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Ilia Delio
Von der Neigung der Materie hin zum Geist
Quelle: Adobe Stock / Pexels / Chalice Verlag; erstellt mittels KI-unterstützter Handarbeit
Machen wir eine falsche Trennung zwischen Intelligenz und Natur? Für die Theologin und Neurowissenschaftlerin Ilia Delio ist Religion ebenso ein Ausdruck der Evolution wie das menschliche Bewusstsein. Daher sollten wir den atemberaubenden Entwicklungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz zwar kritisch, aber nicht ängstlich begegnen. Was KI braucht, um uns nicht in eine transhumanistische Dystopie zu katapultieren, ist die Verbindung mit einer neu zu konstruierenden »Religion der Erde«, die einer sich rasant entwickelnden und komplexer werdenden Welt wahre Bedeutung zu verleihen vermag. Ausschnitte aus ihrem anregenden Buch zu diesem brennenden Thema unserer Zeit
Ausschnitte aus dem Buch Künstliche Intelligenz braucht Religion: Für eine Wiederverzauberung der Welt von Ilia Delio
m Jahr 2019 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht zur Biodiversität, aus dem hervorgeht, dass das Artensterben derzeit »mindestens zehn- bis einhundertmal schneller als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre« vonstattengeht und aufgrund dessen eine schwere Bedrohung der Ökosysteme auf der ganzen Welt darstellt.[1] Mit diesem unauslöschlichen, toxischen menschlichen Fußabdruck auf den natürlichen Ressourcen der Erde haben wir wahrhaftig das Anthropozän betreten. Nach der Überzeugung vieler Umweltwissenschaftler nähern wir uns einer Krise.[2] Eine Krise ist definiert als eine sich rasant verschlimmernde Situation, die ohne gezielte Abhilfemaßnahmen verheerende Folgen nach sich zieht. Doch wir Menschen ändern, auch wenn wir diese unmittelbar drohenden Katastrophen zur Kenntnis nehmen, weder unseren Lebensstil noch verringern wir unsere Produktionsraten.
Tatsächlich stehen wir schon seit mehr als fünfzig Jahren am Abgrund zum Desaster. Bereits im Jahr 1962 warnte die US-amerikanische Zoologin und Biologin Rachel Carson [/] in ihrem Buch Silent Spring [3] die Welt vor den Folgen der Giftigkeit von Pestiziden und stieß damit die Umweltbewegung an. Nichtsdestotrotz stiegen Klimaerwärmung, Artensterben, Verschmutzung der Ozeane und Verunreinigung des Trinkwassers weltweit ungebremst an. Dieser Zusammenbruch hat seinen Ursprung in einem Komplex von Faktoren, zu denen die Industrialisierung, die Technologie, der Konsumismus, der Kapitalismus, der radikale Individualismus und die religiöse Weltfremdheit zählen. Wir können uns nicht damit herausreden, dass wir die drohenden Gefahren nicht kennen würden. Während sich die Krise immer weiter verschlimmert, haben wir mehr Informationen über die vor sich gehenden Veränderungen als jemals zuvor; zeitnah und effzient werden sie uns auf unsere Computer und Mobiltelefone geliefert. Irgendetwas stimmt nicht.
