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Cynthia Bourgeault
Maria Magdalena: die rechtmäßige Trägerin der Linie Jesu
Andrea Solario: »Maria Magdalena« (1524, Ausschnitt)
Maria Magdalena war die »Erste unter den Aposteln«, weil sie das, was Jesus lehrte, am tiefgreifendsten begriff und in ihrem Leben am vollkommensten umzusetzen vermochte. Das schreibt die fortschrittliche Theologin und Mystikerin Cynthia Bourgeault in ihrem ebenso klugen wie provokanten Buch Maria Magdalena: Die Frau im Herzen des Christentums, das im Chalice Verlag erschienen ist und aus dem der folgende Auszug stammt
Ausschnitte aus dem Buch Maria Magdalena: Die Frau im Herzen des Christentums von Cynthia Bourgeault
or über dreißig Jahren, lange bevor der Aufruhr um das Buch und den Film The Da Vinci Code [deutscher Titel: Sakrileg] ausbrach, arbeitete ich als Pfarrerin in einer kleinen episkopalen Gemeinde in Colorado. An einem Sonntag im August, als nach dem liturgischen Kalender jene Stelle im Lukasevangelium auf dem Programm stand, die von der unbekannten »sündigen« Frau mit ihrem Alabasterkrug berichtet, beschloss ich, das Risiko einzugehen und einige der Erkenntnisse zur Sprache zu bringen, die bereits damals aus einer wachsenden Flut von Studien über Maria Magdalena ans Tageslicht zu treten begannen.
Meine Gemeinde war eine kleine, aufgeweckte und intellektuell neugierige Gruppe, also warum nicht? Im Laufe meiner Predigt präsentierte ich behutsam die Behauptung von Margaret Starbird (aus ihrem Buch The Woman with the Alabaster Jar),[1] dass die im Text beschriebene Salbung von Jesu Händen und Füßen nicht einfach eine zufällige Handlung einer reumütigen Frau war, sondern ein unvergleichlich symbolisches Ritual zwischen zwei Liebenden, die kurz davorstehen, auseinandergerissen zu werden. Der Proteststurm wäre eigentlich vorhersehbar gewesen.
Ausschnitte aus dem Buch Maria Magdalena: Die Frau im Herzen des Christentums von Cynthia Bourgeault
Ich hatte versucht, den Weg so sorgfältig wie möglich zu ebnen. In der Predigt selbst wie auch in der anschließenden überkochenden Diskussion machte ich deutlich, dass es mir beim Aufwerfen dieser Fragen nicht darum ging, mich in diesem Streit auf die eine oder andere Seite zu schlagen, sondern darum, einige der Haltungen herauszuarbeiten, die der Art und Weise zugrunde liegen, wie wir Christen Theologie betreiben – und noch wichtiger, der Art und Weise, wie wir lieben. »Was empfindet ihr bei der Möglichkeit, dass Jesus eine Geliebte hatte?«, fragte ich meine Gemeindemitglieder. »Fühlt ihr euch bei dem Gedanken unwohl? Warum?«
Überlagerungen einer männlichen, zölibatären, priesterlichen Theologie, die seit beinahe zwei Millennien alles bestimmt hat.
Was, wenn Jesus ein Geliebte gehabt hätte?
Die Antworten gingen ziemlich genau in die von mir erwartete Richtung: »Wenn Jesus eine sexuelle Beziehung mit einer Frau hatte, konnte er nicht ohne Sünde sein.« »Er könnte uns nicht alle unvoreingenommen gleich lieben, wenn er einen Menschen besonders liebte.« »Wie könnte er der Sohn Gottes sein, wenn er sich Ihm nicht vollständig hingab?« Es bestand eine überwältigende Einmütigkeit dahingehend, dass, wenn Jesus die erotische Liebe gekannt hätte, er unmöglich gleichzeitig die vollständige Verkörperung der Göttlichen Liebe hätte sein können. Irgendwie hätte ihn dies als Göttlichen Erlöser disqualifiziert.
