneren Abschied, in einem Aufbruch des Daseins zum Unbedingten. In dieser Loslösung geschieht die kostbarste Verklärung der Hingabe, die Zurückhaltung. Erst sie bestätigt den Ernst der Hingabe und öffnet zugleich die Transzendenz hinter der Gestalt des geliebten Du. So vollzieht sich innerhalb der menschlichen Hingabe immer schon ein Vorgriff auf die unbedingte Ganzheit des Seins, der zugleich – wenn auch nur unbewusst und einschlussweise – ein Aus­griff auf das unendliche Sein Gottes ist. Welttranszendenz ist da­mit ein unabdingbares Moment am geschöpflichen Geist und wird innerhalb der Strebung nach Hingabe immer schon nachvollzogen.

Daraus ergibt sich eine zweite Schlussfolgerung: Der Himmel kann nur als Teilhabe an Gott menschliche Vollendung bieten. Der eigentliche Seinsort des Menschen im Himmel muss Gott selbst sein. Oder wie Augustinus [/] es in seinen Enarrationes in psalmos ausdrückt: »Gott selbst ist nach diesem Leben unser Ort.« […]

Gerade das scheinbar vergebliche und im Tod zum Scheitern verurteilte Rin­gen um die Vergeistigung des Materiellen zeigt, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, das auf Erfüllung wartet.

Das Wollen Gottes in uns

Welcher Art der eben entworfene Zustand des Himmels sein mag, können wir erst sehen, nachdem wir die Dialektik des Schaffens­dranges in die Gegenaussage hinein verfolgt haben. Gerade das scheinbar vergebliche und im Tod zum Scheitern verurteilte Rin­gen um die Vergeistigung des Materiellen zeigt, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, das auf Erfüllung wartet. Das stete Nichtgelingen seiner irdischen Existenz steigert noch seine Sehnsucht nach Vollendung. Dass keine Vergeblichkeit den Men­schen davon abhalten kann, das scheinbar Unvollendbare zur Voll­endung bringen zu wollen, beweist, dass der Mensch in seiner Sehn­sucht das Scheitern bereits überwunden hat.

In diesem Das-Unerreichbare-wagen-Wollen sehen wir geradezu einen Wesenszug der modernen christlichen Spiritualität, wie sie zum Beispiel im Werk Reinhold Schneiders [/] Ausdruck gefunden hat. Er definiert das Wesen der von ihm hochgeehrten heiligen Elisabeth von Thüringen [/] mit dieser Spannung: »Dem Christen ist sie [die heilige Elisabeth] ein Zeichen der verzehrenden Unerreichbarkeit des Christentums. Was sie wollte, war unvollendbar. Aber sie hat es gewagt.«

Dass der Mensch bis zum äußersten Rand erfüllt ist von Sehn­sucht, heißt im Grunde, dass er bereits in der Hoffnung erfüllt ist vom Sein, dass er immer schon nach einem Zustand hinausgreift, den er von sich aus nicht erreichen kann und in dem er trotzdem erst sein eigenes Wesen findet. Wer um das Bruchstückhafte, Zwiespältige und Ohnmächtige seiner Existenz weiß und darunter leidet, trägt bereits die Verheißung einer ungetrübten Vollendung im Kern seines gebrechlichen Daseins. Eine große, zu seinem Wesen gewordene Unbescheidenheit bewegt den Menschen überall. Sein Wesen ist Ausgriff. Er hungert geradezu nach einer schöneren Zukunft, nach einem vollendeteren Sein.

Elisabth von Thüringen

Die heilige Elisabeth von Thüringen (Gemälde von Hans Holbein d.Ä., 1516). Quelle: Wikimedia Commons

Die ständige Differenz zwischen Erwünschtem und Erreichtem erzeugt einen innerweltlich hoffnungslosen Zustand, den man mit Blaise Pascal [/] (siehe das große Fragment 72 der Pensées) folgendermaßen beschreiben könnte: »Wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges, bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten, und die Erde tut ihre Abgründe auf.« Diesen Zustand nennt Pascal die »Ungereimtheit« (disproportion) des Menschen. Denn der Mensch lebt zutiefst in einer Ungereimtheit, deren Wesen darin besteht, dass ein End­liches Unendlichkeit in sich erfährt.