Ausschnitte aus dem Buch Künstliche Intelligenz braucht Religion: Für eine Wiederverzauberung der Welt von Ilia Delio
Was hat die Umweltproblematik mit künstlicher Intelligenz (KI) zu tun? Besteht ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Ökologie und Technologie; stehen sie im Kampf um menschliche Aufmerksamkeit in Konkurrenz zueinander? Machen wir eine falsche Trennung zwischen Intelligenz und Natur? Um solche Fragen geht es im Kern meines Buches, aber sie können weder allein unter ökologischen noch unter rein technologischen Aspekten adressiert werden. Wie der Mediävist und Wissenschaftshistoriker Lynn Townsend White 1967 schrieb, ist das grundlegende Problem im Wesentlichen ein religiöses.[4] Zum Verständnis der Gründe, weshalb Ökologie und Technologie eine gemeinsame Wurzel in der Religion besitzen sollten, müssen wir der Frage der Intelligenz in der Natur nachgehen wie auch der Frage der Evolution der intelligenzbegabten Natur in Beziehung zu Gott. [Seiten 13–14]
Pierre Teilhard de Chardin [/]. Quelle: Wikimedia Commons
Religion hat eine kosmische Funktion
Auch der jesuitische Naturwissenschaftler und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) [siehe den Artikel von Cynthia Bourgeault über Teilhards Gottesverständnis im Chalice Magazin] erkannte die integrale Beziehung zwischen Geist [mind] und Materie und ihre Offenheit für größere Komplexität und Bewusstsein. Bewusstsein, Komplexität und Bewegung sind wesentliche Eigenschaften der biologischen Evolution, genauso wie Raum, Zeit und Volumen wesentliche Eigenschaften des Universums sind. Es besteht eine niemals nachlassende Offenheit in Richtung biologischem und kosmischem Leben, die sich aus der Materialität allein nicht richtig erklärt und deren Gerichtetsein selbst eine »Geistwerdung« oder ein Energieüberfluss ist, eine innere Neigung der Materie hin zum Geist [spirit]. Teilhard verstand diesen Energieüberfluss der Materie als die religiöse Dimension der Evolution. Er schreibt: »Es gibt nur eine wirkliche Evolution, die Evolution der Konvergenz, weil sie die einzige positive und schöpferische ist.«[5]
Die Offenheit der Materie hin zum Geist und die Neigung der Natur zur Komplexifizierung auf höhere Stufen der Vereinigung ließen Teilhard postulieren, dass Religion und Evolution in Einklang verlaufen. Das Wort »Religion« wird hier nicht im Sinne formaler Glaubensinhalte oder Rituale gebraucht, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung von »Bindung«. Die Natur besitzt eine innere Orientierung in Richtung Ganzheit und gleicht einem Horizont komplexer werdender Ganzheit, aus dessen Richtung sich eine zukünftige letzte Ganzheit erahnen lässt. Die Präsenz von Geist in der Materie und die Offenheit der Materie für größere Ganzheit ist das religiöse Phänomen der Natur. Teilhard schreibt: »Meines Erachtens ist das in seiner Ganzheit begriffene religiöse Phänomen nichts weniger als die Reaktion des sich auf dem Wege der Entwicklung befindenden kollektiven Bewusstseins und menschlichen Tuns auf das Universum als solches.«[6]
»Religion und Evolution dürfen weder miteinander verwechselt noch voneinander getrennt werden.«
Es gibt eine Fruchtbarkeit der irdischen geistigen Energie, und Religion ist die Orientierung dieses Überfließens in Richtung vereinigtem Leben.[7] Der Zweck der Religion ist es, gemäß Teilhard, die Ganzheit zu entfachen, »die Fortschritte des Lebens zu tragen und anzustacheln.«[8] Religion hat eine kosmische Funktion, die ihrer menschlichen Funktion vorangeht, weil der Mensch aus dem kosmischen Leben hervorgeht und dieses Leben auf der Stufe des selbstreflexiven Bewusstseins rekapituliert. »Religion und Evolution dürfen weder miteinander verwechselt noch voneinander getrennt werden«, schreibt Teilhard: »Sie sind dazu bestimmt, einen einzelnen kontinuierlichen Organismus zu bilden, in dem ihre beiden Leben sich gegenseitig verlängern, voneinander abhängig sind und das jeweils andere ergänzen.«[9] Tatsächlich macht die menschliche Religion ohne die kosmische Funktion der Religion nicht wirklich Sinn, zumindest nicht im Hinblick auf die Evolution. Wenn wir uns weiterentwickeln sollen, so dachte er, müssen wir uns vom religiösen Individualismus freimachen und uns der allgemeinen religiösen Erfahrung stellen, die kosmisch und evolutionär ist, und darin wachsen.[10] [50–51]
Alan Turing [/]. Quelle: Wikimedia Commons
»Natur« und »KI« sind Beschreibungen derselben Realität
Die künstliche Intelligenz entstand inmitten des großen Leids des zwanzigsten Jahrhunderts. Dies war kein Zufall. Eine der zentralen Figuren in dieser Geschichte ist Alan Turing (1912–1954), ein britischer, schwuler Mathematiker, der in einer Gesellschaft, die Homosexualität kriminalisierte, mit seiner Geschlechtsidentität rang. Er spiegelt das Spannungsverhältnis, aus dem die künstliche Intelligenz hervorging: auf der einen Seite die neuen Wissenschaften der Quantenphysik, der Kybernetik und der Systembiologie, auf der anderen Seite das Ringen um die Überwindung menschlicher Grenzen in einer Zeit der globalen Zerstörung. Turing kannte die Verwüstungen des Krieges.