Ich konnte es der Gemeinde kaum verdenken, dass sie so fühlte. Nach fast zwei Jahrtausenden der Untermauerung sind diese Annahmen so sehr zur Landschaft des Christentums geworden, dass sie Teil der nahtlosen Struktur der offenbarten Wahrheit zu sein scheinen. Doch in Tat und Wahrheit sind solche Annahmen nun mal das, was sie sind – keine Glaubensgrundsätze, nichts, was Jesus selbst gelehrt hat, sondern Überlagerungen einer männlichen, zölibatären, priesterlichen Theologie, die seit beinahe zwei Millennien alles bestimmt hat. [Seiten 107–108]
Die Schattenseite der notorisch unbehandelten Probleme des Christentums rund um die menschliche Sexualität und das Feminine werden direkt auf sie projiziert.
Maria Magdalena: leicht entzündliches Material
Ganz bestimmt ist Maria Magdalena »gefährliches« Material, insbesondere heute, da die Wellen der Da-Vinci-Code-Manie gerade erst abzuebben beginnen. In einigen der konservativeren Winkeln des Christentums ist es sogar ein Tabu, den Namen Maria Magdalena überhaupt nur zu erwähnen. […]
Beim Überschreiten der engen Grenzen jener Rolle, die ihr von der christlichen Liturgie und Schrift zugeschrieben wird, kann sich das Thema rund um Maria Magdalena tatsächlich leicht entzünden. Draußen in der weiten Welt der zeitgenössischen Pop-Spiritualität wird sie als alles Mögliche gehandelt, angefangen bei einer archetypischen Göttin der Weisheit bis hin zu einer sexualisierten Lebensgefährtin. Die Schattenseite der notorisch unbehandelten Probleme des Christentums rund um die menschliche Sexualität und das Feminine werden direkt auf sie projiziert. [Seite 9]
Mein vorrangiges Ziel bei diesem Unterfangen gilt bereits als weithin anerkannt und wird von fortschrittlichen christlichen Kreisen geteilt: nämlich, den Schaden zu reparieren, den eine harte patriarchalische (und oft unverblümt misogyne) kirchliche Tradition angerichtet hat, und die legitime Rolle Maria Magdalenas als Lehrerin und Apostelin zu reklamieren. Mein Ansatz ist kein feministischer, sondern entspringt der Perspektive des Weisheitschristentums mit seiner Betonung zeitloser spiritueller Praktiken der Transformation und des inneren Erwachens. Meine Begründung dafür, dass Maria Magdalena ihren Platz unter den Aposteln verdient, liegt darin, dass sie von allen Schülerinnern und Schülern Jesu diejenige ist, welche die ganze vereinende Bedeutung seiner Lehren am vollständigsten begriffen hat und seinen Worten am konsequentesten Taten folgen lässt. […]
Ich will in der Tat die emotional aufgeladene Frage nach einer möglichen Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena stellen, und meine Schlussfolgerung lautet, dass eine solche Beziehung höchstwahrscheinlich bestand, dass sie tatsächlich sogar im Herzen des christlichen Transformationsweges anzusiedeln ist und – wir könnten sogar sagen – dessen seit Langem verlegten Schlüssel darstellt. Die Art von Beziehung, die ich jedoch im Sinn habe, ist nicht das sentimentalisierte Melodrama, das unsere Kultur gewöhnlich für Liebe hält, sondern eine spirituelle Liebe, so verfeinert und leuchtend, dass sie heute im Westen praktisch unbekannt ist. Und ich wage mich in dieses von Haien wimmelnde Gewässer gerade um dieser Liebe willen: wegen ihrer heilenden und befruchtenden Energie, die gerade jetzt so dringend benötigt wird, wenn die tiefen psychischen Wunden des Christentums heilen sollen. [Seite 11]
Wenn die Lücken überbrückt werden können, sodass wir uns Maria Magdalenas Wesen in seiner Fülle vor Augen zu halten vermögen, ist der Lohn riesig. Begreifen wir, wer sie wirklich ist, erkennen wir, was das Christentum wirklich ist, was es hätte sein können und was es – so Gott will – noch immer werden kann. [Seite 12]
»Ihr wurde vergeben, einzig, weil sie viel liebte«, schreibt der unbekannte Autor des spirituellen Klassikers Die Wolke des Nichtwissens aus dem vierzehnten Jahrhundert.[2] Gemäß der westlichen Frömmigkeit wird Ihnen, wenn Sie die Geschichte von Maria Magdalena erfahren möchten, diese in der Hülle eines Dramas über Sünde und Vergebung erzählt. Sie ist eine »sündige Frau« (lies: Prostituierte), durch Jesus von ihrem schlimmen Lebenswandel geheilt und wiedergeboren als seine ergebenste Schülerin. In ihrem Wesenskern jedoch bleibt sie überschwänglich und etwas sprunghaft, großen, symbolhaften Gesten und reichlichen Tränen zugetan. Unter der Oberfläche ihres erlösten und neugeordneten Lebens pulsieren die Leidenschaften laut und stark, wofür die mittelalterliche Malerei gerne zur roten Farbe griff, und in ihrer Hingabe schwingt ein Hauch von Verzweiflung mit. [Seite 15]
Was die Schrift tatsächlich über Maria Magdalena sagt, ist weitaus positiver – und genau aus diesem Grund auch wesentlich beunruhigender.
