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Reshad Feild

Loslassen: ein Schritt in die Freiheit

Um ins wahre Sein zu gelangen, müssen wir alles aufgeben und sterben, bevor wir sterben.

Reshad Feild mit Scheich Suleyman Dede in Kalifornien 1975.

Foto: Chalice Verlag

Ein Auszug aus dem Buch Mit Achtsamkeit durchs Leben

 

Um ins wahre Sein zu gelangen, müssen wir alles aufgeben.

enn wir sterben – und wir werden alle sterben –, nehmen wir zwei Dinge mit uns (idealerweise nur das eine, aber gewöhnlich beide). Das Erste, was wir mitnehmen, ist all das, von dem wir meinen, wir bräuchten es. Das Zweite ist das Wissen, dass wir in eben diesem Augenblick ein einzigartiger Aspekt Gottes sind. Wenn wir um die Einheit Gottes wissen, gibt es keine Reinkarnation – die ausschließlich von den Bedürfnissen bestimmt wird, die wir in dieser Welt noch zu haben glauben. Zu meinen, wir bräuchten irgendetwas, ist eine Illusion.

Jetzt könnten wir fragen: »Ja, aber was geschieht denn dann, wenn wir sterben? Leben wir weiter?« Meine Antwort ist, dass wir seit Anbeginn der Zeit hier waren. Es geht weder weiter noch zurück, weder nach oben noch nach unten. Der Tod ist die große Illusion – Tod und Empfängnis sind ein Augenblick. Die gesamte Schöpfung vollzieht sich in einem Augenblick, und das ist schon immer so gewesen.

Angenommen, wir wollen bereits im Leben sterben. Wir sind bereit, aufs Ganze zu gehen. Das bedeutet, in jedem einzelnen Augenblick unseres Lebens zu sterben. Was wir über den Tod hinaus mit uns nehmen, ist all das, was wir glauben, nötig zu haben, und all unser Wissen über das, was wir sind. Letzteres ist abhängig vom Fehlen oder Verlust des Ersteren. Wann immer wir die Vorstellung aufgeben, irgendetwas in diesem Leben zu brauchen, eröffnet sich uns die Möglichkeit, ein wenig über die Wahrheit allen Lebens zu erfahren.

Im Französischen wird der Orgasmus auch la petite mort genannt, der kleine Tod. Wenn wir so sein könnten, würden wir dem Werk gerecht werden. Wir brauchen nichts, überhaupt nichts. Bemüht euch jeden Tag darum, nichts zu brauchen.

Nur wenn wir rückhaltlos geben, brauchen wir nichts. Indem wir uns vollständig entleeren, lernen wir zu sterben.

Zum Schluss möchte ich darüber sprechen, wie wir sterben können. Die Antwort lautet: indem wir geben. Die Antwort ist in diesem Wort »geben« zu finden, in nichts anderem – keiner Sache, keinem Wort, keinem Begriff. Nur wenn wir rückhaltlos geben, brauchen wir nichts. Indem wir uns vollständig entleeren, lernen wir zu sterben.

Um ins wahre Sein zu gelangen, müssen wir alles aufgeben. Zurzeit hält die Welt eine Hand hinter ihrem Rücken versteckt. Wenn Menschen auf dem spirituellen Weg – einschließlich solcher, die schon eine Zeitlang am Werk beteiligt waren – bestimmte Übungen bekommen haben, ist die Versuchung groß zu sagen: »Schau mal, was ich hier habe!« Auf der anderen Seite sagen sie: »Ich werde alles aufgeben.« Vielleicht könnten sie die Seiten vertauschen. Wir halten immer etwas in der Hinterhand, das wir nicht hingeben, nicht aufgeben können; deshalb können wir nicht wirklich sein. Könnte irgendeiner von uns tatsächlich alles aufgeben? Es gibt keinen anderen Weg, das Stadium zu erreichen, das wir »ins wahre Sein gelangen« nennen, als wirklich alles aufzugeben. Das ist manchmal ein großer Schock.