Sein berühmtester Beitrag zur Computerwissenschaft bestand in seiner geheimen Arbeit an der Entschlüsselung des »unknackbaren« Codes der Enigma-Chiffriermaschinen, welche die deutsche Marine im Zweiten Weltkrieg auf ihren U-Booten einsetzte. Daraus wie auch aus dem größeren Kontext seiner persönlichen Lebenserfahrung speiste sich sein Gefühl, dass die Ganzheit des Lebens im Begriff war, zertrümmert zu werden, und das dringende Bedürfnis, aus diesen Sackgassen heraus die Natur neu zu denken. Turing tat, was die Natur seit jeher getan hat: Er setzte die zur Verfügung stehenden Werkzeuge kreativ ein und versuchte etwas Neues. [103]
Anstatt den Begriff »künstliche Intelligenz« (KI) zu verwenden, wäre es besser, von »biologisch erweiterter« oder einfach »erweiterter Intelligenz« (EI) zu sprechen.
Die Tatsache, dass Information und Kybernetik auf allen Stufen biologischer Systeme wirken, bedeutet, dass die Natur ebenso sehr von Berechnungen und Algorithmen definiert wird wie von Physik, Chemie und Biologie. Der theoretische Biologe Christopher Langton [/] behauptet, die Natur selbst sei ›rechnergestützt‹, indem eine riesige Anzahl einfacher ›Prozessoren‹ lokal zusammengeschaltet seien.[11] Wenn die Natur Algorithmen und Berechnungen einschließt, dann sind »Natur« und »künstliche Intelligenz« keine gegensätzlichen Begriffe, sondern Beschreibungen derselben Realität. Die Tatsache, dass die Prinzipien der künstlichen Intelligenz in der Natur eingebettet sind, führt mich zu dem Vorschlag, dass der Begriff »künstliche Intelligenz« in Tat und Wahrheit eine Fehlbezeichnung ist, weil Intelligenz nichts Künstliches anhaftet. Vielmehr ist Maschinenintelligenz eine nicht weiter zurückführbare Mischung aus Biologie und Technologie, eine bios-techne.
