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Cynthia Bourgeault

Bewusstes Altern ist eine Geisteshaltung

Cynthia Bourgeault: Altwerden als Geisteshaltug

Bild: Adobe Stock / Chalice Verlag

Der Prozess des Älterwerdens wird in unserer Kultur immer mehr unter reinen Gesundheitsaspekten problematisiert; entsprechend besorgt schauen die meisten Menschen dem Spätherbst ihres Lebens entgegen. In ihrem neuen Buch zu diesem Thema zeigt die Theologin und Weisheitslehrerin Cynthia Bourgeault, wie wir auf Basis bewusster Entscheidung, vertrauensvollem Jasagen, aufrichtiger Selbstgewahrwerdung und Verantwortungsübernahme für unseren Geisteszustand die »aufsteigende Daseinskurve« unseres Lebens schwungvoll zu nehmen vermögen. Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus einer ihrer zwölf Lektionen über bewusstes Altern

ie zehnte Leitlinie für bewusstes Altern, der wir uns in dieser Lektion unseres Kurses widmen wollen, möchte ich folgendermaßen formulieren:

Für alle und jeden unserer Lebensabschnitte gilt: »Der einzige Ausweg führt hindurch!« Ehrlichkeit, Offenheit und ein sanftes Akzeptieren (manche sagen auch »Hin­gabe«) schaffen eine spirituelle Geschmeidigkeit: das wahre Kennzeichen von Seinskraft. Beharren, klammern­des Festhalten, verengende Anspannung und Hals­starrig­keit führen zu geistiger Verkalkung: dem untrüglichen Zeichen des Altwerdens, egal in welcher Lebens­phase wir uns befinden.

Cynthia Bourgeault: Richtig alt werden

Altern, so sagt man, ist eine Einstellung oder Geisteshaltung. Dies war auch der rote Faden in diesem Online-Kurs, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. »Altern ist eine Frage der Einstellung« wird in der Regel verstanden als eine leise Erinnerung daran, dass wir doch »im Her­zen jung« bleiben. Oft wird sie verbunden mit der Bin­senweisheit: »Du bist so jung, wie du dich fühlst.« Dieser Gemeinplatz soll uns ermutigen, so lange wie möglich mitzuspielen, uns auf alles einzulassen und vor Lebendigkeit nur so zu sprühen. In unserer auf Jugendlichkeit ausgerichteten Kultur ist dies noch immer der Goldstandard für gelungenes Altwerden.

Unsere Geistesverfasstheit sollten wir wichtiger nehmen als das endlose Wiederkäuen unserer Selbst­erzählung.

Aus der Perspektive der spirituellen Evolution betrachtet (also aus der Sicht, aus der ich hier an die Sache herangehe), nimmt dieses vertraute Klischee jedoch eine gänzlich neue Bedeutung an: Bewusstes Altern ist durchaus eine Haltung des Geistes, doch die in Kreisen der bewussten Evolution am höchsten geschätzte Einstellung ist nicht »Jugendlichkeit«, sondern Geräumigkeit, Weite. Die besten modernen Acht­samkeitsübungen und die besten traditionellen Kontempla­tions­praktiken stimmen darin überein, dass ein »spirituell reifer« Geist eine unverwechselbare innere Konfiguration aufweist – er ist abgerundet, offen, nicht reaktiv – im Gegen­satz zu einem sich ständig windenden, sich quälenden und »verbogenen« Geist als Resultat der eigenen Reaktivität und des persönlichen Dramas.

Im bewussten Altwerden in seiner spirituell reifsten Form versuchen wir nicht länger, neue Selbstbilder zu finden, von denen wir »zehren«, oder negative Einstellungen und Emotionen durch positive zu ersetzen; es ist vielmehr ein schrittweiser Lernprozess, wie wir gänzlich jenseits emotionaler Dramen leben und unsere Geistesverfasstheit wichtiger nehmen als das endlose Wiederkäuen unserer Selbst­erzählung.

»Versuche, einen Geist zu entwickeln, der sich an nichts klammert.«

Diese furchteinflößende spirituelle Wahrheit bringen die Buddhisten auf die Formel: »Versuche, einen Geist zu entwickeln, der sich an nichts klammert.« Wenn wir uns nämlich an irgendetwas klammern – an ein Ereignis, ein Selbstbild, eine Erinnerung, irgendwelche Umstände, eine Bindung, eine Identifikation –, verklemmt sich unser Geist mit dem außer­halb liegenden Objekt unserer Glückseligkeit oder dem Ziel, das wir erreichen wollen.

Haben wir jedoch gelernt, in geräumigem innerem Gleichmut zu leben – offen, empfänglich, aufmerksam und ohne zu urteilen –, dann werden wir fähig, neugierig und widerstandslos in den Fluss zu kommen, mit was auch immer sich entfaltet, und damit in Beziehung zu treten. Aus dieser Konfiguration des Geistes entspringt wahre Zufriedenheit – nicht aus dem Erreichen eines Ziels, das wir ins Außen projizieren.

Geistige Verkalkung ist nicht bloß eine Folge des fortgeschrittenen Alters; sie wird viel früher in unserem Leben gesät.

Zwar wird diese Qualität geistiger Geschmeidigkeit üblicherweise mit Begriffen im Kontext von Einstellungen und Werten beschrieben – Ergebnisoffenheit, Akzeptanz, An­fänger­geist, Neugier, Flexibilität –, doch weist sie ebenso eine starke neurologische Komponente auf, die mittels fMRT oder funktioneller Magnetresonanztomographie des Gehirns gemessen werden kann.

