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Regina & Stefan Bommer
»Der höchste Punkt, an den ich euch führen kann, ist der Punkt der Verwirrung«
Stefan Bommer und Reshad Feild im Johanneshof 1993. Foto: Chalice Verlag
Am 31. Mai 2016 starb der englische Mystiker, Autor und spirituelle Lehrer Reshad Feild. Aus Anlass seines vierten Todestages spricht das Chalice Magazin mit Regina und Stefan Bommer, zwei seiner langjährigen Schüler, über die Bedeutung der Begegnung mit ihm für ihre persönlichen geistigen Lebenswege
hr beide habt viele Jahre bei Reshad Feild studiert, bevor ihr »weitergezogen« seid auf eurem persönlichen spirituellen Weg, auf dem ihr euch heute stärker im tibetisch-buddhistischen Kontext bewegt. Was bedeutet die Begegnung mit Reshad in eurem Leben, wofür steht er? Könntet ihr das spontan auf einen Nenner bringen?
Stefan: »Atem ist Leben« – das ist, kurz gesagt, die Hauptaussage, die ich mit Reshad verbinde. Unter allen Menschen, denen ich je begegnet bin – das schließt alle buddhistischen Lehrer und Lehrerinnen mit ein, die ich mittlerweile kennengelernt habe – ist er der am vollständigsten lebendige gewesen. Aber von so etwas zu erzählen, macht sowieso nur dann Sinn, wenn sich das Gegenüber mit der Frage, was ein spiritueller Lehrer ist, bereits irgendwie beschäftigt hat.
Regina: In meinem heutigen buddhistischen Umfeld beschreibe ich die Bedeutung von Reshad für mich so: »Reshad war der Lehrer, der mich in die Natur des Geistes eingeführt hat.« Mit diesem einen Satz verstehen die meisten, was ich meine. Viele Menschen, die ihn persönlich erlebt haben, an Vorträgen oder Seminaren, werden sich an diesen Zustand erinnern: das Gefühl der spontanen Erkenntnis, dieses fundamental erschütternde Ereignis, bei dem einem oft schlagartig und unmittelbar offenbart wird, was niemals verborgen war. Zeitlos still und leuchtend, geheimnisvoll weit offen, raum- und grenzenlos – das Erleben dieses einen ersten Momentes der Einsicht werde ich niemals vergessen.
Viele Menschen haben gesagt, Reshad habe ihnen Türen geöffnet. Wie war das bei euch? Was hat ihn für euch zu einem Lehrer gemacht?
Regina: Von ihm habe ich gelernt, wach für den gegenwärtigen Augenblick zu sein. Jede und jeder kann dann für jede und jeden eine Lehrerin, ein Lehrer sein. Wir alle sind mit Hunderten von Lehrern gesegnet und das jeden Tag aufs Neue; alles, was uns begegnet, hat das Potential einer Lehrfunktion, wenn ich dafür offen bin.
Meinst du etwas, was Reshad im Epilog seines Buches Die letzte Schranke so beschreibt: »Es gab keinen Meister auf dem Berg. Das war ein Spiel deiner Einbildung. […] Alles, was du jemals wissen musstest, ist hier, jetzt, in dir. Wenn du dich selbst sterben lässt, wirst du in der Ewigkeit neu geboren, in der alles, was jemals war oder jemals sein wird, darauf wartet, befreit zu werden und der sterbenden Menschheit das Leben zu bringen. Das ist eine furchtbare Freiheit, aber es ist die einzige wirkliche Freiheit.«
Regina: Ja, das trifft es ganz gut. Spirituelle Lehrer oder Lehrerinnen sind für mich Menschen, die uns in Berührung mit etwas bringen, was tiefer in uns liegt. Und das hat Reshad ganz eindeutig gemacht; er verfügte über eine Qualität, die ein echter Lehrer haben muss, und löste etwas aus. Ja, er öffnete die Tür zu dieser anderen Dimension, wenn man so will.
Stefan: Für mich ist ein spiritueller Lehrer jemand, der dich darauf vorbereitet, dass du in allen Situationen, in denen du dich befindest, in jedem Wesen, das dir begegnet, den »Lehrer« erkennen kannst, und der dir hilft, dich darauf hin auszurichten. Indem er deine Aufmerksamkeit auf sich fokussiert, wird er zum Spiegel für dich. Ich denke, dass man dies persönlich erlebt haben muss, um die Funktionsweise wirklich zu verstehen. Ich war zum Beispiel erstaunt, dass es in meinem Bekanntenkreis durchaus spirituelle Menschen gab, die glaubten, dass ich mit Reshad auch meine alltäglichen, persönlichen Probleme besprechen würde, seien es Herausforderungen im Job, in der Beziehung etc. Auf eine solche Idee wäre ich nie gekommen. Darum geht es für mich nicht im Kontakt mit einem spirituellen Lehrer.
Stefan und Regina Bommer an einem Seminar von Reshad in Hazelwood, Devon, 2003. Foto: Chalice Verlag
Hattet ihr, bevor ihr mit Reshad in Berührung gekommen seid, gewusst, was ihr sucht? Hattet ihr eine Vorstellung darüber, was ein spiritueller Lehrer ist?
Stefan: Ich wusste, dass ich jemanden wie Reshad suchte. Als Psychologe war ich damals, in den frühen 1980er-Jahren, mit den therapeutischen Ansätzen nicht wirklich zufrieden. Ich hatte viele Sachen auf verschiedenen Ebenen ausprobiert, aber es blieb das Gefühl, dass da etwas fehlt.
Dann kam Reshad nach seiner Rückkehr aus Amerika für einen ersten Vortrag nach Bern. Sein Buch Die letzte Schranke hatte ich bereits gelesen, und diese Lektüre führte mir deutlich vor Augen, dass ich so etwas suchte. Die Vorstellung, mit einem Lehrer unterwegs sein zu wollen, hatte mich schon länger beschäftigt. Natürlich hatte ich auch Carlos Castaneda [/] und vieles mehr gelesen, war schamanischen Heilern, Sogyal Rinpoche [/] und vielen anderen begegnet, wie das damals in bestimmten Kreisen so üblich war. Meine Idee war, jemanden zu finden, der mir bei einem »inneren Useputzete« [Großreinemachen] helfen konnte – also mir dabei hilft, das loszuwerden, was mich daran hindert, wirklich zu verstehen, dass ich mit allem verbunden und gleichzeitig etwas Einzigartiges bin.
Reshad hat zwar auch eine Zeitlang in Mexiko gelebt, und in Wissen, dass wir geliebt sind auch darüber geschrieben, aber dennoch ist der Weg von Castaneda zu einem Sufi-Lehrer, der er damals noch war, recht weit.