Anstatt den Begriff künstliche Intelligenz (KI) zu verwenden, der zu einem Verständnis von Maschinenintelligenz als irgendwie unnatürlich oder gefälscht führt (auch wenn er eigentlich eine simulierte Intelligenz vermitteln soll), wäre es besser, von »biologisch erweiterter« oder einfach erweiterter Intelligenz (EI) zu sprechen, weil maschinelles Lernen die biologische Intelligenz erweitert. Martin Heidegger [/] sprach von der Natur als einem »Bestand«, als der Pluripotenzialität des Seins selbst. Techne ist der Akt (oder die Kunst) des »Hervorbringens«.[12] Heidegger schlägt vor, die Technik sei »ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.«[13] Dieses »Entbergen« verlangt von allem, parat zu stehen, bei der Hand oder im Bestand zu sein und zu werden, was immer der Verstand darin erblickt. Künstliche Intelligenz widerspiegelt die Pluripotenzialität der Natur, Information in simulierte Umgebungen hinein zu erweitern, die in Wirklichkeit ein komplexifiziertes System aus Biologie und Maschine bilden. [113–114]
Quelle: Pexels
KI entstand aus dem Schrei der Natur nach Verbundenheit
Obwohl sich seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert das zweite axiale Bewusstsein einzustellen beginnt, interpretieren wir Religion, Technologie und das menschliche Leben weiterhin in Begriffen der ersten Achsenzeit.[14] Das Computerzeitalter war im einundzwanzigsten Jahrhundert zu einer Flutwelle angewachsen. Google wurde 1998 gegründet und seither haben sich die Start-up-Unternehmen im Silicon Valley verbreitet wie Moos auf einem Baumstamm. Das Einsickern der Technologie in unser modernes Leben wurde von der Kulturkritik für vieles verantwortlich gemacht: vom Verlust der menschlichen Erinnerung bis hin zum Zusammenbruch des sozialen Lebens. [134]
Die Psychologin Sherry Turkle ist eine der führenden Kritikerinnen der Computertechnologie, besonders in ihrem viel gelobten Buch Verloren unter 100 Freunden. Aus Befragungen einer großen Zahl von Kindern und Teenagern, die mit Computern, iPads und elektronischem Spielzeug aufgewachsen sind, schließt die Autorin, dass wir im Begriff sind, unsere menschliche Beziehungsfähigkeit zu verlieren. Online verfallen wir der Illusion von Gemeinschaft, wenn wir Tausende von »Freunden« auf Twitter und Facebook gewinnen und Tweets und Wall-Postings mit echter Kommunikation verwechseln. Turkle argumentiert, indem die Technologie zunehmend in menschliche Beziehungen Einzug halte, kontrolliere sie unser emotionales Leben, nehme es in Geiselhaft, steuere es in Richtung seichter Verbindungen und lasse uns einsamer zurück, als wir es je zuvor waren.[15] Ähnlich fragt der Kulturpublizist Stephen Marche: »Macht Facebook uns einsam?«, und zeigt auf, wie Selbstdarstellung und Kommunikation auf Social Media Einsamkeit und Depression Vorschub leisten können.[16] [136]
Die sozialpsychologische Kritik an der Computertechnologie macht Sinn, wenn es sich bei der Person unter Beschuss um den Menschen der ersten Achsenzeit handelt oder, genauer, um das moderne liberale Subjekt. Wenn dieser Mensch ein autonomes, in Beziehungen lebendes Individuum ist, dann ist die Behauptung richtig, dass die Technologie die Grundwerte von dessen Personsein zerstört. Was aber, wenn dieser Mensch kein autonomes liberales Subjekt ist? Was, wenn die Technologie das Personsein in ein kybernetisches System verwandelt hat, welches sich nicht so einfach auf einzelne Subjekte reduzieren lässt?
Wenn die Integrität der Natur zertrennt oder unterdrückt wird, wird sie sich bestehender Werkzeuge bedienen, um darüber in Richtung neuer Ganzheiten hinauszugehen.
Ich postuliere, dass die Technologie in Tat und Wahrheit einen neuen Menschen hervorbringt, einen, der früher undenkbar war, weil er vor der Entstehung des vernetzten Bewusstseins gar nicht existieren konnte. Wenn die Computertechnologie die menschlichen Beziehungen verändert, so deshalb, weil sich der Mensch mit der Technologie verändert. Kehren wir zum Turing-Test zurück: Alan Turing ging es darum, Ausgrenzungen zu überwinden, und zwar nicht bloß in einer denkenden Maschine. Wenn die Integrität der Natur zertrennt oder unterdrückt wird, wird sich die Natur bestehender Werkzeuge bedienen, um darüber in Richtung neuer Ganzheiten hinauszugehen.