Wir werden uns klar darüber, dass alle Urteile, die wir im Laufe unseres Lebens gefällt haben, auf uns zurückfallen; dass uns Urteile anderer Menschen anhaften; dass Urteile unser Leben seit Anbeginn der Zeit blockiert haben. Urteile haben unsere Möglichkeit zur – wie ich sie nenne – schrecklichen Freiheit vereitelt, zu einer Freiheit, die wir nicht imstande sind anzunehmen. Wir sind nicht fähig, uns der großen Freiheit zu stellen, der Freiheit jenseits all dessen, was wir kennen.

Keinem System ist es möglich, uns zur Freiheit zu führen, zum Sein; es kann uns nur bis zum Ufer geleiten. Lasst uns deshalb Gott Dank sagen für alle Systeme und Wege. Sie sind großartig, um uns zu genau dem Punkt zu führen, von dem aus wir abspringen müssen. Doch wir sind es, die springen müssen; wir sind es, die die große Entscheidung treffen und sagen müssen: »Ich will. Ich bin bereit zu sterben.« So, wie es im Koran geschrieben steht: »Stirb, bevor du stirbst.«

Ich bin ein sehr radikaler Mensch. Ich verabscheue Systeme zutiefst; und noch mehr ist mir jegliche Form zuwider. In keiner Form, keiner Übung werden wir Freiheit finden. Doch ohne eine solche Form werden wir jenen Punkt nicht erreichen, von dem aus wir springen können. Lasst uns Gott danken für alles, was uns bisher gegeben wurde. Lasst uns bis zum äußersten Rand des Schwimmbeckens gehen. Und ganz entspannt bleiben. Springen wir, oder springen wir nicht?

Wenn der Mensch zu seinem Herrn »Ich will« sagt, wird er genau das bekommen, was er braucht, um seine Aufgabe innerhalb des Göttlichen Plans zu erfüllen.

Freier Wille, der freie Wille, zum wahren Sein zu finden, ist, wie wir wissen, bei unserem Zusammenleben so wichtig. Er schafft für uns den Raum, um zum wahren Sein zu gelangen.

Wenn der Mensch zu seinem Herrn »Ich will« sagt, wird er genau das bekommen, was er braucht, um seine Aufgabe innerhalb des Göttlichen Plans zu erfüllen. Woran immer er festhält, wird ihm genommen werden. Woran immer eine Gruppe festhält, wird ihr genommen werden.

Zum wahren Sein zu finden, bedeutet, zur Gnosis, zur Erkenntnis zu finden. Um dies zu erreichen, müssen wir alles hinter uns lassen. Um die verborgene Bedeutung dessen, was ich sage, zu verstehen, müssen wir alles aufgeben, jedes System, alle Übungen, alles, was wir je gelernt haben. Dann geht es nicht mehr um irgendjemandes Konzept von dem, was Sein bedeuten könnte, sondern wir finden zu unserem eigenen Sein, das nun endlich Gottes Sein ist. Maulana Dschalal ad-Din Rumi, einer der großen Liebenden aller Zeiten, hinterließ uns folgende Worte:

Komm, komm, wer immer du bist,
Wanderer, Götzenanbeter, du, der du den Abschied liebst,
es spielt keine Rolle.
Dies ist keine Karawane der Verzweiflung.
Komm, auch wenn du deinen Schwur tausendfach gebrochen hast.
Komm, komm, noch einmal, komm!

Wir kommen immer und immer wieder. Wir versuchen, zum Sein zu finden; wir versuchen, unseren Herrn zu finden, der uns zu diesem Zustand führen wird. Doch wir tragen eine schwere Last auf unserem Rücken. »Komm, komm, noch einmal, komm!« Doch kommt nicht mit irgendetwas anderem. Ich meine damit nicht, wir sollten die Systeme dieser Welt nicht achten, die Lehrer, die Kirchen etc. Darum geht es nicht.

Es gibt einen Gott. Es gibt ein Absolutes Sein. Es gibt nur einen Lehrer. Es hat immer nur einen Botschafter gegeben. Jeder Augenblick manifestiert auf Erden ein bestimmtes Attribut Gottes. Einen jeden von uns führt Er – wenn wir bereit sind – zu dem einen Ziel, zu unserem Herrn. Es gibt nur einen Lehrer.

© Reshad Feild 2019
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag