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Cynthia Bourgeault

Praktische Leitlinien für bewusstes Altern

Blumen in einem alten Holzboot

Foto: Pexels

Die US-amerikanische Theologin und Kontemplationslehrerin Cynthia Bourgeault teilt im Blog auf ihrer Webseite www.cynthiabourgeault.org regelmäßig ihr profundes Wissen aus verschiedenen Weisheitstraditionen mit einer stetig wachsenden Leserschaft. Anlass zum folgenden Beitrag, den wir mit freundlicher Erlaubnis der Autorin hier in einer deutschen Übersetzung publizieren, gab ihr die aktuelle Diskussion im Juli 2024 über den altersbedingten Rücktritt von Joe Binden als Kandidat der Demokratischen Partei für die diesjährigen Präsidentschaftswahlen.

ährend die erniedrigende Debatte rund um die Frage, ob Joe Biden mittlerweile »zu alt« sei für das Amt des US-Präsidenten, noch immer die amerikanische Innenpolitik dominiert, kristallisiert sich klar und deutlich heraus, dass dieses Land den Prozess des Alterns im Grunde genommen als abstoßend empfindet und im Großen und Ganzen keine Ahnung hat von den tieferen spirituellen Möglichkeiten, die ihm vielleicht innewohnen.

In den Weisheitslehren der Welt hingegen finden wir diese Möglichkeiten in vielen Unterweisungen dargelegt, in denen »bewusstes Altern« nicht bloß ein höflicher Euphemismus ist, sondern einen aktiven Weg der geistigen Metamorphose beschreibt, ja in gewissem Sinne sogar den Schlussstein einer langen Lebensreise darstellt.

Was bedeutet es, bewusst zu altern? Was könnte es für Joe Biden heißen? Was mag es für jede und jeden von uns bedeuten? Bei der Zusammenstellung der folgenden Leitlinien ziehe ich zwei Klassiker der geistigen Literatur unserer Zeit heran, zwei exzellente Bücher, die beide das Fundament für mein eigenes Verständnis des Themas bilden: zum einen Old Age: Journey into Simplicity [/] der Jung’schen Psychologin Helen Luke, zum anderen Mysterium mortis – Der Mensch in der letzten Entscheidung des Theologen und Philosophen Ladislaus Boros. Und auch auf meine persönlichen Arbeiten greife ich zurück, etwa auf Über den Tod und unsere letzte Entscheidung, denn auch in meiner eigenen work in progress ist, was einst so weit entfernt zu liegen schien, unterdessen zur vertrauten Landschaft meines Alltags geworden.

 

Zehn praktische Leitlinien für bewusstes Altern

 1. Willigen Sie aufrichtig ein in diese Reise in den physischen Abbau, und zwar als der neuen Lernkurve in Ihrem Leben. Sagen Sie Ja dazu, mit Neugier und mit Anfängergeist. Blicken Sie, sanften dehnbaren Herzens, nach vorn. Das ist stets die Richtung, aus der das neu zu Integrierende hervortritt.

2. Ihre körperliche Verfasstheit wandelt sich; achten Sie auf diese Veränderungen und gehen Sie klug mit ihnen um. Drängen Sie Ihren Körper nicht – vor allem nicht regelmäßig –, die Möglichkeiten dessen zu überschreiten, was Sie noch verantwortungsvoll leisten können. Und unterlassen Sie draufgängerische Strapazen, nur um sich oder anderen zu beweisen, dass Sie das »noch immer können«. Mit zunehmendem Alter werden Überanstrengungen immer teurer erkauft.

3. Halten Sie Ihren physischen Körper gut in Schuss. Kümmern Sie sich um Beeinträchtigungen, die einfach zu beheben sind, aber verschwenden Sie keine lebenswichtige Seinsenergie durch Versuche, den Altersvorgang als solchen zurückzudrehen. Machen Sie sich vertraut mit Ihren neuen Rhythmen von Erholung und Resilienz.

4. Seien Sie sich Ihrer selbst so bewusst wie möglich und achten Sie auf alte oder tiefsitzende Selbstbilder und persönliche Narrative, die Ihrer aktuellen Lebensphase nicht mehr entsprechen und Sie allzu leicht einem Risiko aussetzen könnten.

5. Beobachten Sie, was geschieht, wenn Sie Kraft aus einem überholten Selbstbild zu schöpfen versuchen. Nehmen Sie an Ihrem Willen als solchen diese gewisse Qualität des Ins-Förmchen-Zwingens wahr, die einhergeht mit einer allgemeinen Verengung der Geräumigkeit und Freiheit Ihres Bewusstseins. Augenblicklich vernehmen Sie nämlich dieses Innere: »Ah, schon wieder bin ich ganz die/der Alte!« Aber genau das wollen Sie nicht mehr sein. Ihr altes Selbst ist das Opferlamm, das Sie auf den Altar Ihres Werdens legen.