Viel zu lange haben wir geglaubt, der Mensch sei ein rationales Individuum, und haben uns dennoch abgefunden mit Krieg, Gewalt, Mord und Umweltzerstörung, die alle die Tatsache widerspiegeln, dass das moderne liberale Subjekt eben kein relationales Subjekt ist. Wir mögen glauben, wir seien stets autonome Menschen, aber in Tat und Wahrheit sind wir das nicht. Wir haben unsere relationale Unschuld schon vor Ewigkeiten verloren, als das axiale Bewusstsein und die Stammesreligionen entstanden. Personsein ist weder festgelegt noch stabil, sondern fließt beständig mit der Umwelt. Künstliche Intelligenz entstand aus dem Schrei der Natur nach Verbundenheit und Ganzheit, als ein Versuch, unsere verkrüppelte Individualität zu überwinden. Dieser entscheidende Punkt fehlt vielen Ansätzen der sozialpsychologischen Kritik an der Technologie. [137–138]
Steve Jobs [/]. Quelle: Wikimedia Commons
Unser religiöses Gebäude ist rückwärtsgewandt, stickig und entwicklungsresistent
Das Auftreten von künstlicher Intelligenz im zwanzigsten Jahrhundert war etwas gänzlich Neuartiges, doch es war Ausdruck eines tiefen Drangs in der Ganzheit der Natur, Fragmentierung und Zerstörung zu überwinden. Die Entwicklung des Computers als einer Denkmaschine entsprach, in gewissem Sinne, dem Bedürfnis, ausschließende oder trennende Grenzen zu überschreiten. Steve Jobs (1955–2011) sah voraus, dass der Computer die Welt und die Art, wie die Menschen in ihr interagieren, verändern kann. Auf einer der ersten Apple-Verkaufsshows rief er aus: »Bei Apple geht es um Menschen, die outside the box [über das Gewöhnliche hinaus] denken, Menschen, die den Computer nutzen wollen, um die Welt zu verändern, um Dinge zu schaffen, die einen Unterschied machen, und nicht bloß, um einen Job zu erledigen.«[17] Künstliche Intelligenz steht für die Suche nach einer neuen Zukunft, für die Erfindung des Morgen. Die Frage ist, was sollen wir erfinden? [185]
Wenn das Schicksal unseres Planeten in den Händen einer spezialisierten Gruppe von Computerfreaks liegt, haben wir keine gemeinsame Zukunft, insofern wir eine neue Zukunft nicht wirklich frei gestalten können. Unsere Leben unterliegen der Laune hoch spezialisierter Individuen und mächtiger Konzerne, die sie beschäftigen. Doch diese Tatsache verweist auf ein größeres Problem, das auf den ersten Blick nicht in Zusammenhang mit Programmierern und Hackern zu stehen scheint: Seit dem Zusammenbruch des ersten axialen Bewusstseins haben wir den Bezug zur grundlegenden religiösen Dimension des kosmischen Lebens verloren.
Wir ernähren uns aus der Nabelschnur der Natur und voneinander. In der Vergangenheit banden uns religiöse Mythen und Rituale ins größere Ganze ein, als dessen Teil wir uns verstanden. Nun werden diese durch Techno-Mythen und Techno-Rituale ersetzt: durch den Mythos der Superintelligenz, den Mythos der Verbesserung, den Mythos der Lebensverlängerung und durch die Rituale des Kaufs der technologischen Hilfsmittel zu deren Erfüllung. In gewisser Weise sind Programmierspezialisten zu den neuen Hohepriestern geworden, welche die Natur einer zukünftigen Erfüllung entgegenführen; der Apple Store ist die neue Kathedrale dieses Kults.[18]
Der Verlust der Religion seit der Moderne ist möglicherweise der bedeutendste Antriebsimpuls der heutigen Entwicklung der künstlichen Intelligenz.