Dies könnte man die »virtuelle Unendlichkeit des Endlichen« nennen: Der menschliche Geist steht im offenen Horizont des Seins, ohne jedoch in seinem Selbstvollzug die Unendlichkeit je einholen zu können. Menschliches Wirken entspringt immer einer Spannungseinheit zwischen aktueller Endlichkeit und virtueller Unendlichkeit.

Darin leuchtet etwas Wesentliches auf: Jedes Wirken und jede Selbstverwirklichung ist immer schon eine Suche nach der Gegen­wart eines Unendlichen, in letzter Analyse die Suche nach einem Mitsein mit Gott. Die endliche Tat, wodurch wir »wir selbst« zu sein versuchen, enthüllt sich hier als eine Suche nach Gott. Der wahre Wille des Menschen ist demnach: Göttliches wollen. Gött­liches kann man nur wollen, wenn man göttliches Wollen in sich trägt. Unsere Sehnsucht nach Unendlichem ist also bereits das Wollen Gottes in uns.

Daraus erhellt: Der Schaffensdrang des Menschen verzichtet in seiner Vollendung auf das eigene Schaffen, liefert sich ganzheitlich dem Wirken Gottes aus. Der Mensch gelangt zur Selbstvollendung, indem sein Selbst von Gott vollendet wird. […]

Erst in der persönlichen Selbstsetzung beginnt der Mensch, im vollen Sinne Mensch zu sein. Er selber muss sich zu sich selbst durchringen.

Himmel als ewige Wandlung

Das menschliche Dasein lässt sich definieren als eine sich sammelnde Vorläufigkeit. Der Mensch entfaltet sich nicht notwendig zur Fülle dessen, was in ihm angelegt ist. Er muss sein Selbstsein gleichsam aus seinen eigenen Taten zusammensetzen. Deshalb auch die Formulierung »sich sammelnd«. Erst in der persönlichen Selbstsetzung beginnt der Mensch, im vollen Sinne Mensch zu sein. Er selber muss sich zu sich selbst durchringen. Zum innersten Herzpunkt seines Menschseins findet er erst, indem er sich frei übernimmt, für sich selbst zum freien Schicksal wird.

Demnach ist der Mensch von Grund auf eine werdende Natur («substantia potentialis» – sagen die Scholastiker [/]). Insofern endliche Freiheit grundsätzliche Unabgeschlossenheit bedeutet, steht das freie menschliche Dasein in einem offenen Werden. Der Mensch kann nie fertig sein. In dem Maße, wie wir dem Menschen Freiheit zuerkennen, definieren wir ihn als ein noch nicht entfaltetes, noch nicht gesetztes Wesen. Damit sagen wir aber von ihm gleichzeitig aus: Er kann sich selbst nirgends restlos einholen und überholen; er kann nie vollends in die Fülle seiner eigenen Verheißung eingehen; er ist unfähig, die ganze Breite seiner eigenen Wirklichkeit einzufangen; in seinen Taten bleibt immer ein Restbestand des Noch-nicht-Bestimmten, der seiner freien Selbstauszeugung entzogen ist, sein Wesen ist noch nicht erschlossen, da er immer noch frei, das heißt selbstbestimmbar, ist; deshalb begreift er sich als ein wesenhaftes Noch-nicht, als eine existenzielle Vorläufigkeit.