Stefan: Es war eine Zeit des großen Aufbruchs, politisch, sozial, psychisch, spirituell. Es gab unendlich viele Facetten dieses Aufbruchs. Ich hatte bereits vor Reshad einige Sufi-Lehrerinnen und -Lehrer kennengelernt: Irina Tweedie [/], Jabrane Sebnat [/] und Oruç Güvenç [/]. Daher hatte ich bereits eine gewisse Vorstellung und wusste auch, was für mich eher nicht in Frage kam. Wie zum Beispiel Irina Tweedie, die zwar eine unglaubliche Ausstrahlung hatte, aber viel über Träume sprach und eng mit Jungschen Psychologen zusammenarbeitete, was mich wiederum nicht so sehr ansprach.
Es heißt, der Meister erscheine, wenn der Schüler bereit ist. Wie seht ihr das? Die Möglichkeit, in einer Schüler-Lehrer-Konstellation zu arbeiten – geht das vom Schüler oder vom Lehrer aus?
Stefan: Als ich Reshad an diesem ersten Vortrag in Bern kennenlernte, hat er, jedenfalls für mich deutlich hörbar, gesagt, er suche Schüler. Daraufhin machte er die spaßige Bemerkung, dass, wenn er sage, man müsse alles hingeben, alle jetzt wohl als Erstes an ihr Portemonnaie dächten, was zu großem Gelächter führte. Ich weiß nicht, wie viele Leute, die diesen Vortrag hörten, dasselbe wie ich wahrgenommen hatten. Aber für mich hatte er sich eindeutig als Lehrer zu erkennen gegeben, der nach Schülern sucht, die er lehren kann.
Wichtiger als das Lehrer-Schüler-Verhältnis, ist das, worauf der Lehrer hinweist, das, was er oder sie dich lernen lässt.
Viele Jahre später, bei einem Zusammentreffen einer kleinen Gruppe, hielt Reshad eine kurze Rede: Ich hörte, wie er sagte, er habe von nun an die Rolle eines Lehrers und nicht mehr die eines Mevlevi-Scheichs. Er hatte sozusagen einen Funktionswechsel artikuliert. Aber auch das wurde seltsamerweise nicht von allen gehört. So ist das, wenn man einem spirituellen Lehrer begegnet.
Jedenfalls fragte ich ihn nachher direkt: »Nimmst du mich als Schüler an?« In meinen Augen hat er also das Angebot gemacht; aber ob das immer auf diese Art und Weise geschieht, weiß ich nicht. Reshad Feild war mein einziger spiritueller Lehrer, dem ich mich als Schüler verpflichtet habe. Das Wichtigste am Lehrer-Schüler-Verhältnis ist für mich: das zu realisieren, worauf der Lehrer hinweist, das, was in dir, wie in jedem Wesen, ist, wiederzuentdecken und vor allem das, was er oder sie dich zu verlernen veranlasst.
Regina: Mir fällt dazu ein: »Schaue nicht auf den Finger, der zum Mond zeigt, schaue auf den Mond.« Der Lehrer ist ja nicht das Ziel. Aber apropos: Auch für mich war Die letzte Schranke das Buch, das mich schließlich zu einem Vortrag von Reshad brachte, der dann einen wegweisenden Einfluss auf mich gehabt hat.
»Um zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, brauchen wir Geduld und Ausdauer«, schreibt er in dem Buch, »und wir müssen in der ewigen Frage leben, die schließlich zur wahren Freiheit führt – Freiheit von Unwissenheit, Freiheit im Wissen um die Liebe und Freiheit für alle fühlenden Wesen.« Wie hat euch Reshad konkret dabei geholfen? Mit welchen Mitteln brachte er Suchende zu dieser Frage, die eine solche einschneidende und wirkungsvolle Veränderung bringen kann?
Stefan: Reshads Arbeit war immer vor allem eine energetische. Er hatte ja auch lange und sehr nachgefragt als Heiler gearbeitet. Er konnte beispielsweise Gegenstände verbiegen, so wie Uri Geller [/], und das hat er zu einer gewissen Zeit – beeindruckend und sehr lustig – auch immer wieder öffentlich demonstriert. Aber das war nur eine bestimmte Phase. Es gibt doch diesen Ausspruch von Ibn Arabi: »Der höchste Punkt, an den ich euch führen kann, ist der Punkt der Verwirrung.« Genau darum wusste Reshad, und das hat er sehr gekonnt praktiziert. Er schubste einen von einer besonderen Situation in die nächste, und häufig schien irgendetwas nicht zusammenzupassen. Manchmal gab es da sehr viel Licht, und in diesen Momenten der totalen Verwirrung hat er einen in Kontakt mit etwas Größerem, Bekannt/Unbekanntem gebracht. In solchen Momenten war er definitiv ein Türöffner, der uns half, über das konzeptionelle Denken hinauszugehen, hinein in die Erfahrung, dass alles miteinander verbunden ist. Und er konnte einem zeigen, wie man dort hingelangt, wo man sich dessen bewusst sein kann.
Falls sich dies wie ein einfacher Spaziergang anhört – das war es nicht. Reshad war ein schwieriger und anspruchsvoller Lehrer.
Aber Geduld und Ausdauer braucht es schon?
Stefan: Ja, falls sich dies wie ein einfacher Spaziergang anhört – das war es nicht. Reshad war ein schwieriger und anspruchsvoller Lehrer. Er war ja auch auf dem Malamati-Pfad unterwegs [dem »Pfad des Tadels«], auch wenn er darüber öffentlich kaum je gesprochen hat, und dazu gehört es fast zwangsläufig, dass ein Lehrer »schwierig« ist. In der Erziehungslehre lautet ein Grundsatz zur Förderung der kindlichen Entwicklung, dass es nicht darum geht, dem Kind das Leben leicht zu machen, sondern ihm gezielt Herausforderungen zu stellen, ihm also Aufgaben zu übertragen, bei denen es sich anstrengen muss.
So habe ich auch die Lehrmethoden von Reshad verstanden. Was ich mit und bei ihm erlebte, habe ich immer versucht, zuerst auf mich selbst zu beziehen. Ich schaute, ob ich in mir etwas entdecken konnte, was mit dem Gesagten und Erlebten korrespondiert. Und »Korrespondenz suchen« heißt ja nicht, dass ich mit etwas übereinstimmen muss, es kann auch eine Art Gegenstück sein, aber etwas in mir muss irgendwie damit in Beziehung stehen. Wenn ich imstande bin, alles in dem Sinne »anzunehmen«, ist dies ein Akt des Vertrauens, des Glaubens.
