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Cynthia Bourgeault

Leben lernen in Lektionen über das Sterben

Blume Punktraster
Bild: Chalice Verlag

Mit seiner »Endentscheidungshypothese« deutete der Theologe und Philosoph Ladislaus Boros unsere Vorstellungen über den Tod radikal um. In ihrem neuesten Buch zu diesem Thema vermittelt Cynthia Bourgeault in zwölf Lektionen die theoretischen Grundlagen sowie hilfreiche Anstöße zur Reflexion und konkrete Übungsanleitungen, die uns helfen können, im »Gedenken unseres eigenen Todes« neuen Sinn, größere Kraft und tieferes Vertrauen in unserem Leben zu schöpfen. Eine Probelektion gefällig?

Ausschnitte aus dem Buch Über den Tod uns unsere letzte Entscheidung von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Über den Tod und unsere letzte Entscheidung

estimmt kennen Sie diese etwas ärgerlichen Punktematrix-Bilder: Beim ersten Blick auf das Papier oder den Bildschirm scheint da nichts weiter zu sein als eine zufällige Anordnung von Punkten oder kreisenden Mustern. Doch plötzlich verändert sich etwas in unserem Gehirn und voilà – aus dem Punktewirbel kommt auf wundersame Weise eine Blume zum Vorschein.

Eine ähnlicher »Schalter im Gehirn« wird umgelegt, wenn wir uns mit Ladislaus Boros’ bemerkenswerter mystischer Offenbarung zu beschäftigen beginnen. In der üblichen Sichtweise zeigt sich uns der Tod lediglich als solch ein kreisendes Punktematrix-Bild, das alles unter einer undurchschaubaren Oberfläche versteckt oder in ein Durcheinander zufälliger Elemente zurückbefördert – Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wenn ich sterbe und vom Dasein ins Nichtdasein übergehe, scheint sich all das, was einst »ich« war, in diesem Wirbel zu zersetzen. Es sieht aus wie das Ende des persön­lichen Bewusstseins, das Ende der Bewegungsfreiheit, das Ende der menschlichen Verbundenheit. Die Bildfläche wird einfach grau. Wo also ist in diesem Bild die Blume?

Ausschnitte aus dem Buch Über den Tod und unsere letzte Entscheidung von Cynthia Bourgeault

Ilia Delio: Ursächlich Liebe

Ich gehe nicht davon aus, dass Ladislaus Boros an jenem einschneidenden Tag Ende des Jahres 1959 oder Anfang 1960 auf der Spurensuche nach dieser Blume war. Zu diesem Zeitpunkt war seine Beziehung zum Tod noch rein akademisch, geprägt von der klassischen katholischen Scholastik und der berauschenden mystischen Theologie seines Mentors Karl Rahner [/]. Aber auch Teilhard de Chardin wirkte bereits in ihm, und dessen wesentlich sinnlichere Vorstellung von einem »göttlichen Bereich«, einem von der Präsenz Christi subtil durchdrungenen Kosmos, begann mit Boros’ Wahr­nehmungsfeld zu spielen. An jenem schicksalhaften Tag trafen in ihm diese beiden Lehrströme aufeinander, und die Blume kam zum Vorschein.

Teilhard de Chardin, Karl Rahner, Ladislaus Boros

Teilhard de Chardin, Karl Rahner und Ladislaus Boros

Wir können dieser Blume viele Namen geben: der »innere Mensch« (wie Paulus dazu sagt), der »innere Körper«, der »spirituelle Körper«, die »innerste Essenz« oder der »Wesens­kern«. Boros selbst nannte sie schlicht und einfach die »Per­son«. Sie zu erkennen, nur darum geht es. Boros erkannte sie, und seine Welt veränderte sich für immer. In jenem Augen­blick verstand er, dass dieser innerste Kern seiner selbst unver­gänglich real ist, ihm jetzt als vitalisierende Kraft zur Verfü­gung steht und der Tod ihn nicht etwa zerstören, sondern ihn vielmehr seiner endgültigen Vollendung überantworten wird.