Einige Transhumanisten [/] behaupten, die Technologie werde in Erfüllung gehen lassen, was die Religion verspricht: Erlösung und Unsterblichkeit.[19] Der Verlust der Religion seit der Moderne ist möglicherweise der bedeutendste Antriebsimpuls der heutigen Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Versucht die Technologie, die Leere auszufüllen, die das Verschwinden der Religion hinterlassen hat? Vermag die Technologie, einen kohärenten Sinn zu ergeben, indem sie unsere Stellung in der Natur verortet? Die erste Achsenzeit geht zu Ende, und der zweiten Achsenzeit fehlt es noch an Ziel und Zweck.
Das Problem ist ein zweifaches: Während die Evolution sich beschleunigt, bleibt die Religion noch im ersten axialen Bewusstsein befangen. Zwar war das Christentum die Brutstätte der westlichen Wissenschaft, aber es bleibt in den Schützengräben der griechischen Philosophie und einer überholten Kosmologie verschanzt. Noch immer predigt es den adamischen Mythos als wörtlich wahr, beäugt den Menschen als schwach und gefallen, erachtet die Sünde als Grund für die göttliche Menschwerdung, misstraut den Frauen und erachtet sie des Dienstes als Priesterinnen für unfähig – und dennoch sieht es im Menschen, ohne Unterschied, das Ebenbild Gottes. Seele und Körper werden nach wie vor in aristotelischer Begrifflichkeit verwahrt, und die religiöse Kosmologie bleibt eine Art dreistöckiger Hochzeitskuchen mit dem Himmel als oberster, der Erde als mittlerer und der Hölle als unterster Schicht. Dieses gesamte Gebäude ist rückwärtsgewandt, stickig und entwicklungsresistent. [187–188]
Eine neue Begegnung auf Stufe der Mystik
Wahrscheinlich war Teilhard de Chardin der erste Mensch in der Geschichte der Computertechnik, der die integrale Beziehung zwischen Technologie und Religion erkannte. Er sagte: Religion ist keine Funktion des Menschen, sondern gehört zur Erde selbst.[20] Nach Teilhards Ansicht »dürfen Religion und Evolution weder verwechselt noch getrennt werden. Ihre Bestimmung ist es, einen einzigen, zusammenhängenden Organismus zu bilden, in dem beide Teile weiterleben, sich unterordnen, sich gegenseitig vollenden, ohne einerlei zu werden oder einander zu zerstören.«[21] Für die irdische Gemeinschaft, so glaubte er, führt der Weg vorwärts zu gedeihendem Leben einzig über ein neues Paradigma, in welchem Wissenschaft und Religion nicht länger zwei getrennte Disziplinen sind, sondern zwei Erkenntnisweisen ein und desselben Ganzen, eine »glaubenserfüllte Wissenschaft«.[22] [189]
Teilhard sah zwei Aspekte dessen voraus, was Computer für uns würden tun können: Erstens würden sie unser Gehirn vervollständigen durch sofortigen Informationszugang rund um den Globus, sodass das, was einem Menschen fehlt, unmittelbar von einem anderen zur Verfügung gestellt werden könnte. Zweitens würden sie unsere Gehirne verbessern, indem sie Prozesse stärker beschleunigen würden, als das unsere eigenen Kräfte bewerkstelligen können.[23] Teilhards Vision der Noosphäre als kybernetischem Geist war eine Vorausschau der Emergenz des Hyperraums als einem aus miteinander verbundenen Computerpfaden verknüpften Feld des globalen Geistes. Im Aufkommen der Technologie erkannte er eine Vorwärtsbewegung geistiger Energie, eine Maximierung des Bewusstseins und eine Komplexifizierung von Beziehungen. [200]
Wir brauchen eine neue Art von Religion, die über den Dualismus und eine akosmische Spiritualität hinausgeht.