Ein patristisches Konstrukt mit einer nicht sehr frommen politischen Agenda
Daher mag die Entdeckung überraschen, dass dieses theoretisch »auf den Schriften beruhende« Porträt in Tat und Wahrheit an den allerdünnsten biblischen Fäden hängt. Wir haben es hier fast zur Gänze mit einem Konstrukt aus patristischer und mittelalterlicher westlicher Frömmigkeit zu tun (das, wie mehrere zeitgenössische Gelehrte ergänzt haben, verstrickt ist mit einigen gar nicht mal so frommen politischen Agenden).
Dieses Portrait ist insofern »echt«, als dass es tatsächlich innerhalb der Kirche geschaffen wurde und einen großen Einfluss auf die christliche Spiritualität ausgeübt hat und dies weiterhin tut. Allerdings ist es nicht »wahr«, wenn wir damit »wahrheitsgetreu« meinen entsprechend den wirklichen Geschehnissen oder dem, was die biblischen Berichte selbst dazu mitteilen oder andeuten. Was die Schrift tatsächlich über Maria Magdalena sagt, ist weitaus positiver – und genau aus diesem Grund auch wesentlich beunruhigender. [Seite 16]
Warum ist es heutzutage so schwer, das zu erkennen? Zu Beginn dieses Kapitels sprach ich von einem kollektiven Schlafwandeln, das unsere Sinne trübt, insbesondere im christlichen Westen. Müsste ich dies genauer ausführen, würde ich es beschreiben als eine Art Sternenstaub, der sich aufgrund unserer gewohnheitsmäßigen Art, die Evangelien durch den starken Filter von fast zwei Jahrtausenden kirchlicher Theologie zu hören, über das ganze Bild gelegt hat.
Die impliziten (und in jeder sonntäglichen Liturgie erneuerten) Annahmen lauten, Jesus sei auf die Erde gekommen, um die Kirche zu gründen, habe mit dem Letzten Abendmahl deren vorrangiges Sakrament gestiftet und ausschließlich seine männlichen Jünger zu deren Aposteln und Priestern berufen. Wenn wir die Geschichte durch diese sich mächtig selbstbekräftigende Logik hören, schrumpft die Rolle Maria Magdalenas naturgemäß zu der einer Statistin. Befreien wir uns allerdings vom Würgegriff dieses Bildes, ist ihr Part, wie er aus den heiligen Schriften selbst hervorgeht, weitaus bedeutungsvoller.
Unter den Frühchristen war der Rang Maria Magdalenas von höchster Größenordnung – noch höher als das der jungfräulichen Mutter.
Das höchste spirituelle Verständnis dessen, was Jesus lehrte
Als Erstes und Wichtigstes sehen wir, dass alle vier kanonischen Evangelien Maria Magdalena als erste Zeugin der Auferstehung bestätigen – allein oder in einer Gruppe, doch in jedem Fall namentlich genannt.
Auf dem Treibsand mündlicher Überlieferung erstaunt die Einstimmigkeit dieses Zeugnisses. Sie deutet darauf hin, dass unter den Frühchristen der Rang Maria Magdalenas von höchster Größenordnung ist – noch höher als das der jungfräulichen Mutter (die in nur einem Evangelium als bei der Kreuzigung und in keinem als bei der Auferstehung anwesend erwähnt wird). Der Ehrenplatz Maria Magdalenas ist derart hoch, dass sie selbst von der harten Hand einer späteren, männerdominierten Ekklesiologie nicht gänzlich davon heruntergestürzt werden konnte.