Reshad Feild und Stefan Bommer in den 1980er-Jahren in Wien. Foto: Chalice Verlag
Gehört zu dieser Korrespondenz nicht auch das, was Reshad immer wieder empfohlen hat, nämlich: »Suche die Ebene derer, mit denen du sprichst, um sie nicht zu demütigen oder zu betrüben.« Oder auch, zum Beispiel in Bezug auf die Hilfestellung für einen kranken Menschen: »Werde zu einem Spiegel für die Person. Begib dich, in Respekt und Liebe, auf eine Ebene, die nur ganz wenig höher liegt als die der anderen Person – und atme.«
Stefan: Ja, “seek the level of whom you speak to”, das war eindeutig etwas, was Reshad vollkommen beherrschte, im Positiven wie im Negativen. Zum Beispiel hatte er die Fähigkeit, deine dunklen Punkte zu sehen, die du gerne verschwiegen und im Dunkeln gelassen hättest. Aber er beleuchtete diese Punkte und zwar manchmal so grell, dass man es kaum ertragen konnte. Manche Leute hatten tatsächlich den Eindruck, dass er mit dieser Arbeit manchmal zu weit ging. Ich glaube allerdings, dass diese Art von Leid zu einer Entwicklungsgeschichte dazugehört. Reshad ist mit seinen Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlich umgegangen; je nachdem, wo sie standen, was für sie angezeigt war. Manche bekamen sozusagen die Christus-Behandlung, andere die Maria-Kur (lacht).
Dies war seine Art zu lehren, und sie ist etwas sehr Besonderes. Um dies zu können, braucht es bestimmte, ganz besondere persönliche Voraussetzungen. Es gibt Menschen, die das im Einzelkontakt oder in kleinen Gruppen bewerkstelligen können, aber die Fähigkeit von Reshad, dies in großen Gruppen zu machen, ist überaus selten.
Jeder Schüler, jede Schülerin muss für sich die Frage beantworten: Vertraue ich dem, was ich auch in diesen schwierigen Situationen erlebe, oder glaube ich, der Lehrer will mich womöglich nur runtermachen.
Reshad übernahm für seine Schülerinnen und Schüler eine Spiegelfunktion, sodass ich als sein Gegenüber mir bewusst werden konnte, dass es gewisse Anteile in mir gibt, die nur durch eine bestimmte Umgangsweise, durch eine bestimmte Referenz auf der anderen Seite, für mich sichtbar werden konnten. Dabei war der Prozess, den Reshad in mir ausgelöst hat, manchmal hart und schmerzhaft. Jeder Schüler, jede Schülerin muss für sich die Frage beantworten: Vertraue ich dem, was ich auch in diesen schwierigen Situationen erlebe, oder glaube ich, der Lehrer will mich womöglich nur runtermachen.
Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seiner Gesundheit musste Reshad seine aktive Lehrtätigkeit im größeren Rahmen ab einem bestimmten Moment zwangsläufig einstellen. Zudem hat er öfters klar und deutlich gesagt, dass seine initiatische »Linie« nicht weitergeführt werden wird. Trotzdem stand im Laufe der Zeit immer mal wieder die Frage im Raum, ob und wie seine Lebende Schule als strukturiertes Angebot weitergeführt werden könnte oder sollte. Wie siehst du das, Stefan, als einer von Reshads frühesten Schülern in der Schweiz und zeitweiser Studiendirektor der Schule?
Stefan: Irgendwann Anfang der 1990er-Jahren, als Reshad für einen mehrmonatigen Urlaub von Luzern in die USA reiste, hat er mir als Director of Studies die Schule für die Zeit seiner Abwesenheit »in die Verantwortung« gegeben. Einerseits hatte ich ziemliche Angst davor (schließlich hatte ich nebenbei noch einen Job), andererseits schmeichelte es natürlich meiner Eitelkeit. Irgendwie habe ich es dann also gemacht und habe mich, logischerweise, gebauchpinselt gefühlt, als Reshad nach seiner Rückkehr meinte, die Schule befinde sich in einem guten Zustand.
Eigentlich war es immer klar, dass es so etwas wie einen »Nachfolger« von Reshad nicht geben konnte.
Doch es war eigentlich immer klar, dass es so etwas wie einen »Nachfolger« von Reshad nicht geben konnte. Schließlich hatte sein eigener Lehrer, Bülent Rauf, es ausdrücklich ausgeschlossen, dass er die Erlaubnis zur Initiierung in den Weg der Liebe, des Mitgefühls und des Dienens (also die Initiation, die er von ihm erhalten und die Reshad an seine direkten Schülerinnen und Schüler weitergegeben hat) seinerseits an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin weitergibt. Also hätte für eine solche »Übertragungslinie« ein ganz wesentliches Element gefehlt. Reshad hat mehrfach als Beispiel für die Frucht seiner Arbeit Menschen erwähnt, die ein »gewöhnliches« Leben führen, eine Pension oder einen Blumenladen betreiben. Ich erinnere mich nicht daran, dass er in diesem Zusammenhang Menschen erwähnte, die »spirituell« lehrten.
Dass hingegen die Schule weitergeführt werden könnte, auch nach Reshads endgültiger Rückkehr nach England, war zwischen uns beiden und anderen durchaus immer wieder mal im Gespräch. Schließlich hatte ich ja auch mitgeholfen, die internationale Schule in der Schweiz aufzubauen, und das war eigentlich das, was unsere Beziehung ausgemacht hat. Ich war nicht der Typ, der mit Reshad zum Angeln ging, und auch nicht unbedingt jemand, der sich von seiner Metaphysik in den Bann gezogen fühlte. Ich kümmerte mich um die Schule – das war »unser Ding« und mein besonderes Interesse. Natürlich habe ich viel von allem anderen mitbekommen; ich hörte seine Theorien, aber eigentlich hätte ich sie selbst nicht erklären können. Ich hatte das Gefühl, dass es bei mir um etwas anderes geht und ich diesen Aspekt gar nicht unbedingt wissen musste.
Schlussendlich habe ich mich dann entschieden, die Verantwortung für den ganzen Kreis zurückzugeben. Trotz seiner Ankündigung, sich zurückziehen zu wollen, hat sich Reshad zwischendurch immer wieder in alles eingemischt, was natürlich auch zu Spannungen führte. Wie gesagt: Er war ein schwieriger und anspruchsvoller Lehrer. So war es für mich nicht möglich, die Schule fortzuführen – die Irritationen unter den Leuten wären zu groß gewesen, um »entwicklungsfördernd« wirksam agieren zu können. Zumindest habe ich das damals so gesehen.
Was bedeutete für euch der Johanneshof, das Zentrum der Lebenden Schule am Vierwaldstättersee bei Luzern, das ja »nur« knapp drei Jahre, von 1993 bis 1996, bestand? Hätte der Ort nicht einfach ein Sitz und Wohnort für Reshad bleiben können, so wie es Chisholme in Schottland für Bülent Rauf war?
Stefan: Der Johanneshof war für mich, wie schließlich auch die Lebende Schule, eine große Lehrstunde über die Vergänglichkeit. Die Weisheit der Unbeständigkeit, the wisdom of impermanency, war damals, wie eigentlich die ganze Zeit über, ein zentraler Punkt von Reshads Lehren. This Too Will Pass hieß ja auch ein Rap, den er zu jener Zeit komponiert und im Studio aufgenommen hat. Es gibt Beschreibungen über Gurdjieffs Zentrum im Prieuré in Fontainebleau, wo seine Schülerinnen und Schüler Heizungen ein- und ausbauen, im Park Gräben ziehen und wieder zuschütten mussten und so weiter. In vielerlei Hinsicht kam mir der Johanneshof durchaus so vor.