Ein geschmeidiger Geist ist ein wachsender Geist mit der Fähigkeit, als Reaktion auf neue Impulse sich zu verändern und neu zu konfigurieren. Ein Geist, der verbissen auf etwas beharrt, sich an etwas klammert und dauernd etwas kontrollieren muss, ist ein starrer, verklemmter, bewegungsloser Geist – und dies ist nicht nur emotional ersichtlich, sondern auch physiologisch messbar. Er ist ein spröderer, in starren Bahnen funktionierender Geist, der weniger vermag, sich auf die immer fließende Dynamik der Wirklichkeit einzustimmen. Und geistige Verkalkung ist nicht bloß eine Folge des fortgeschrittenen Alters; sie wird viel früher in unserem Leben gesät.

Unsere wahre innere Entwicklung hängt von einem Vermögen ab, das man »Hingabe«, »Demut« oder »Sich-Beugen« nennen kann, eine Befähigung, welche die meisten von uns erst einmal erlernen müssen.

Wie wir in diesem Kurs bereits entfaltet haben, setzen wir in unseren jüngeren Tagen in der Regel stark auf unsere Bios (unsere physische Lebenskraft und Vitalität), um unserem Selbstbild Geltung zu verschaffen und die Welt gemäß unseren Träumen und Zielen zurechtzubiegen. Fälsch­licherweise meinen wir, genau darin liege unsere »Wirk­macht« oder »Selbstwirksamkeit«, in Tat und Wahrheit ist es aber auch der Ausgangspunkt auf eine zweifelhafte und gefährliche Piste zur inneren Verkalkung.

Die spirituellen Tra­di­tionen rufen uns unisono ins Gedächtnis, dass unsere wahre innere Entwicklung von einem Vermögen abhängt, das man »Hingabe«, »Demut« oder »Sich-Beugen« nennen kann, eine Befähigung, welche die meisten von uns erst einmal erlernen müssen, da sie unseren instinktiven Neigungen diametral entgegengesetzt ist. Für uns hat diese Fähigkeit eher einen Beigeschmack von Schwäche oder Kapitulation, und wir vermeiden sie, solange wir unser Wirken auf die uns vertrautere Art und Weise ausüben können.

Die wahren Mystiker und Mystikerinnen wussten indes schon immer, dass es andersherum funktioniert: Diese Eigenschaft ist alles andere als ein Zeichen von Schwäche, vielmehr ist sie der wahre »Jungbrunnen«, weil sie uns hier und jetzt mit dem größeren Leben, mit Zoe (der subtileren geistigen Lebensenergie), und den feinstofflichen Schmier­mitteln des »Kesdschan«-Körpers [1] verbindet, die durch dieses Leben fließen und uns aus Welten nähren, die subtiler und belebter sind als die unsrige.

Der Prozess des Alterns bringt – neben großen Heraus­forderungen – eine echte evolutionäre Möglichkeit mit sich.

Der Prozess des Alterns bringt – neben großen Heraus­forderungen – eine echte evolutionäre Möglichkeit mit sich, welche darin besteht, dass er uns stetig und unaufhaltsam von all unserer äußeren Wirkmacht entkleidet – Persönlichkeit, Selbstbild und körperlicher Kraft. Was letzten Endes bleibt, ist die Seinskraft, die uns aus dieser größeren Quelle des Lebens durchströmt und sich im Akt der Hingabe (der wortwörtlichen »Selbsthingabe«) kontinuierlich erneuert zu dem, was jenseits unserer kühnsten, begrenzten Vorstellungskraft liegt.

Ein Geist, der gelernt hat, in bedingungsloser Präsenz und völliger Unabhängigkeit von dem, was um uns herumwirbelt, seine »Gestalt« zu wahren.

Ja, Altern ist tatsächlich eine Geisteshaltung. Und mit einem Geist, der gelernt hat, in bedingungsloser Präsenz und völliger Unabhängigkeit von dem, was um uns herumwirbelt, seine »Gestalt« zu wahren, bleiben wir mit dieser Quelle verbunden, selbst wenn wir uns auf der »absteigenden Daseinskurve« befinden, auf der wir zu guter Letzt all jene anderen, belangloseren Merkmale unserer Handlungsfähig­keit verlieren werden. Das Licht dieser Verbindung wird durch uns hindurchscheinen und uns schon in diesem Leben den Mantel wahren »Ältestentums« verleihen und uns für alle Welten, die jenseits von dieser liegen mögen, mit einem bereits gut ausgebildeten Vermögen zum Unendlichen wappnen.

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2025
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

Durch Klicken auf die Ordnungszahlen können Sie zwischen Haupttext und Fußnote hin- und herspringen.

[1] Die Idee eines feinstofflich verkörperten Lebens, das innerhalb der äußeren Form unseres Lebens heranwächst, ist in der westlichen inneren Tradition durchaus nicht unbekannt. Es wird manchmal »zweiter Körper« genannt oder auch »innerer Mensch« (so bei Ladislaus Boros), »Auferstehungskörper« (beim heiligen Paulus), »Kesdschan-Körper« (bei G.I. Gurdjieff) oder »Hochzeitsgewand« (in den Evangelien). Dieses Hoch­zeitsgewand zu weben, ist unsere Aufgabe hier auf Erden, sodass wir damit schließlich unseren Platz beim himmlischen Hochzeitsmahl einnehmen können. Wie auch immer man dieses Bild interpretieren mag, für mich bedeutet es eine fortdauernde bewusste Teilhabe am Leben, wenn auch in einer weitaus subtileren Form. Die meisten christlichen Lehre­rinnen und Lehrer der inneren Tradition behaupten, dies sei die wahre Bedeutung des Begriffs »zweite Geburt«.