Zweitens beharren alle vier Evangelien darauf, dass Maria Magdalena standhaft bleibt, während alle anderen Jünger die Flucht ergreifen. Sie läuft nicht weg; weder verrät noch leugnet sie ihre Bindung; sie bezeugt. Sie demonstriert eindeutig entweder die tiefste menschliche Liebe oder das höchste spirituelle Verständnis dessen, was Jesus lehrte, vielleicht sogar beides.
Man kann sich fragen, warum die Liturgien der Karwoche immer und immer wieder die Geschichte der dreifachen Verleugnung Jesu durch Petrus erzählen, während das konstante, unerschütterliche Zeugnis Magdalenas noch nicht einmal wahrgenommen zu werden scheint? […] Was, wenn wir, statt unablässig zu betonen, Jesus sei allein und verlassen gestorben, bekräftigen würden, dass jemand zu ihm stand und nicht fortging? Denn diese andere Geschichte ist ebenso tiefgründig und wahrhaftig in der Schrift vorhanden wie die erste.
Inwieweit würde sich dadurch das emotionale Timbre des Karfreitags und des Osterfestes verändern? Welchen Einfluss hätte dies auf unsere Gefühle über uns selbst? Über die Stellung von Frauen in der Kirche? Über das Wesen der erlösenden Liebe?
Und vor allem anderen: Warum ist die Apostelin der Apostel nicht selbst ein Apostel? Doch das Gegenmittel gegen diesen eklatantesten Bestandteil des kirchlichen Sternenstaubs müssen wir jenseits der Mauern des traditionellen biblischen Christentums suchen. [Seiten 28–30]
Warum ist Maria Magdalena, der Jesus selbst ausdrücklich den ersten apostolischen Auftrag gab, die Nachricht seiner Auferstehung zu verkünden, nicht unter den Aposteln?
Die Sieger erzählen die (offenkundig unwahre) Geschichte
Der Sieger nimmt sich nicht nur die Beute, sondern auch das Recht, die Geschichte zu erzählen. Und im vierten Jahrhundert des Christentums entstand ein Kreis von Siegern, der den Status »orthodox« für sich beanspruchte. Wenig überraschend begann sich dieser Kreis um den Kaiser Konstantin [/] herum zu formieren, der das Christentum im Jahr 313 durch ein einziges Edikt von einer verbotenen Sekte zur Staatsreligion befördert und es anschließend zu seinem Lieblingsprojekt erkürt hatte. Der Schwung in Richtung Konsolidierung, Vereinigung – und ja, kaiserlichem Pomp – entsprang hauptsächlich diesem Teil der christlichen Welt.
Hendrik van den Broek: »Konzil von Niacäa«; Fresko von 1589, Apostolischer Palast, Vatikanstadt
Bereits im Jahr 367 hatte die Kirche ihr offizielles Glaubensbekenntnis, das auf dem Konzil von Nicäa [/], das im heutigen Südwesten der Türkei liegt, ausgearbeitet wurde und in der Regel noch heute von den Christen bekundet wird. Und obwohl es noch eineinhalb Jahrhunderte dauern sollte, bis eine offizielle »Bibel« auftauchte, zeichnete sich bereits damals ein Konsens ab hinsichtlich der Frage, was darin Aufnahme zu finden habe. Eine im Jahr 367 von Bischof Athanasius [/] verfasste Liste der siebenundzwanzig kanonisch autorisierten apostolischen Schriften entpuppte sich schließlich als offizieller Kanon des Neuen Testaments. Und so hatte die Kirche, als sie sich konsolidierte, eine Geschichte zu erzählen.
Falls Sie christlich erzogen worden sind, kennen Sie diese Geschichte. Wir finden sie nicht nur in der Bibel; sie liegt uns im Blut und wird verstärkt durch die Liturgie, den Katechismus und die reichen Traditionen der sakralen Malerei und Ikonografie. Der grundlegende Plot wird in der Apostelgeschichte ausgelegt. [Seiten 44–45]
In der vereinfachten Version dieser Geschichte, die den meisten Christen in Fleisch und Blut übergegangen ist, kumuliert dies in den folgenden Dogmen: Jesus kam auf die Erde, um eine Religion namens Christentum zu gründen, ernannte seine ausschließlich männlichen Jünger zu seinen Aposteln und Priestern und gab ihnen beim Letzten Abendmahl das Sakrament der Eucharistie.