Auf einer anderen Ebene wurde von vielen Menschen sehr viel Hoffnung in den Johanneshof gesteckt und dort ist viel spirituelle Arbeit geleistet worden und viel persönliche Transformation geschehen. Im Nachhinein betrachtet war das Projekt in meinen Augen in manchen Aspekten aber auch ein Missverständnis: Es war in der Tat ein Versuch, Reshad einen Sitz anzubieten, und wir haben an eine physische Form gedacht, doch er hatte wohl eigentlich einen Sitz im Herzen der Menschen gemeint.
Der Johanneshof ging über das vorher Dagewesene hinaus. Reshad arbeitete mit einer anderen Art von Qualität, es herrschten eine ganz besondere Atmosphäre und Energie.
Garten des Johanneshofs, Kastanienbaum, Schweiz, 1996. Foto: Sigi Socher
Andererseits denke ich aber auch, dass der Johanneshof eine Art Höhepunkt von Reshads Lehrtätigkeit war, gerade auch im Vergleich dazu, wie es zuvor in den USA gelaufen war. Der Johanneshof ging über das vorher Dagewesene hinaus. Reshad arbeitete mit einer anderen Art von Qualität, es herrschten eine ganz besondere Atmosphäre und Energie. Und so entwickelte sich der Johanneshof zu einem großen Anziehungspunkt; deswegen erschien er anfangs als weniger temporär. Aber für Reshad wurde es dann zunehmend schwierig, mit dem umzugehen, was er in den Leuten erweckte. Sie wollten immer noch mehr und noch mehr vom selben. Und je mehr Menschen im Haus um ihn herum waren, desto schwieriger wurde es.
Es gab sowieso nur sehr wenige Leute, mit denen er sich im alltäglichen Kontakt wohlfühlte; und das waren vor allem solche, die nicht ständig etwas von ihm wollten. Wegen seiner enormen Sensibilität hatte er im Allgemeinen große Schwierigkeiten, mit all den Erwartungen und Forderungen, ja teilweise mit der Gier, umzugehen, womit viele Menschen ihm begegneten. Das ist gut nachvollziehbar, wenn man sich vorstellt, dass bei einem Menschen mit einer solchen Sensibilität alles praktisch sofort und eins zu eins ankommt. Damit umzugehen, ist nicht leicht, es braucht fast übermenschliche Fähigkeiten. Und natürlich gab es, wie immer in solchen Konstellationen, Schülerinnen und Schüler, die ihre Schüler-Lehrer-Beziehung mit einer persönlichen Beziehung verwechselten, wodurch zusätzliche Spannungen erzeugt wurden.
Dennoch waren damals viele Leute enttäuscht, dass es nicht gelang, einen festen Ort zu etablieren und Reshad für den Rest seines Lebens einen Sitz anzubieten, der seiner Bedeutung als großem Lehrer gerecht geworden wäre.
Als Wohnsitz wäre das im Johanneshof, wie gerade beschrieben, aus meiner Sicht nicht denkbar gewesen. Bei Bülent war es eine andere Situation; die Art und Weise, wie beide lehrten, unterschied sich ja auch sehr voneinander. Reshad stand in der Öffentlichkeit und hatte damit eine andere Rolle als Bülent, welcher vor allem im Hintergrund agierte. Reshad war der frontman, der mit seinem Charisma und seinen Beziehungen das Beshara [Studienzentrum] in England aufbauen und die Leute anziehen konnte, darunter auch sehr berühmte.
Als er dann 1973 von Bülent nach Kanada geschickt wurde, unter anderen mit dem Auftrag, »eine neue Sprache« zu finden, übergab ihm Reshad – gezwungenermaßen – von heute auf morgen das ganze Zentrum. Das war alles andere als leicht für Reshad. Aber Bülent hat in ihm dieses Potenzial gesehen, Menschen auf der Suche etwas Wichtiges geben zu können, und ihn quasi dazu gezwungen, in Kanada noch einmal von Neuem anzufangen.
Reshad war ein Entertainer, der quasi draußen an der Tür stand und die Menschen hereinholen, den Kontakt zu ihnen herstellen, sie von dort abholen konnte, wo sie sich befanden.
Reshad war ein Entertainer, der quasi draußen an der Tür stand und die Menschen hereinholen, den Kontakt zu ihnen herstellen, sie von dort abholen konnte, wo sie sich befanden. Er hätte sich, außer in seinen letzten Jahren, nie in einer Weise zurückziehen können, wie Bülent dies sein Leben lang getan hatte. In meinen Augen war Reshad eine Art »Kunstfigur«. Er hat, wie wir es auch von Gurdjieff und dem Vierten Weg kennen, an verschiedenen Orten unterschiedliche Rollen gespielt. Das, was man von ihm sah, wenn er auf irgendeiner Vortragsbühne saß, war etwas anderes, als das, was man sehen konnte, wenn man persönlich mit ihm unterwegs war. Das meine ich mit »Kunstfigur«: Wenn er auf einer Bühne war, stellte er etwas anderes dar, eine Kunstfigur – er ›spielte‹ eine Rolle, die er nicht spielte, sondern voll und ganz lebte –, von der andere etwas lernen konnten.
Was habt ihr gelernt, oder was habt ihr mitgenommen? Reshad schrieb: »Die spirituelle Lebensreise mag vielen Wegen folgen. Ein Suchender, der sich voller Entschlossenheit auf die Reise des Lebens macht, wird schließlich seine eigene Richtung finden.« Wie gestaltete sich eure Suche nach der Wahrheit – oder die Suche der Wahrheit in euch – in den letzten Jahren?
Regina: Für mich war es – auf irgendeiner Ebene – irgendwann klar, dass die Schule, die Organisation, die Gemeinschaft um Reshad ihren Abschluss gefunden hatten. Und ich musste tatsächlich irgendwie herausfinden, wie ich meinen eigenen Weg weitergehen sollte. Eine Gemeinschaft ist für mich etwas Essenzielles, also suchte ich nach einem Kontext, in dem es eine neue echte Gemeinschaft für mich geben könnte.
Es geht darum, dir selbst auf die Spur zu kommen, wie du funktionierst und wie du dein eigenes Leiden produzierst.
Und schließlich fand ich dann meinen Weg: Reshad hatte Stefan empfohlen, Vipassana [/] zu praktizieren, und als er eines Abends von solch einem Retreat nach Hause kam und davon erzählte, hat mich das sehr angesprochen und ich habe angefangen, mich intensiver damit zu beschäftigen. Eigentlich ist Vipassana nicht sehr verschieden von der Atemmeditation, die wir bei Reshad gelernt haben – das Zählen fällt weg –, und enthält dieselben Elementen der Beobachtung deines Atems und deiner aufsteigenden Empfindungen, während du dich – stundenlang – nach innen wendest. Es geht darum, dir selbst auf die Spur zu kommen, wie du funktionierst und wie du dein eigenes Leiden produzierst.