Die Vision floss aus ihm hervor in Worten, deren Feuer noch heute leuchtet:

Im Tode stellt sich das Dasein an die Grenze allen Seins, plötzlich erwacht, wissend und befreit. Der verborgene Dynamismus des Daseins, aus dem heraus der Mensch bis dahin lebte, ohne aber daraus je zu einem ganzheitlichen Einsatz zu kommen, wird jetzt bewusst und frei nachvollzogen. Es strömt dem Menschen sein tiefstes Sein entgegen. Darin kommt, in eins gefasst, das Weltall auf ihn zu, das er schon immer verborgen in sich trug, mit dem er schon immer zutiefst vereint war, das irgend­wie schon immer aus ihm entstand. […]

Als ein grenzenloser Strom der Dinge, der Bedeutungen, der Personen und der Geschehnisse strömt ihm das Sein entgegen und will ihn in die Gottheit hineinreißen. Darin greift Gott selbst nach ihm. Gott, Der immer schon in jeder Regung seines Daseins als sein tiefstes Geheim­nis bei ihm war, aus Dem heraus er immer schon sich selbst geschaffen hat.[1]

Und seine direkt daraus folgende Endentscheidungshypothese lautet:

Der Tod ist der erste vollpersonale Akt des Menschen und somit der seinsmäßig bevorzugte Ort des Bewusstwerdens, der Freiheit, der Gottbegegnung und der Entscheidung über das ewige Schicksal.[2]

Hier haben wir es tatsächlich mit einem radikalen Per­spektivwechsel zu tun, mit einer kompletten Umkehrung unser­er gewohnten Auffassung vom Tod.

Ich möchte nochmals explizit klarstellen, dass die Blume aus meiner Sicht wirklich existiert und wir es weder mit einer bloßen Spekulation noch mit einem neuen Aufguss der traditionellen Kirchenlehren über die Seele zu tun haben.

Vielleicht fühlen Sie sich durch seine Kühnheit etwas abgeschreckt. In unserer skeptischen und spirituell verhaltenen Zeit ist es wahrscheinlich lange her, seit Sie jemandem begegnet sind, der derart viel riskiert hat, wie es Boros hier tut. Doch wenn Sie sich der noch immer nachhallenden Kraft seiner Erkenntnis aussetzen und sich einfach davon überwältigen lassen, lautet die hilfreichste Reaktion darauf wahrscheinlich nicht: »Ist das wahr?«, sondern: »Wie würden sich die Dinge in meinem Leben genau jetzt verändern, wenn ich sehen könnte, was er sah?«

Wenn wir in diesem Studienkurs tiefer in diese imaginative Möglichkeit eintauchen,[3] wird Boros einige der fehlenden Puzzlestücke einfügen. Wir werden erfahren, was uns erwartet – und wie wir uns dafür wappnen können –, wenn wir uns für diese bedeutend größere Aussicht öffnen können, die er vor uns ausbreitet. Letztendlich müssen wir es mit eigenen Augen sehen, sonst bleibt nichts davon hängen. Zumin­dest aber wird er uns eine wesentlich hoffnungsvollere Stra­ßen­karte in die Hand gegeben haben.

Ich möchte nochmals explizit klarstellen, dass die Blume aus meiner Sicht wirklich existiert und wir es weder mit einer bloßen Spekulation noch mit einem neuen Aufguss der traditionellen Kirchenlehren über die Seele zu tun haben. Es ist etwas viel Mächtigeres als das – mächtiger vielleicht, als selbst Boros es erahnte, obwohl er definitiv der imaginativen Wirklichkeit auf der Spur war.