Thomas von Aquin, Bernhard von Clairvaux, RenÉ Descartes und Jean-Paul Sartre

Thomas von Aquin (Gemälde von Carlo Crivelli, 1476), Bernhard von Clairvaux (Francisco Ribalta, 1625), René Descartes (Franz Hals, 1648) und Jean-Paul Sartre. Quelle: Wikimedia Commons

Nun ist aber diese Vorläufigkeit unseres Menschseins selber nicht vorläufig. Sie ist in der Freiheit des endlichen Wesens endgültig und unaufhebbar verankert. Jede Freiheit, selbst die endliche, ist absolut. In ihrem Seinsgrund (nicht in ihren Auswirkun­gen) ist sie, insofern sie Freiheit ist, ein Nichtgenötigtsein. Dies lässt aber ein Mehr oder Minder nicht zu. Absolutheit der Freiheit eines endlichen Wesens: Das ist die Einsicht, die das Denken des Abendlandes seit je in Atem hält. In dieser Intuition seiner Freiheitsphilosophie (»Die Freiheit lässt ihrem Wesen nach kein Mehr und Weniger zu«) stand Thomas von Aquin [/] einem Bernhard von Clairvaux [/], René Descartes [/] und Jean-Paul Sartre [/] – diesen Philosophen radi­kaler Freiheit – näher, als man es gemeinhin anzunehmen geneigt ist.

Absolutheit endlicher Freiheit bedeutet aber, dass der Mensch, dieses der Vorläufigkeit verhaftete Wesen, gerade durch das Prinzip seines Werdens unauslotbar tief zu den Wurzelungen des Seins hin­unterreicht, so tief, dass es darüber hinaus nichts Tieferes mehr gibt oder geben kann. Selbst Gottes Freiheit ist, aus diesem formalen Gesichtspunkt heraus betrachtet, nicht tiefer. Damit haben wir aber auch angedeutet, dass das menschliche Werdenkönnen (die existenzielle Vorläufigkeit unseres Wesens) ein absolutes Moment an unserem geschöpflichen Sein selbst ist. Demnach kann der Mensch, insofern und indem er frei ist, nie den Abschluss seines eigenen Werdens finden. Das Absolute in ihm entgeht jeglichem Zugriff, selbst dem des Absoluten. Seine Ewigkeit muss also als ein offenes Werden, als eine ewig sich sammelnde Vorläufigkeit verstanden werden. Durch die Absolutheit seiner Freiheit ragt der Mensch absolut über alles Erfülltsein hinaus: Er vermag sich nie vollends und restlos zu sammeln. Diese Beschaffenheit seines Daseins kann zur bitteren Qual der irdischen Tage werden. Sie ist aber gleichzeitig die Bedingung der Möglichkeit seines ewigen Glücks.

Dies wäre demnach die erste Schlussfolgerung für den Zustand der restlosen Vollendung: Himmel kann nicht als starr-bewegungsloser Zustand aufgefasst werden; die Vollendung des Menschen muss die Vollendung seiner Vorläufigkeit sein; das Glück des Him­mels besteht demnach in einer ewigen Wandlung. […]

Die mensch­liche Freiheit zielt auf eine Endgültigkeit, Erfüllung, Ewigkeit und Unwiderruflichkeit, scheinbar also auf eine Aufhebung ihres eigenen Wesens.

Freiheit will Unwiderruflichkeit

Die absolute Freiheit des endlichen Wesens bewirkt also, dass dieses Wesen immer (auch in seiner Vollendung) unterwegs ist, nie zur endgültigen Festigkeit wird. Anderseits muss sie – die Freiheit – dennoch der Seinsgrund der Endgültigkeit sein. Die Freiheit bedeutet ja mehr, als »in jedem Augenblick alles und jedes tun können«. Unsere Freiheit trachtet stets danach, Endgültiges, Unwieder­hol­bares, Ewiges zu setzen, das heißt, ihr offenes Werden in die Dimension restloser Vollzogenheit hinein zu überwinden. Indem die Freiheit (in ihrer Tiefe heißt sie doch Liebe) sich in einer Tat existenzieller Bejahung einem Seienden zuwendet, hebt sie es aus dem Bereich des Bedingten und Vorläufigen hinaus und setzt es in den Horizont des Unbedingten und Unwiderruflichen. Sie sagt zum geliebten Menschen das »Du« seines Lebens: Du bist für mich einmalig, ewig und endgültig; der gesamte Weltbezug hat für mich nur durch dich, mit dir und in dir Sinn und Bedeutung (der große Lobpreis und das Amen des Messkanons, «Per ipsum et cum ipso et in ipso» [/], ist wohl nichts anderes als die Ursprache ergriffener Liebe); eine Welt ohne dich wäre für mich nichtig und leer; ich kann und will mich also dir gegenüber gar nicht mehr anders verhalten; ich will für immer so sein wie jetzt, dich liebend, dich setzend, dich bejahend.