6. Achten Sie genau darauf, was die Menschen in Ihrer Umgebung Ihnen zurückspiegeln, und werden Sie sich aller deutlichen Diskrepanzen bewusst zwischen dem, wie sie meinen, sich zu verhalten, und dem Echo darauf. Seien Sie besonders aufmerksam, wenn man Ihnen bei dem, was Sie tun, zur Seite springt und Ihnen etwas abnehmen will oder wenn Ihre halsstarrige Selbstbehauptung für andere mit übermäßig hohem Aufwand oder Stress verbunden ist. Sprechen Sie Ihr Gegenüber in solchen Situationen direkt darauf an und ändern Sie Ihr Verhalten entsprechend.

7. Seien Sie für neue Züge oder Eigenschaften aufmerksam, die in Ihnen zum Vorschein kommen und denen Sie bis jetzt vielleicht nie auf den Grund gegangen sind, neue Wesensaspekte, neue Interessen, neue Seiten Ihrer Persönlichkeit, die Sie bisher vernachlässigt haben. Gehen Sie mit Neugier auf diese Facetten zu und schenken Sie ihnen Raum, sodass sie sich entwickeln können. Es gibt in Ihnen noch viel Neues, das hervorsickert, nur sollten Sie nun an etwas anderen Orten danach suchen.

8. Verwechseln Sie körperliche Vitalität oder »Jugendlichkeit« nicht mit Seinskraft, die aus Ihrem tieferen Inneren kommt und zur Gänze die Frucht Ihrer inneren Arbeit ist. Seinskraft strahlt selbst noch aus einem zerbrochenen Gefäß hervor.

9. Bedenken Sie, dass Sie nicht bloß einen äußeren Körper besitzen, sondern auch einen inneren: Ihren sogenannten Kesdjan- oder zweiten Körper. Bestimmte spirituelle Übungen (für mich persönlich sind es die Gurdjieff-Übungen, für andere vielleicht eher Embodiment- oder Verkörperungsübungen wie Yoga und Tai-Chi) ermöglichen es uns, diesen zweiten Körper direkt »berühren« zu lernen und seinen feinstofflichen Fluss als das Leben innerhalb unseres Lebens wahrzunehmen. Ich spreche hier von jener Strömung, die Ladislaus Boros als »die aufsteigende Daseinskurve« [1] beschreibt und die uns zu guter Letzt durch den Geburtskanal des Todes tragen wird und uns in unsere dann vollständig erlangte Kesdjan-Selbstheit versetzt. Lernen Sie diesen, Ihren inneren Körper kennen, bewegen Sie sich ihn ihm, vertrauen Sie ihm.

10. Für alle und jeden unserer Lebensabschnitte gilt: »Der einzige Ausweg führt hindurch!« Ehrlichkeit, Offenheit und ein sanftes Akzeptieren (manche sagen auch »Hingabe«) schaffen eine spirituelle Geschmeidigkeit: das wahre Kennzeichen von Seinskraft. Hartnäckigkeit, klammerndes Festhalten, verengende Anspannung und Halsstarrigkeit führen zu geistiger Verkalkung: dem untrüglichen Zeichen eines Unwohl(da)seins, egal in welcher Lebensphase wir uns befinden.

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

Durch Klicken auf die Ordnungszahlen können Sie zwischen Haupttext und Fußnote hin- und herspringen.

[1] Zur aufsteigenden Daseinskurve schreibt Ladislaus Boros in Mysterium mortis (Seiten 94–95):

Die Lebensenergien durchlaufen also, körperlich wie geistig, die absteigende Kurve der Versteifung und Ver­minderung. Alles, was den »äußeren Menschen« betrifft, die Leistung, das Erkämp­fen, das Sich-Durchsetzen, das Meistern und das Ordnen, geht die abfallende Kurve. Doch gleichzeitig eröffnet sich die Möglichkeit eines inneren Aufstiegs. Der »innere Mensch«, das heißt der Mensch der Sinnfülle, der Leuchtkraft, der Weisheit, der Lebensechtheit, der transzendenten Durchsichtigkeit, der Weite des Herzens, der abgeklärten Duldung und damit der ganzheit­lichen Lebens­erfahrung, in einem Wort: der Mensch, der zum Interpreten des geistigen Sinnes werden kann, zehrt an der Kraft des »äußeren Menschen«. Je mehr dieser zerfällt, desto reiner öffnet sich die Möglichkeit des Aufstiegs zur Innerlichkeit.

Der Energievorrat des »äußeren Menschen« muss also nicht nutz­los verschwinden. Er kann in andere Energie umgewandelt werden, die ihrerseits eine entgegengesetzte Daseinskurve beschreiben mag. Die Gesetzmäßigkeiten dieser zweiten Entwicklung sind innerlich, werden unserer Freiheit als Auftrag auferlegt. Sie können ganz verfehlt, oder in verschiedenen Vollkommenheitsgraden verwirklicht werden. Sie tragen aber die Notwendigkeit unseres Seins an unsere Freiheit heran. Wenn man diese von innen her bestimmte Richtung geht, werden die Energien des äußeren Menschen in einen neuen Seinszustand, in Geist umgewandelt. Durch die einzelnen Lebensalter hindurch eröffnet sich die Möglichkeit des Selbstwerdens, der Erweiterung des Daseinsraumes und der Set­zung der eigenen Freiheit.