»Du musst das in dir finden, das bereits jenseits des Todes lebt, und jetzt beginnen, aus dem heraus zu leben«, sagte mir mein klösterlicher Lehrer Bruder Rafe ein paar Monate vor seinem eigenen Tod [4] und hinterließ mir damit etwas, wovon ich damals nicht ahnte, dass es für die nächsten dreißig Jahre meine Marschrichtung bestimmen sollte. Für ihn war dieser »innere Körper« vollkommen real – ein Körper, den man riechen und schmecken konnte und der immer der unerwartete, verborgene Akteur in unserem Austausch miteinander und zwischen den sichtbaren und den unsichtbaren Reichen ist.

Gebündelt in unserer Außenhaut existiert eine subtile innere Lebendigkeit, die in der Tat die gegenwärtige Saat unseres ewigen Selbsts ist. In unserer Zeit auf diesem Planeten ist es so eng in den physischen Körper eingefügt, dass wir es nicht richtig bemerken. Wenn der Tod die Tarnung aufhebt, geht es in der »dünneren« Atmosphäre der subtilen Wirklichkeit auf. Wenn es im Laufe dieses Lebens gelernt hat, seine eigene innere Form zu bewahren, wird es sich einfach weiterbewegen. Der Tod stellt keine dauerhafte Unterbrechung für die Identität dar.

Alles hier und jetzt hängt vom Umlegen dieses »Schalters« ab. Wenn Sie diese Blume einmal erkannt haben – und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick–, werden Sie sie nie wieder nicht sehen. Und mit der Zeit werden Sie sie sogar riechen und schmecken können und dabei über Ihre eigene Süße erstaunt sein.

Was ist ein »vollpersonaler Akt«? Wie unterscheidet sich dieser von den Handlungen, die wir im alltäglichen Le­ben ausführen?

Fragen zur Reflexion

1. Nehmen Sie sich Zeit für Boros’ kraftvolle Offenbarung und arbeiten Sie mit ihr im Stil der lectio Divina. Da­mit meine ich:

(a) Lesen Sie die oben zitierte Pas­sage mehre Male langsam durch, wenn möglich mindestens einmal laut.

(b) Lassen Sie sich zu einem Bild, einer Vorstel­lung, einem Satz oder auch zu nur einem einzelnen Wort hinziehen, das Sie daraus besonders anspricht.

(c) Arbeiten Sie mit diesem Anknüpfungspunkt, solange er für Sie noch Energie birgt, und gehen Sie ihm auf dem Grund mit der Methode, die Ihnen am besten passt: durch intellektuelle Reflexion, freie Assoziation, persönliche Erinnerungen, Tagebuchein­tra­gungen, Zeichnen. Inwiefern werden Ihre tiefsten Intui­tio­nen von ihm am stärksten herausgefordert oder bestätigt?

2. Mystiker sprechen gern in Paradoxen, und Boros bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Wie viel Paradoxes entdecken Sie in seiner Textstelle – Aussagen, die genau das Gegenteil von dem zu sagen scheinen, was Sie erwarten, oder die unserem üblichen Gefühl von Vernunft geradezu widersprechen?

3. Was meint Boros Ihrer Meinung nach mit seiner Aus­sage: »Der Tod ist der erste vollpersonale Akt des Men­schen«? Was ist ein »vollpersonaler Akt«? Wie unterscheidet sich dieser von den Handlungen, die wir im alltäglichen Le­ben ausführen? Halten sie Ihre ersten Eindrücke dieser Lehre schriftlich fest; vielleicht wollen Sie im späteren Verlauf dieses Studienkurses noch einmal darauf zurückkommen.

4. Haben Sie selbst oder hat jemand, den Sie gut kennen, jemals eine Nahtoderfahrung gehabt? Wenn ja, inwiefern hat sich das auf Ihre Beziehung zum Tod ausgewirkt? Stimmt die Vision von Boros mit Ihrer eigenen Erfahrung überein? Auf welche Weise?

Cynthia Bourgeault bei Meditieren

Die Autorin beim Anleiten einer geführten Kontemplation. Quelle: Cynthia Bourgeault

Spirituelle Übung

Im Laufe dieses ganzen Kurses werden wir tief in das klassische Repertoire der Übungen der Hingabe oder des »Los­lassens« eintauchen, die in allen heiligen Traditionen der Welt praktiziert werden. Insbesondere das Gebet der Samm­lung und seine das Alltagsleben begleitenden Übungen werden Gegenstand unserer Arbeit sein; sie führen uns direkt in die praktische Essenz der Lehre von Ladislaus Boros.