Dabei werden die offensichtlichen Unstimmigkeiten ignoriert: warum Maria Magdalena, der Jesus selbst ausdrücklich den ersten apostolischen Auftrag gab, die Nachricht seiner Auferstehung zu verkünden, nicht unter den Aposteln ist und warum Paulus, der weder beim Letzten Abendmahl anwesend noch Jesus in seinem irdischen Leben überhaupt je begegnet war, zu den Aposteln gehört. So stark können Scheuklappen sein!
Und falls Sie bezweifeln, wie fest diese herrschende Grunderzählung die Kirche noch heute im Griff hat, oder falls Sie ihre schweren Konsequenzen auf das Leben heutiger Christinnen und Christen unterschätzen, dann bedenken Sie das Beispiel einer mir bekannten katholischen Gemeinde, in der während eines kürzlich abgehaltenen Gottesdienstes am Gründonnerstag (an dem der zentrale symbolische Ritus die Waschung der Füße der Jünger durch Jesus nachvollzieht) ein Priester sich schlichtweg weigerte, Frauen die Füße zu waschen, mit der Begründung, beim Letzten Abendmahl seien ausschließlich Männer zugegen gewesen. Die Botschaft, die das über den Wert von Frauen und über ihren vollständigen Einschluss in den Leib Christi aussendet, ist nur allzu augenscheinlich. Und noch schlimmer: Sie ist offenkundig unwahr.
Warum ist Maria Magdalena, der Jesus selbst ausdrücklich den ersten apostolischen Auftrag gab, die Nachricht seiner Auferstehung zu verkünden, nicht unter den Aposteln?
Die Revolution von Nag Hammadi: eine semitische Kosmovision
Diese herrschende Grunderzählung hat den Blick der Christen auf die Welt dermaßen stark gefiltert, dass es – nach sechzehn Jahrhunderten des hartnäckigen Narrativs verständlicherweise – so gut wie unmöglich wurde, die Dinge anders zu sehen.
Doch die Zeitbombe war bereits am Ticken, als im Jahr 1945 in den Wüsten Ägyptens, in einer Höhle in der Nähe von Nag Hammadi [/], eine große Urne mit Schriftrollen aus der Zeit der Anfänge des Christentums entdeckt wurde. Sie schienen dort im späten vierten Jahrhundert abgelegt worden zu sein – wahrscheinlich als Reaktion auf jenes Edikt von Bischof Athanasius, in welchem er den offiziellen neutestamentlichen Kanon festlegte.
Bei den Rollen handelte es sich um eine Sammlung heiliger Schriften, die einst in frühen christlichen Gemeinden verwendet worden waren, doch den strengen Standards der Orthodoxie nicht genügten. Nicht willens, diese Texte zu zerstören, die sie weiterhin als heilig erachteten, versteckten sie die Mönche einer unbekannten Klostergemeinschaft zur sicheren Verwahrung.
Die Wiederentdeckung dieser Texte sollte den festgefahrenen Karren zum Kippen bringen, auch wenn es noch einige weitere Jahrzehnte dauerte, bis ihre Tragweite spürbar wurde. [Seiten 46–47]
Die Religionshistorikerin Elaine Pagels war eine der Ersten, die sich für eine Neubewertung stark machten. Ihr 1979 veröffentlichtes Buch The Gnostic Gospels [3] erhielt zu Recht den Pulitzer-Preis für seine bahnbrechenden Anstrengungen, diese Texte aus einer historisch-kritischen Perspektive zu verstehen. Sie erkannte, dass die Gewinner und Verlierer der Kanonisierungslotterie nicht durch einen Göttlichen Erlass bestimmt worden waren – durch den Triumph der »reinen Doktrin« –, sondern in den weitaus weltlicheren Gefilden der Politik.
Was wir heute »Orthodoxie« nennen, war entstanden in einem Tauziehen gegensätzlicher Standpunkte in sich entwickelnden Fragen der christlichen Ordnung und Lehre. Zu den prominentesten damaligen Streitthemen hatten gehört: die Rolle der Frauen, die Frage der apostolischen Autorität, das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament sowie die Bedeutung der Auferstehung des Leibes. [Seite 48]
Das erste erhaltene Manuskriptfragment (Seite 7) des Evangeliums der Maria (Papyrus Oxyrhynchus L 3525); Sackler Library, Oxford. Quelle: Wikimedia Commons
Die Fundgrube an Schriften, die bei Nag Hammadi auftauchte, sowie weitere kürzliche Entdeckungen liefern uns drei eminent wichtige neue Quellenmaterialien für das Studium von Maria Magdalena: das Thomasevangelium [/], das Philippusevangelium [/] und das Evangelium der Maria Magdalena [/]. Die ersten beiden gehören zur Nag-Hammadi-Sammlung. Das dritte, das für unsere Zwecke mit Abstand das bedeutendste ist, wurde nicht bei Nag Hammadi entdeckt, sondern im Jahr 1896 in Kairo und gelangte auf einem anderen, jedoch parallelen Weg zurück in unser Bewusstsein, worüber ich im nächsten Kapitel mehr sagen werde. [Seite 51]
Was ich postulieren möchte, ist, dass wir in den Evangelien des Thomas, des Philippus und der Maria Magdalena keinem »Gnostizismus« begegnen, sondern einem nahöstlichen Verständisrahmen oder einer nahöstlichen Kosmovision (um einen wunderbaren Begriff des zeitgenössischen Religionsphilosophen Raimon Panikkar [/] aufzugreifen). Der westliche Geist bildete sich in der griechischen Kosmovision, und im Rahmen dieser Parameter haben die Begriffe orthodox, ketzerisch und gnostisch ganz spezifische Bezugspunkte.
Doch in diesen Evangelien haben wir es mit einem ganz und gar anderen Bezugsrahmen zu tun, mit einer völlig andersartigen Weise, Verbindungen herzustellen. Mein Kollege Lynn Bauman,[4] der seit fast fünfzehn Jahren im Nahen Osten unterrichtet und dessen Kultur gut kennt, hat vorgeschlagen, diesen anderen Strom »semitisch« zu nennen, was eine hilfreiche Unterscheidung darstellt, solange uns klar ist, dass er damit nicht bloß »jüdisch« meint, sondern sich vielmehr auf die erweiterte Familie von Völkern und Sprachen der Region bezieht, darunter den syrischen, aramäischen, arabischen und persischen. [Seite 57]
»Der Herr liebte sie mehr als alle anderen Jünger und er küsste sie oftmals auf ihren [Mund].«
Maria Magdalena versteht am vollständigsten, was Jesus lehrt
Wir werden uns in den nächsten Kapiteln ausführlich dem Porträt von Maria Magdalena widmen, das aus diesem anderen Strom auftaucht. Im großen Ganzen sind es drei Elemente, die in scharfem Kontrast stehen zur geläufigeren Welt der kanonischen Evangelien.
1. Zu Jesu innerem Kreis der Jüngerschaft gehören Männer und Frauen auf gleichberechtigter Ebene. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen einer Gruppe von männlichen Jüngern und einer Gruppe von weiblichen Anhängerinnen, obwohl es ganz sicher ein genaues (und manchmal schmerzhaftes) Bewusstsein für die Ungewöhnlichkeit dieser Situation gibt. Wie bei jeder Weisheitslehre konstituieren sich ihr Inneres und ihr Äußeres im Wesentlichen selbst und werden bestimmt durch den Grad an Verständnis und Verpflichtung des einzelnen Schülers beziehungsweise der einzelnen Schülerin. Maria Magdalena befindet sich eindeutig im inneren Kreis. […] Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass diese Erkenntnis auch in den kanonischen Evangelien zu finden ist, insbesondere bei Lukas und Johannes. Hier jedoch, in diesen nicht-kanonischen Evangelien, wird dies klar und deutlich.