Stefan und ich haben uns damals gesagt, wir machen Vipassana zumindest so lange, bis wir wissen, wo es für uns langgehen soll – eine Art Transitzeit, »besser als nichts«, denn wir wissen, dass es für uns ohne eine spirituelle Praxis nicht geht.
So besuchten wir schließlich eines Tages einen Vortrag der buddhistischen Lehrerin Tsültrim Allione [/], der mich sehr berührt hat, Stefan eher weniger. Sie lehrt unter anderem eine Übung, in der es darum geht, »deine Dämonen zu nähren.« Etwa zwei Jahre später, als ich eine persönliche Krise durchmachte, habe ich mich wieder an diesen Vortrag erinnert und mit dieser Übung gearbeitet. Schließlich habe ich ein Seminar von Lama Tsültrim besucht, und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Mittlerweile bist du seit einigen Jahren bei Tsültrim Allione, bist deren Ansprechpartnerin für die deutschsprachige Schweiz und befindest dich auf der letzten Etappe deiner Ausbildung zur Meditationslehrerin. Was liegt dir dabei besonders am Herzen und inwieweit würdest du sagen, dass das bei Reshad Erlernte noch immer relevant für dich ist? Gilt für dich noch immer Bülents Aussage, dass alle, die jemals mit Reshad in Kontakt gekommen sind, diesen Teil von ihm auf immer lebendig in sich tragen? Spürst du das tatsächlich?
Regina: Ja, selbstverständlich. Ich war viele Jahre bei Reshad, und das, was ich in dieser Zeit gelernt und erfahren habe, ist natürlich nicht weg. Mein Leben findet ja jetzt nicht irgendwo anders statt und hat auch nicht neu angefangen. Das, was vorher war, ist nicht einfach verschwunden und mein Ausgangspunkt ist heute kein vollkommen anderer. Die Dinge weben sich ineinander.
Ich bin ja auch nicht so streng buddhistisch unterwegs und habe überhaupt nicht den Anspruch, dass die Leute, die zu mir in die Meditationen kommen, alles Buddhisten sein müssen. Die Meditation, die ich zum Beispiel regelmäßig an meinem Arbeitsplatz für Kolleginnen und Kollegen anbiete, heißt einfach »Aufmerksamkeitstraining« und in diesem Begriff ist für mich alles enthalten. Eigentlich ist sowieso in jeder echten Übung alles enthalten. Heute Morgen habe ich beispielsweise eine Atemmeditation angeleitet, die ja immer auch eine Präsenzübung ist, und habe zu einem bestimmten Zeitpunkt den Satz gesagt: »Wenn ihr merkt, dass euch irgendwelche Gedanken gefangen nehmen, dann kommt einfach wieder nach Hause.« Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass dies auch eine Referenz war auf Reshads Buch Unterwegs nach Hause. Zwischendurch gibt es immer wieder solche Erinnerungen, die manchmal höchst überraschend auftauchen, und in solchen Momenten fühle ich mich mit Reshad sehr verbunden.
Für mich ist es einfach eine ganz andere Qualität, in einem größeren Raum mit anderen Menschen zu meditieren oder einen Text zu studieren, als wenn ich das alleine tue. Für mich braucht es eine Lehrerin oder einen Lehrer, eine Lehre und eine Gemeinschaft. Und ebenso die Möglichkeit eines Retreats, sich zurückziehen zu können, sich bewusst Zeit zu nehmen, in der man sich nach innen wendet. Eine solche Praxis ist mir wichtig, die brauche ich; im Alltag ist man ja immer stark nach außen gerichtet.
Reshad hat immer wieder auf die Bedeutung hingewiesen, sich nicht von einer Religion gefangen nehmen zu lassen. Seine Inter- und Intrareligiosität zog sich wie ein roter Faden durch seine Lehren und sein Wirken.
Kürzlich haben wir mit der Schweizer Gruppe ein Einführungsseminar mit einer Lehrerin aus Deutschland veranstaltet. Einige aus unserer Gruppe waren früher bei Chögyam Trungpa [/]; in dem von ihm gegründeten Zentrum in Schottland hatte Reshad in den 1970er-Jahren meditiert. Die Atmosphäre war eine sehr aufmerksame, so wie wir es früher bei Reshads Veranstaltungen erlebt haben. Es brauchte nicht viel abgesprochen zu werden: Alle aus dem Begleitteam wussten zum Beispiel um die Bedeutung des Vorbereitens und des Haltens des Raumes und so weiter. Das hat mich sehr berührt, auch in solchen Momenten fühle ich mich Reshad nah, auch wenn ich vordergründig »woanders« bin.
Reshad hat immer wieder auf die Bedeutung hingewiesen, sich nicht von einer Religion gefangen nehmen zu lassen. Seine Inter- und Intrareligiosität zog sich wie ein roter Faden durch seine Lehren und sein Wirken. Er brachte seine Schülerinnen und Schüler nicht nur mit dem Buddhismus, der Tradition der nordamerikanischen Indianer oder dem Sufismus in Berührung, er vermittelte auch die Mystik des Christentums. Erlebt ihr diese Mehrsprachigkeit des Glaubens, diese Aufforderung, selbst ein Gefäß für Weisheit zu werden, auch in eurem buddhistischen Umfeld?
Reshad Feild und Regina Bommer
in Devon 2004. Foto: Archiv Chalice Verlag
Stefan: Ich habe viele buddhistische Lehrer gelesen und gehört. Und ich habe in der Zeit, als ich in einem Projekt aus dem Lassalle-Haus [/], dem spirituellen Begegnungszentrum in Bad Schönbrunn, mitarbeitete, einen recht jungen Informatiker kennengelernt, der nach seiner Begegnung mit dem tibetanischen Buddhismus eine neue Tiefe in sich gefunden hatte. Er hatte während einer Reise nach Asien einen Crash-Kurs, ich glaube, in Dharamsala, also bei den Tibetern, besucht. Als er zurückkam, war seine Präsenz eine völlig andere. Das war wirklich unglaublich. Seine ganze Einstellung hatte sich grundlegend verändert, auch wie er mit Konflikten umging. Und das aufgrund eines dreiwöchigen Kurses!
Aber ich muss auch ehrlich sagen, dass ich nicht weiß, ob diese Zwischenphase, von der Regina vorher als »Zeit des Transits« gesprochen hat, für mich bereits abgeschlossen ist. Für mich kristallisiert sich immer mehr heraus, dass ich einer bestimmten Art von buddhistischen Lehrern bis jetzt noch nicht begegnet bin.