Hingabe geschieht allerdings nicht im Kopf. Wenn wir versuchen, sie dort zu erlangen, gleicht sie einem Kapitulie­ren, einem »Einlenken« oder einem spirituellen Umgehen. Hin­gabe muss mit unserem ganzen Körper vollzogen werden, im Bereich der innerlichen Haltung und nicht als men­tales Kon­strukt. Der Körper wird uns lehren, diese Geste als innerlich befreiend und geräumig zu erkennen, nicht als zwingend oder einschnürend.

In diesem Sinne lade ich Sie ein, heute mit einigen dieser gänzlich »verkörperten« Grundhaltungen zu arbeiten:

Neh­men Sie zunächst eine »stramme« Haltung ein, so, als würden Sie sich mit aller Kraft gegen etwas wehren. Ballen Sie Ihre Fäuste und pressen Sie Ihre Kiefer zusammen, versteifen Sie Ihren Rücken. Halten Sie die Position für etwa fünf Sekunden und spüren Sie ihr wirklich nach… Dann entspannen Sie sich. Öffnen Sie Ihre Fäuste, lassen Sie Ihre Schultern fallen, lockern Sie Ihre Kiefer. Spüren Sie auch diese Geste wirklich in Ihrem Körper.

Üben Sie dieses Sich-anspannen-und-wieder-Loslassen mehrmals täglich. Ergrün­den Sie, wie sich Ihr Körper bei jeder dieser Haltungen anfühlt. Welche fühlt sich innerlich angenehmer an?

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2023
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

Durch Klicken auf die Ordnungszahlen können Sie zwischen Haupttext und Fußnote hin- und herspringen.

[1] Ladislaus Boros: Mysterium mortis: Der Mensch in der letzten Entscheidung, Gesamtausgabe, Band 3, Xanten: Chalice Verlag, 2023, Seite 50.

[2] Ebenda, Seite 121.

[3] Das »Imaginative« beziehungsweise das »Reich des Imaginativen« hat eine zentrale Bedeutung in der Lehre von Cynthia Bourgeault. Um­fassend und detailliert geht sie darauf ein in ihrem Buch Das Auge des Her­zens: Eine spirituelle Reise ins Reich des Imaginativen, Xanten: Chalice Verlag, 2021. »In der islamischen Mystik steht das Äquivalent des Begriffs ›imaginativ‹ für ein feines und fluides ›Zwischenreich‹, das sich zwischen der Form und der Formlosigkeit befindet. Doch die Vorstellung – oder vielmehr der Archetyp – an sich ist eine tragende Säule der westlichen Tradition der sophia perennis oder der ›immerwährenden Weisheit‹, deren Wurzeln bis zu Platon zurückreichen. […] ›Imaginativ‹ heißt es, weil es für das physische Auge zwar unsichtbar, mit dem Auge des Herzens aber dennoch wahrnehmbar ist, was der Begriff der Imagination zum Beispiel im islamischen Kontext ursprünglich auch tatsächlich impliziert: direkte Wahrnehmung durch das Auge des Herzens, nicht durch intellektuelle Reflexion oder Fantasie« (Seiten 27–28) [Anmerkung der Übersetzer].

[4] Bruder Rapahel »Rafe« Robin (gestorben 1995) war ein Einsiedler­mönch im Benediktinerkloster Snowmass, Colorado. Über ihre tiefgehende Beziehung mit ihm und vor allem über das Thema »Tod, Seele und Partnerschaft« berichtet die Autorin ausführlich in ihrem Buch Stärker als der Tod ist die Liebe: Die mystische Vereinigung zweier Seelen, Xanten: Chalice Verlag, 2021 [A.d.Ü.].