In der freien Bejahung vollzieht sich also etwas Endgültiges, nicht mehr Überholbares. Unbedingt-, Endgültig- und Ewig­setzung des geliebten Wesens: Das ist es, worauf der tiefste Wille der Freiheit zielt. Jedem Seienden, dessen Sein die Freiheit bejaht, möchte sie ewigen Bestand zusichern. Auch die Freiheit selbst setzt sich ihrerseits in eine unbedingte Vollendung hinein: In Bezug auf das geliebte Du will sie sich nicht mehr ändern; sie will kein offenes Werden mehr sein.

Aus alldem ergibt sich eine zweite Schlussfolgerung: Die mensch­liche Freiheit zielt – obwohl sie ihrem Wesen nach immer vorläufig und unerfüllt bleiben muss – auf eine Endgültigkeit, Erfüllung, Ewigkeit und Unwiderruflichkeit, scheinbar auf eine Aufhebung ihres eigenen Wesens.

Aus der inneren Dialektik der Freiheit erschauen wir den Zustand unserer ewigen Voll­endung, den Himmel, als ein ununterbrochenes Hineinschrei­ten in Gott, als ein immerwährendes Hineinwachsen in Gottes eigene Seinsdimensionen.

Unaufhörliche Neuwerdung in restloser Erfüllung

Aus der eben geschilderten Spannung der Freiheit ergibt sich die Struktur der ewigen Vollendung der Freiheit selbst. Einerseits will geschöpfliche Freiheit das offene Werden; sie will aber anderseits auch restlose Endgültigkeit. Klarer noch: Die Freiheit fordert ewiges Unerfülltsein und verlangt nach ewiger Erfüllung. Die logisch einzig mögliche Verwirklichung dieses zweifachen, einander entgegengespannten Verlangens wäre ein Zustand, in dem die Freiheit gänzlich mit Gottes Sein erfüllt würde. Alle Fähigkeiten und Mög­lichkeiten der Freiheit wären in einem Augenblick restlos von Gott vollendet; sie würden in den Zustand der Vollendung hineingehoben; zugleich würde aber die Erfüllung selber die geschöpfliche Aufnahmefähigkeit so übersteigern, dass die Freiheit im nächsten Moment von Gottes Sein noch mehr erfüllt werden kann.

Dritte Schlussfolgerung und Zusammenschau: Aus der inneren Dialektik der Freiheit erschauen wir den Zustand unserer ewigen Voll­endung, den Himmel, als ein ununterbrochenes Hineinschrei­ten in Gott, als ein immerwährendes Hineinwachsen in Gottes eigene Seinsdimensionen. Die restlose Bejahung des Sich der Freiheit schenkenden Gottes würde die Freiheit auf eine noch größere Bejahung Gottes hin aufbrechen. Dies ist übrigens auch die innere Struktur des Nachvollzuges der Liebe bereits im irdischen Bereich: Jede Erfüllung ist nur Anfang einer noch größeren Erfüllung. Die­se Dialektik der ewigen Seligkeit könnte erst dann ein Ende nehmen, wenn die Freiheit gänzlich mit Gottes Sein zusammenfallen würde. Da dies wegen der Unermesslichkeit und Unendlich­keit des göttlichen Seins nie geschehen kann, dauert sie in Ewigkeit fort. Unaufhörliche Neuwerdung in restloser Erfüllung: Das ist die Struktur des Himmels, ersichtlich aus der inneren Dynamik ge­schöpflicher Freiheit. […]

© Annegret Boros 2023

Aus Ladislaus Boros: Wir sind Zukunft, Gesamtausgabe Band 4, Seiten 97–119.