Ich möchte nochmals darauf zurückkommen, was Regina über die gemeinsame Sprache gesagt hat. Ich bin in dieser Hinsicht sehr vorsichtig. Zum Teil scheinen sich aufgrund der gemeinsamen Arbeit mit Reshad bei vielen Leuten bestimmte Dinge als eine Art »gemeinsame Sprache« oder auch als »fixe Ideen« eingraviert zu haben. Bestimmte Dinge, wie Zusammenkünfte, die Organisation und Vorbereitung von Treffen etc. etc. müssen dann nach einem ganz bestimmten Modus ablaufen. Nach dem Motto: »So haben wir das doch immer gemacht. So haben wir das gelernt.« Das finde ich durchaus problematisch, wenn dieses Verhalten, diese Art des Sprechens dazu dient, die eigene Unwissenheit oder Unsicherheit zu kaschieren, also eine Form von Krücke darstellt. Dieser Haltung begegne ich recht häufig, wenn ich mich mit bestimmten Freunden aus dem ehemaligen Kreis um Reshad oder auch aus anderen spirituellen Kreisen treffe und mich mit ihnen austausche.
Es ist interessant, dass einige Leute, die Reshad kennenlernen durften, sich manche Dinge auf diese Art »eingedrillt« haben, wo er doch eigentlich immer dazu aufgefordert hat, die Menschen müssten ihre eigene Sprache finden. »Ihr werdet wie Idioten dastehen, wenn ihr euch nicht in eurer eigenen Sprache ausdrücken könnt, nachdem ihr zwanzig Jahre an einer lebenden Schule studiert habt«, hat er einmal gesagt.
Oder in Bezug auf das Studieren schrieb er: »Echtes Studium ist keine intellektuelle Phrasendrescherei. Studieren bedeutet, an sich selbst mit genügend Leidenschaft und Liebe zu arbeiten sowie mit einer bestimmten Art von bemerkenswerter Konzentration, die nicht intellektuell ist, und die verfeinerte Energie in deinem eigenen Dasein (das alchimistisch in Licht verwandelt wurde) auf eine Seite eines heiligen Dokuments anzuwenden, um die Essenz von dessen Lehren in deiner eigenen Sprache zu extrahieren. Und deine eigene Sprache ist deine eigene und nicht die irgendeines anderen Menschen. Denk stets daran.«
Ich suche nicht nach einer gemeinsamen Sprache, um mich innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen zu verständigen. Mein Interesse ist ein anderes: Ich suche nach einer universellen Sprache, nicht nach einer, die mich von anderen abgrenzt.
Stefan: Genau. Und tatsächlich suche ich nicht nach einer gemeinsamen Sprache, um mich innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen zu verständigen. Mein Interesse ist ein anderes: Ich suche nach einer universellen Sprache, nicht nach einer, die mich von anderen abgrenzt. Ich denke, dass es Phasen geben kann, wo es eine gemeinsame Sprache braucht; nachher muss man sich aber darum kümmern, dass man den Absprung schafft und nicht versucht, so zu reden wie in den erleuchteten Bücher, die man gelesen hat. Wie in diesem Zitat von Reshad erwähnt, muss es darum gehen, die Essenz der Lehren zu extrahieren. Für mich bedeutet das, an den Ort zu kommen, an dem ich mich nicht mehr an einem Konzept orientiere, sondern wirklich aus dem Moment heraus und aus den Erfahrungen dieses Augenblicks heraus spreche. Diesen Sprung gilt es zu schaffen, und er scheint mir ein recht schwierig zu sein.
Kannst du uns vielleicht ein Beispiel nennen, wo du diesen Sprung gemacht hast? Nachdem du dich auf verschiedensten Ebenen in den unterschiedlichsten Funktionen um Kinder und Jugendliche gekümmert hast, bist du seit letztem Jahr im Ruhestand. Das heißt in deinem Fall: Du »arbeitest« als Großvater, machtest eine Ausbildung als Sterbebegleiter, betreust noch immer sporadisch Kinder aus dem Kinderhaus, das du geleitet hast, gehst mit ihnen auf Gruppenausflüge, koordinierst ein Projekt, das Esswarenlieferungen an Geflüchtete organisiert, und übersetzt Lama Tsültrim Allione, wenn sie in Zürich Vorträge hält. Genügend Möglichkeiten, möchte man meinen, das Gelernte im Alltag anzuwenden.
Stefan: Mir fällt da sofort die Arbeit als Leiter des Kinderhauses Thalwil ein, die mir auch aus diesem erwähnten Grund so überaus wichtig war. Ich wollte in einem Umfeld arbeiten mit Leuten ohne Bezug zum Johanneshof oder zu Reshad, mit Menschen, die keine spirituelle Schulung oder wenn, dann eine andere, durchgemacht hatten, sozusagen also mit ganz normalen Sozialpädagogen schauen, ob es da etwas Hilfreiches gibt, was ich mitbringe, etwas Tieferes, was ich dem Haus, den Menschen darin und darum herum vielleicht anbieten kann.
Und das klappte tatsächlich; es gab wirklich Menschen, die in unser Kinderheim kamen und fragten: »Was ist hier so speziell? In diesem Haus ist irgendetwas, was es von anderen Heimen unterscheidet.« Es passierten wirklich gute, erstaunliche Dinge. Es gab Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die anfingen, Atemübungen zu erlernen, und die sich wie auch immer irgendwie »auf den Weg machten«; zwei oder drei absolvierten eine Yogaausbildung… Es entstand eine gewisse Stimmung oder ein Bedürfnis, den Dingen nachzuspüren, sie zu erforschen. Es war nicht so, dass sie mit neuen Fragen zu mir kamen, sondern einige fingen einfach von selbst an, den Dingen nachzugehen, von denen sie den Eindruck hatten, dass es sie im Moment gerade brauchte.
Als du noch als Heimleiter in Zürich gearbeitet hast, gabst du in einem Zeitungsinterview auf die Frage, wie ihr die Veränderungen (weniger Gewaltvorfälle unter den Jugendlichen, weniger ausufernde Konflikte zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander und zwischen ihnen und den Pädagogen) erreicht habt, folgende Antwort: »Wir müssen die Kinder und die Last, die sie zu tragen haben, respektieren – das kommt vor ihrem Respekt vor uns.«
Seine Last kann jemand nur loslassen, wenn er merkt, dass da gegenüber jemand oder vielleicht etwas ist, der oder das versteht, was hinter dieser Last steckt. Sonst ist er nicht bereit, sie loszulassen.
Stefan: Damit meine ich das, was Menschen, die dir begegnen, dir in bestimmten Situationen zeigen: ihre Last, ihr Leiden, das, was ihnen unangenehm ist; das müssen nicht unbedingt Aggressionen sein. Diesen Dingen entsprechend der dahintersteckenden Not zu begegnen, ist eine besondere Herausforderung. Du musst dich fragen, was dahintersteckt, was da am Leiden ist. Es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen. Es gibt den Ansatz zu sagen: »Gib mir deine Last.« Aber so einfach ist es nicht. Die Last loslassen zu wollen, ist immer eine individuelle Entscheidung. Seine Last kann jemand nur loslassen, wenn er merkt, dass da gegenüber jemand oder vielleicht etwas ist, der oder das versteht, was hinter dieser Last steckt. Sonst ist er nicht bereit, sie loszulassen.