Wenn die Technologie uns helfen soll, uns in Richtung eines überpersönlichen Planeten zu entwickeln, indem sie aus der Kraft der Religion schöpft, dann brauchen wir eine neue Art von Religion, die über den Dualismus und eine akosmische Spiritualität hinausgeht. Technologie vermag, die Spanne menschlicher Aktivität zu erweitern, aber entscheidend ist, dass wir unseren Handlungsradius ganzheitlicher verstehen und sie dazu nutzen, unsere psychisch-geistigen Energiebedürfnisse und -kräfte gezielter auszurichten.[24] Teilhard erkannte, dass Religion jene Dimension ist, die diesem neuen Zeitalter des Bewusstseins fehlt; nicht die Religion der Vergangenheit oder der Stammesinstitutionen, sondern eine Religion, die es für die Bedürfnisse des Menschen der zweiten Achsenzeit neu zu entwerfen gilt. Teilhard unternahm den Versuch, eine neue Theologie zu entwickeln, die einer neuen Religion der Erde Leben einhauchen sollte. Ohne eine gemeinschaftliche Verpflichtung zur Zukunft, davon war er überzeugt, könnte der Prozess der Evolution schließlich kollabieren und im kosmischen Tod enden. [207]
Teilhard identifizierte das christliche Problem als eines des Dualismus und erachtete die Rolle des Christentums als zunehmend irrelevant: »Das Christentum sondert die Anhänger ab, statt sie mit der übrigen Masse zu verschmelzen. Es macht sie der Welt gegenüber gleichgültig, statt sie auf die gemeinsame Aufgabe hinzulenken.«[25] Interessanterweise schrieb er dies in den frühen 1920er-Jahren, lange vor dem Ruf nach Erneuerung im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Obwohl dieses die Fenster zu den zeitgenössischen Entwicklungen aufstieß, schwankt die Kirche bis heute zwischen einem weltlichen Evangelium und einer Weltfremdheit hin und her.[26] Teilhard beklagte, dass »viele Christen – der ›göttlichen‹ Verantwortung ihres Lebens viel zu wenig bewusst – [leben], ohne den Stachel oder den Rausch zu verspüren, das Reich Gottes von allen menschlichen Bezirken aus zu fördern.«[27] Das Herumreiten auf einem Gott »dort oben« und einer »gefallenen« Menschheit schafft ein Abhängigkeitsbewusstsein, Unterwürfigkeit und Angst.
Teilhard hat nicht einer neuen Religion als solcher das Wort geredet, so als würde er die große Weisheit der axialen Religionen abschreiben; auch hatte er keine Vermischung der Religionen im Sinn. Vielmehr regte er an, dass die vereinigenden Kräfte unter den verschiedenen Religionen und deren Konvergenzachse respektiert werden müssten, also Dialog, Mitgefühl und Frieden, das heißt, die Religionen müssten sich auf der Stufe der Mystik und des gemeinschaftlichen Handelns begegnen. Er glaubte, die religiöse Konvergenz könne zu einem komplexifizierten Religionsverständnis, zu einer neuen Interspiritualität führen. Religion kann nicht länger nur auf Doktrinen und »offiziellen Lehren« basieren, sondern muss die religiöse Erfahrung und ein interspirituelles religiöses Bewusstsein umfassen, das uns in einer größeren Einheit der Liebe zusammenbindet. Die Weltreligionen lassen sich mit einer Hand vergleichen, bei der die Kanons und Doktrinen jeder Religion die Finger bilden, die Handwurzel oder das Handgelenk aber das gemeinsame Zentrum bildet, in dem alle Linien in Liebe, Mitgefühl und Gnade zusammenkommen. Ohne religiöse Konvergenz, sagt Teilhard, bleiben wir mit einem »unbefriedigten Theismus« zurück. [216–217]
© Ilia Delio 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas
Anmerkungen
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[1] »Globales Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen«, herausgegeben vom Weltbiodiversitätsrat IPBES der Vereinten Nationen auf der siebten Plenarsitzung vom 29. April bis 4. Mai 2019 in Paris.
[2] Siehe zum Beispiel Jonathan L. Barmer [et al.]: “Ice Sheet Contributions to Future Sea Level Rise from Structured Expert Judgement” in Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Nr. 116, 4. Juni 2019, Seiten 11195–11200.
[3] Rachel Carson: Der stumme Frühling, München: C.H. Beck, 6. Auflage, 2021.