2. Maria Magdalena gilt als »Erste unter den Aposteln« – und dies nicht bloß im chronologischen Sinne (weil sie die Erste war, die am Schauplatz der Auferstehung erschien), sondern auf eine grundsätzlichere Art: weil sie die Botschaft begreift. Von allen Jüngern und Jüngerinnen ist sie die einzige, die voll und ganz versteht, was Jesus lehrt, und es in ihrem eigenen Leben umsetzen kann. Sie hat ihre Führungsposition verdient, und diese wird von Jesus ausdrücklich bekräftigt. (Auch das wird in mindestens zwei der kanonischen Evangelien bestätigt, obwohl man es in der Überlieferung und in der Liturgie konsequent herunterspielt.)
Die Autorin spricht über Ihr Buch Maria Magdalena mit der US-amerikanischen Schauspielerin und Oskar-Preisträgerin Gwyneth Paltrow. Quelle: Cynthia Bourgeault
3. Maria Magdalena hat eindeutig eine Beziehung zu Jesus, die besonders ist: Sie ist eine »geliebte Jüngerin« – und dieser Umstand scheint auch eine erotische Komponente zu besitzen. »Schwester, wir wissen, dass der Erlöser dich mehr liebte als die anderen Frauen«, sagt der Apostel Petrus zu ihr im Evangelium der Maria Magdalena.[5] Und da ist jene Passage aus dem Evangelium des Philippus (Spruch 55), welche die Gerüchteküche zum Brodeln brachte: »Der Herr liebte sie mehr als alle anderen Jünger und er küsste sie oftmals auf ihren [Mund].« [6]
Aber die Tatsache ihrer Beziehung untergräbt in keiner Weise den zweiten Punkt, auf den ich soeben einging. Sie ist nicht seine »Gemahlin«, sondern seine Gefährtin (wie sie insbesondere von Philippus genannt wird) und seine gleichberechtigte Partnerin in Lehre und Vermittlung. Auf diese Spannung wird insistiert. Die Intimität, die Jesus und Maria Magdalena teilen, existiert kontextuell innerhalb der verbindenden Liebe, die sie – und alle anderen, die dafür offen sind, – innerhalb des Himmelreichs erdet.
Wie war dies möglich? Geliebte und trotzdem vollkommen geläutert? Nun, willkommen in der Welt der kenotischen Spiritualität des Nahen Ostens – im Gnostischen, wenn Sie darauf bestehen! Aber diese Spannung auszuhalten, wird uns nicht nur dabei helfen, Maria Magdalena zu verstehen, sondern, wie wir gleich sehen werden, ein helleres Licht auf das Christentum als Ganzes werfen. [Seiten 58–59]
Die Verschmelzung von inkarnativen und platonischen Elementen ist eine charakteristische Mischung, die ich für den einzigartigen Beitrag Jesu zur Metaphysik des Westens halte.
Jesu einzigartiger Beitrag zur westlichen Metaphysik
Wie würde ich diese Lehre Jesu charakterisieren? Sie gehört definitiv zum breiteren Strom der sophia perennis in ihrem Bekenntnis vieler und subtilerer Reiche des Seins, deren Energien unser eigenes beeinflussen – einem Konzept, das traditionell als die Große Kette der Wesen (oder die Große Seinskette) bekannt ist [siehe dazu Cynthia Bourgeaults Text »Wo die beiden Meere sich treffen« im Chalice Magazin].[7] Doch verlässt sie die klassische Gnostik (und auch die klassische sophia perennis), indem sie die Haltung ablehnt, diese Welt sei eine Illusion oder ein Unglück oder ein Irrtum, oder die Aussage, aufgrund ihrer Dichte liege sie am Ende der Kette. Wir befinden uns nicht in Platons Höhle. Vielmehr ist diese Welt gut und würdig und vollständig durchzogen von den Göttlichen Energien – »das Gute kam in eure Mitte« – solange sie mit ihrer Wurzel vereint bleibt.
Die Verschmelzung von inkarnativen und platonischen Elementen ist eine charakteristische Mischung, die ich für den einzigartigen Beitrag Jesu zur Metaphysik des Westens halte. Sie offenbart sich als ein zutiefst menschgewordener, warmherziger und hoffnungsvoller Weg, auf dem die Reiche sich gegenseitig unterstützen und durchdringen und die Göttliche Fülle erreicht wird, indem wir unser Herz ganz natürlich auf seinen unsichtbaren Prototyp ausgerichtet halten. Leider übersteigt seine Lehre das Fassungsvermögen von fast allen seinen Anhängern und Anhängerinnen, den damaligen wie den heutigen.