Auch Lautwerden kann, manchmal, eine Form des Mitgefühls für diese Last sein: Wir haben das ja auch im Johanneshof ab und zu erlebt; Reshad konnte sehr heftig werden. Aber er hatte die große Fähigkeit, von ganz verschiedenen inneren Orten her zuzuhören und dann das zu tun oder zu sagen, was in genau dem Augenblick gebraucht wurde. Und so kann es auch Situationen geben, in denen ein Lautwerden eine Art von Mitgefühl ist. Ein Ausdruck des Mitgefühls, der in diesem Moment hilft, eine Blockade zu lösen. Allerdings ist die Anwendung dieser Idee sehr heikel und braucht Wissen und Bedacht.
In seinem Buch Schritte in die Freiheit fordert uns Reshad dazu auf: »Lernt, euch jeder Person so zuzuwenden wie dem heiligsten Wesen auf der Erde, jedem Augenblick wie dem heiligsten Augenblick, der uns je geschenkt wurde.« Um etwas »heil« zu machen, kann es also mitunter auch Sinn machen, jemanden oder eine Gruppe lautstark zu kritisieren?
Wenn echtes Vertrauen herrscht, können wir davon ausgehen, dass das, was vom Lehrer kommt, aus dem stammt, von dem auch wir ein Teil sind. Wir sind alle auf dem Weg, Lehrer wie Schüler.
Stefan: Es geht darum, dem Lehrer zu vertrauen. Wenn echtes Vertrauen herrscht, können wir davon ausgehen, dass das, was vom Lehrer kommt, aus dem stammt, von dem auch wir ein Teil sind. Wir sind alle auf dem Weg, Lehrer wie Schüler. Uns dessen im Alltag bewusst zu werden, gelingt mal besser, mal schlechter.
Hilft die Mehrsprachigkeit, die universale Sprache, die wesentlichen Dinge herauszuhören und zu benennen?
Regina: Du musst deine eigene Sprache finden. Und du musst mit dir in Kontakt sein, mit dem Augenblick. Das ist eine räumlich-körperliche Erfahrung von Dasein, worin sich eine Wahrnehmung spiegelt, für die ich meine eigenen Worte finden muss. Sonst ist es nicht echt.
Stefan: Wenn du die universelle Sprache – das bedeutet das Sprechen, das aus mehr als aus Worten besteht, das Bedeutung hat und transportiert, das aus dem Herzen kommt und lebendig ist – finden willst, musst du verstehen, dass es eigentlich keine Sprache ist. Es ist die Fähigkeit, aus der Situation heraus unter Berücksichtigung der konkret Beteiligten zu sprechen, zu wissen, wem man etwas sagen will, und zu spüren, woher man redet. Es geht eigentlich um das, was hinter der Sprache ist. Und das hat uns Reshad gezeigt.
Reshad selbst studierte nicht nur den Islam und das Christentum. In seinen jungen Jahren verbrachte er auch viel Zeit im buddhistischen Zentrum Samyé Ling in Schottland bei Akong Rinpoche, wo er wohl ein großes Erleuchtungserlebnis hatte. »Dort sang die ganze Luft den Klang der Transformation, des Lobpreises und eines kontinuierlichen Musters des Lernens«, schrieb er. »Zu jener Zeit war das für mich wie das Wasser eines Flusses, der von unter dem Wintereis hervorbricht, ganz gletscherblau und frisch und begierig danach, zum Ozean zurückzukehren.«
Stefan: Ich habe Reshad immer so erlebt, dass seine Spiritualität über einen religiösen Kontext hinausging. So hat er uns am Anfang immer wieder gesagt, wir müssen alle Religionen studieren, alle kennen und in allen den mystischen Weg suchen. Und er hat uns dabei geholfen; er hat aus allen Religionen Versatzstücke genommen, um uns zu unterrichten. Eine Zeitlang haben wir sogar die Zeremonien aus den verschiedenen Religionen praktiziert und uns intensiv mit ihnen beschäftigt.
Das ist etwas, was ich anderenorts immer wieder vermisse. In Gesprächen mit Buddhisten zum Beispiel habe ich gemerkt, dass einiges von dem, was sie über das Christentum sagen, falsch ist und dass viele tatsächlich keine Ahnung von der christlichen Mystik haben. Meiner Meinung nach zeugt auch vieles von dem, was sie über den Islam erzählen, von Unwissen.
Insofern bin ich unterm Strich von einigem, dem ich in der heutigen Praxis des Buddhismus begegnet bin, enttäuscht. Auch habe ich das Gefühl, dass die Methoden und Übungen, die ich dort bis heute gelernt habe, mir persönlich nicht so hilfreich scheinen.
Ich praktiziere nach wie vor gewisse Übungen aus dem Buddhismus, aber ich bin auch wieder zurückgekehrt zu den Grundübungen, die uns Reshad gelehrt hat.
»Der Weg zur Wahrheit ist recht steil und beschwerlich – und bisweilen geht es auch bergab«, schreibt Reshad in Leben, um zu heilen: »Je weiter wir in unserer Transformationsarbeit fortschreiten, desto wichtiger werden die Übungen, die uns gegeben wurden. Sie helfen uns, das notwendige Zusammenspiel und Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Welten herzustellen, und dies – in Verbindung mit einer klaren Absicht – versetzt uns in die Lage, unsere Reise ungefährdet fortzusetzen.« Welche Bedeutung haben Übungen in eurer heutigen Praxis?
Stefan: Ich praktiziere nach wie vor gewisse Übungen aus dem Buddhismus, aber ich bin auch wieder zurückgekehrt zu den Grundübungen, die uns Reshad gelehrt hat. Und zwischendrin lese ich auch noch Texte von Reshad. Für mich ist immer noch klar: Reshad war mein Lehrer und ist noch immer mein Lehrer.
Ich bin überzeugt, dass ich eine gewisse Art von Praxis brauche, in die ich mich vertiefen kann. Zurzeit bin ich aber, wie gesagt, mit den Übungen aus dem tibetischen Buddhismus, nicht so zufrieden, weil ich kaum Veränderung in meinem Alltag, in meinem Umgang mit mir, den anderen und der Welt spüre. Auch wenn mich die eine oder andere Übung irgendwann mal umgehauen, mich aus dem Konzept gebracht hat, ist mir darin für mich selbst zu vieles, wovon ich wenig verstehe, was mich kaum berührt.
Nach wie vor bin ich mir nicht sicher, ob ich heute noch einen Lehrer suche. Wenn es passiert, dann passiert es halt. Was ich aber weiß, ist, dass ich mich wieder verstärkt darauf besinnen muss, wie ich die Sache eigentlich ganz persönlich sehe. Und da erkenne ich deutlich: Was ich brauche ist Praxis, Praxis und nochmal Praxis – und zwar eine bestimmte, die ich kontinuierlich mache. Im Endeffekt kommt es wahrscheinlich nicht so sehr darauf an, welche Übung es ist; aber es macht keinen Sinn, die Übungsanlage dauernd zu verändern, mal dies, mal das. Es gibt eine Phase, in der dies sinnvoll sein kann – die gab es für mich anfangs auch – aber grundsätzlich halte ich persönlich eine bestimmte konzentrierte und bewusste Kontinuität für hilfreich.