[4] Lynn Townsend White: “The Historical Roots of Our Ecologic Crisis” in Science, Nr. 155, 10. März 1967, Seiten 1203–1207.
[5] Teilhard de Chardin: »Christologie und Evolution« in Mein Glaube, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1972, Seite 106.
[6] Teilhard de Chardin: Mein Glaube, Seite 142.
[7] Siehe Teilhard de Chardin: Wissenschaft und Christus, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1970, Seite 139.
[8] Teilhard de Chardin: Die menschliche Energie, Olten und Freiburg i.Br: Walter-Verlag, 1966, Seite 58.
[9] Zitiert in Mgr Bruno de Solages: Teilhard de Chardin: Témoignage et étude sur le développement de sa pensée, Le Coudray-Macouard: Saint-Léger Éditions, 2016, Seite 234.
[10] Teilhard de Chardin: Mein Glaube, Seite 142.
[11] Christopher Langton: The Allure of Machinic Life, Cambridge, MA: MIT Press, 1989, Seite 2.
[12] David Farrell Krell [Hrsg.]: Martin Heidegger: Basic Writings, New York: Harper and Row, 1977, Seite 383.
[13] Martin Heidegger: »Die Frage nach der Technik« in Gesamtausgabe, Band 7, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2000, Seite 15.
[14] Anmerkung der Übersetzer: Ilia Delio bezieht sich in ihrem Buch verschiedentlich auf den von Karl Jaspers geprägten Begriff der »Achsenzeit« (Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: Pieper, 1963, Seite 20), die er auf etwa 800 bis 200 Jahre vor Christus datierte. In dieser Eoche kam es, gemäß ihm, zu einem »Neuaufbruch innerhalb der Menschheitsgeschichte«; es entstanden die großen Weltreligionen und aus dem Stammensbewusstsein entwickelte sich das Bewusstsein des Individuums (und später das kartesianische oder moderne liberale Subjekt). Unsere heutige Zeit lässt sich, gemäß Delio, als eine »zweite« Achsenzeit interpretieren, in der das Individuum an sein Ende kommt und der erwachenden global hypervernetzten Person Platz macht.
[15] Sherry Turkle: Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other, New York, Basic Books, 2011; deutsch: Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern, München: Riemann, 2012.
[16] Stephen Marche: “Is Facebook Making Us Lonely?” in The Atlantic, Mai 2012.
[17] Zitiert in Mark Milian: “The Spiritual Side of Steve Jobs” in CNN Business News, 7. Oktober 2011.
[18] Brett T. Robinson: Appletopia: Media Technology and the Religious Imagination of Steve Jobs, Waco, TX: Baylor University Press, 2013, Seiten 1–2.
[19] Robert Geraci: “Apocalyptic AI: Religion and the Promise of Artificial Intelligence” in Journal of the American Academy of Religion, Nr. 1, März 2008, Seiten 9–38.
[20] Teilhard de Chardin: Mein Glaube, Seite 143.
[21] Teilhard de Chardin: Frühe Schriften, Freiburg i.Br. und München: Verlag Karl Alber, 1968, Seite 102.
[22] Die Überschrift eines Teilhard gewidmeten Kapitels in Charles Henderson: God and Science: The Death and Rebirth of Theism, New York; John Knox, 1986.
[23] Teilhard de Chardin: Die Entstehung des Menschen, München: C.H. Beck, 1961, Seite 118.
[24] Joseph A. Grau: Morality and the Human Future in the Thought of Teilhard de Chardin, Lanham, MD: Associated University Press, 1976, Seite 274.
[25] Teilhard de Chardin: Der göttliche Bereich, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1964, Seite 55.
[26] Noch immer wird darüber gestritten, ob das Zweite Vatikanische Konzil ein Erfolg oder ein Fehlschlag war. Siehe Stephen Bullivant: “Did the Second Vatican Council Fail?” in The Tablet, 23. Mai 2019.
[27] Teilhard de Chardin: Der göttliche Bereich, Seite 57.
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