Die Subtilität von Jesu Metaphysik ist den Christen weitgehend unbekannt geblieben – was bedauerlich ist, denn genau sie ist die fehlende Zutat, die seinen Weg nachvollziehbar und praktikabel macht. Es ist kein Geheimnis, dass in den Lehren Jesu ein außergewöhnliches Vertrauen in die Göttliche Fülle und Großzügigkeit mitschwingt, und die Christen sind aufgerufen, ihm in diesem Vertrauen nachzueifern. Doch dies zu versuchen, ohne zu begreifen, worauf es gründet, ist ein bisschen so, als würden wir einen Elefanten bitten zu fliegen.
Die Autorin im Gespräch mit einer Studentin. Quelle: Cynthia Bourgeault
Christen hängen häufig fest in der Kluft zwischen den unglaublich hohen spirituellen Idealen dieses Weges und ihrer eigenen Fähigkeit, diese zu leben. In Wirklichkeit ist das Geheimnis einfach: Wenn das Herz auf sein ewiges Bild ausgerichtet ist, strömt eine Fülle aus diesem Ort des Ursprungs hervor, die unendlich viel mächtiger ist als die Not und die Enge dieser Welt. Es geht nicht darum, an fliegende Elefanten zu glauben, sondern vielmehr um die Läuterung des Herzens. [Seiten 70–71]
Das Versagen der Kirche, zwischen äußeren Formen und innerer Autorität zu unterscheiden, ist, damals wie heute, die Geschichte ihrer tragischen Unfähigkeit, gemeinschaftlich den Weg entlangzugehen, den der Meister ihr gezeigt hatte. [Seite 102]
Hüterin des Tores zur verklärenden Barmherzigkeit Jesu
Damit Maria Magdalena zur Überbringerin einer so außergewöhnlichen Vision wird, muss sie ihre spirituelle Arbeit geleistet haben. Doch sich vorzustellen, dass die fehlenden Manuskriptseiten [11 bis 14] des Evangeliums der Maria ursprünglich einen visionären Bericht über das Epizentrum des österlichen Mysteriums enthalten haben könnte, ist unbeschreiblich aufregend.
Schon allein die Möglichkeit, dass dem so sein könnte, hängt die Frage nach der zentralen Bedeutung von Maria Magdalena innerhalb der christlichen Tradition noch weitaus höher als die durchaus drängenden aktuellen Themen der Gleichberechtigung der Frauen und der Dimension des Femininen in der Kirche – es katapultiert sie ins Zentrum des christlichen Mysteriums. Maria Magdalena wird zur Hüterin eines zeitlosen Tores, durch das die reine Essenz der verklärenden Barmherzigkeit Jesu immer strömt. [Seite 95]
© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2022
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas
Anmerkungen
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[1] Margaret Starbird: The Woman with the Alabaster Jar, Sante Fe: Bear and Company, 1993; deutsch: Die Frau mit dem Alabasterkrug, Berlin: Ullstein, 2006.
[2] Willigis Jäger [Hrsg.]: Wolke des Nichtwissens – Der Klassiker der Kontemplation, Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag / Verlag Herder, 2012, Seite 69.
[3] Elaine Pagels: Versuchung durch Erkenntnis. Die gnostischen Evangelien, Frankfurt am Main: Insel, 1981.
[4] Lynn Bauman, Ward Bauman und Cynthia Bourgeault: The Luminous Gospels, Telephone, TX: Praxis Institute Publishing, 2008.
[5] Judith Hartenstein: »Das Evangelium nach Maria« in Hans-Martin Schenke [et al. Hrsg.]: Nag Hammadi Deutsch: Studienausgabe, Berlin / New York: De Gruyter, 2010, Seite 572.
[6] Gerd Lüdemann und Marina Janssen: Die Bibel der Häretiker: Die gnostischen Evangelien aus Nag Hammadi, Stuttgart: Radius Verlag, 1997, Seite 158.
[7] Siehe dazu auch Ken Wilbers umfangreiche Schriften, insbesondere The Eye of the Spirit, Boston: Shambhala Publications, 1997, Seiten 39–40.