Laut Reshad (Schritte in die Freiheit): »ist jeder Augenblick anders, da Gott Sich nie zweimal in einem Augenblick ausdrückt. In jedem Augenblick findet eine immerwährende Neuschöpfung statt.« Kann es sein, dass Reshad mit diesen unterschiedlichen »Phasen« seine Schülerinnen und Schüler genau hierauf vorbereiten wollte?
Letztendlich ging es Reshad sicherlich darum, dass er seinen Schülern dabei helfen wollte, jeden Moment zu schätzen und ganz und gar da zu sein.
Stefan: Wir können natürlich nicht in Reshads Kopf hineinschauen, aber ich denke, letztendlich ging es ihm sicherlich darum, dass er seinen Schülern dabei helfen wollte, jeden Moment zu schätzen und ganz und gar da zu sein. Wie häufig sind wir doch irritiert oder erstaunt darüber, dass etwas nicht so läuft, wie wir es möchten, wie wir meinen, es sollte laufen, sondern reagieren mit Ärger oder Rückzug und handeln aus diesen »Mauern« heraus? So zielte er in seiner »Didaktik« eine Zeitlang darauf ab, alles miteinander zu verbinden, aufs Letzte ausgerichtet zu sein, und dann gab es die Phase, wo man vor allem Rumi studierte in Verbindung mit den Namen Gottes, das heißt, wo er sich stärker auf die Eigenschaften Gottes fokussierte, was wieder eine andere Ebene ist – eine Ausdrucksform des Absoluten, dessen, was dahinter liegt.
In meinen Augen hat Reshad die Thematik ständig gewechselt, in einem ganz bestimmten Rhythmus, wobei ich aber nicht sagen kann, was der zugrundeliegende Takt war. Wahrscheinlich hing es mit seinem Empfinden zusammen, mit seiner bereits erwähnten großen Sensibilität dafür, an welchem Punkt die Leute gerade standen, wo die Energie war – dementsprechend richtete er sich aus.
Stefan Bommer und Reshad Feild
an einem Vortrag 1991. Foto: Archiv Chalice Verlag
Im Buddhismus ist Mitgefühl ein stark artikuliertes Element. Hat es für euch einen anderen Akzent, als das, was Reshad über Mitgefühl sagte? Zum Beispiel erklärte er am letzten Abend im Johanneshof, dass es essentiell sei, die Bedeutung von Mitgefühl zu erkennen, weil dadurch jedwedes Urteilen verschwindet. Und erst das würde es ermöglichen, aufrecht zu stehen und sich voreinander verbeugen zu können.
Regina: Der Buddhismus hat eine spezielle Art, dies zu beschreiben: Mitgefühl ist immer mit Leerheit verbunden. Beide gehören stets zusammen. Es geht darum, nicht identifiziert zu sein. Man soll einerseits die Leerheit von inhärenter Existenz verstehen und andererseits Mitgefühl mit allen Wesen entwickeln. Mitgefühl ist nicht möglich ohne ein Gegenüber. Es gibt also eine Abhängigkeit zwischen Mitfühlendem und »Mitgefühltem«, eine Beziehung. Gleichzeitig muss ich um die Leerheit wissen; Leerheit, die auch ein Ausdruck der Möglichkeiten ist. Das große Mitgefühl ist nicht verstrickt mit dem »Ich« oder »Du«.
Stefan: Zur Frage, wie man Mitgefühl üben kann, gibt es im Buddhismus eine Aussage, die auf Dasselbe hinweist, was auch Reshad mit diesen Worten gemeint hat. Die Buddhisten sagen: Betrachte alle anderen Wesen als deine Mutter. Für mich drückt sich darin das aus, was Reshad auch so beschrieben hat, wenn er uns für den Empfang von Gästen vorbereitete: »Schau, wer da durch die Tür kommt – das bist du!« Und daraus wird auch klar, was die Anforderung ist: Du musst mit dir im Reinen sein, um den anderen nicht als getrennt von dir zu betrachten. Das, was dir in der Vielfalt begegnet, ist immer ein Teil von dir und du kannst das nur erkennen, wenn du dir der unverbrüchlichen Verbindung allen Lebens bewusst bist.
»Wann begreift ihr endlich, dass nicht ihr durchs Leben geht, sondern das Leben durch euch?«
Ist das nicht dasselbe, wie wenn Reshad fragt: »Wie lange braucht ihr eigentlich noch, bis ihr den Gedanken aufgebt, dass ihr der Mikrokosmos seid? Ihr seid der Makrokosmos!« Und dann fügte er noch hinzu: »Eines Tages wird dieser Gedanke euch aufgeben.«
Stefan: Ja, das ist genau dasselbe. Und einmal hat Reshad in diesem Zusammenhang auch folgende Frage gestellt: »Wann begreift ihr endlich, dass nicht ihr durchs Leben geht, sondern das Leben durch euch?«
Nicht wahr, manchmal braucht es zehn Jahre oder noch viel länger, bis man einen Satz, den man von seinem Lehrer gehört hat und schon längst auswendig kennt, plötzlich versteht und er einen wirklich berührt… Ein langer Weg. Wir danken euch, Stefan und Regina, für dieses interessante Gespräch und das gemeinsame Erinnern an Reshad.
© Stefan Bommer / Regina Bommer / Chalice Verlag 2020
Stefan A. Bommer
arbeitete nach seinem Studium der Psychologie, der Psychopathologie, der Soziologie und der Philosophie unter anderem als Jugendarbeiter, Psychotherapeut, Marketingforscher, Aids-Hospizmitarbeiter, Vorstand einer e-Learning-Firma und Institutionsleiter an Heimen für fremdplatzierte Kinder und Jugendliche. Er ist Marte Meo Licensed Supervisor sowie Trainer für NVR/Neue Autorität und arbeitet heute freiberuflich als Berater und Coach. Er studierte viele Jahre bei und mit Reshad Feild, war zeitweise sein Übersetzer und persönlicher Assistent sowie Mitarbeiter im Leitungsteam des Johanneshofs im schweizerischen Kastanienbaum, dem europäischen Zentrum von Reshad Feilds »Lebender Schule«, für die er auch mehrere Jahre als Studiendirektor verantwortlich war.
Regina Bommer
verdient ihr Geld als kaufmännische Angestellte und ist innerlich und äußerlich unterwegs, seit sie denken kann. Ihre Reisen führten sie zu vielen spirituellen Schulen; diejenige von Reshad Feild prägte sie am tiefsten und nachhaltigsten – sie verbrachte fast zwanzig Jahre dort. Seit 2012 ist sie Schülerin der amerikanischen buddhistischen Lehrerin Lama Tsültrim Allione, seit 2019 ist sie verantwortlich für deren Schweizer Gruppe und Apprentice Teacher. Daneben leitet sie seit zwei Jahren eine tägliche Meditationsgruppe an ihrer Arbeitsstelle.