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Reshad Feild

Noch bedarf die Menschheit des Dufts der Rose

Reshad Feild: Rosenbusch

Die gegenseitige Verbundenheit der drei abrahamitischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams ist eine historische und theologische Tatsache, die leider immer wieder vergessen und viel zu häufig – sei es aus identitären Gründen, sei es aus politischem Kalkül – verleugnet wird. Dennoch führt die konsequente Suche nach der letzten Wahrheit über sie alle hinaus. In Die letzte Schranke, seinem großen Klassiker der spirituellen Literatur, erläutert Reshad Feild diese Weisheit in eindrücklichen Worten

ir nahmen ein Taxi, das uns durch eine der ältesten Gegenden Istanbuls fuhr. Es war bereits spät am Abend; die Stadt war ein einziges Lichtermeer und die Märkte quollen noch immer von Menschen über. Das Taxi hielt in einer engen Gasse, deren Häuser in den oberen Stockwerken so weit vorsprangen, dass es fast möglich schien, als könnten sich die Bewohner aus ihren Fenstern über die Gasse hinweg die Hände reichen. Wir stiegen aus dem Wa­gen, klingelten an einem der alten Häuser und warteten, während wir zum Balkon hinaufblickten.

Nach kurzer Zeit erschien dort ein alter Mann im Schlafanzug. Er winkte unserer Gruppe zu und deutete an, er werde gleich herunterkommen, um uns hineinzu­lassen. Als er die Tür öffnete, trug er noch immer seinen Schlaf­anzug, über den er eine blaue Jacke geworfen hatte. An die Wand oberhalb der Treppe war eine schöne rote Rose gemalt, fast zwei Meter hoch. Wir ließen unsere Schuhe oben an der Treppe vor einer Tür stehen, und ich betrat den Raum, in dem ich den ersten jener Menschen treffen sollte, zu denen ich geschickt worden war.

Der Scheich sprach mindestens zwei Stunden lang auf Türkisch, während seine Frau neben der Tür saß und gelegentlich frischen Tee und Süßgebäck brachte. Die ganze Zeit über beachtete er mich nicht. Er sah jeden einzelnen abwechselnd an, doch immer, wenn sein Blick mich streifte, wandte er seine Augen ab. Soweit ich verstand, erörterte man eine Stelle aus dem Koran. Alle wurden sehr aufgeregt, und immer wieder rief jemand: »Allah.« An einer Stelle brachte etwas, das er sagte, alle zum Weinen. Es war jetzt etwa acht Stunden her, seitdem ich den Frisörsalon betreten hatte. Vielleicht hatte ich irgendetwas falsch gemacht, und es würde mir nie gestattet sein, diesen Scheich zu begrüßen und zu wissen, ob er mich aufnahm oder nicht. Möglicherweise hatte er meine Gedanken gelesen, denn plötzlich wandte er sich mit einer kurzen, direkten Frage an mich. Der Mann der Société Métaphysique, der zu meiner Rechten saß, übersetzte sie für mich ins Französische: »Warum sind Sie gekommen?« Ich begann zu erklären, und für eine Weile hörte der Scheich der Übersetzung zu, so als wäre er sehr interessiert. Doch mit einem Mal schien es ihn zu langweilen. Er hob seine Hand und unterbrach das Gespräch. Nach einem Moment der Stille schaute er mich direkt an und begann zu sprechen. Seine Stimme und die des Übersetzers waren die einzigen Laute im Raum – sogar der unablässige Lärm der Straße schien verebbt.

»Es waren einmal zwei Schmetterlinge, einer in London und einer in Istanbul. Aus Liebe flogen sie einander entgegen, und als sie sich trafen, starb der eine. Verstehen Sie?«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Bevor die Schildkröte ihre Eier in den Sand legt, gräbt sie ein Loch für sie, dann bedeckt sie sie mit Sand und kriecht zurück ins Meer. Die Eier werden vom Magne­tismus ausgebrütet, nicht nur von der Wärme der Sonne, wie die Leute irrtümlich glauben. Denn die Schildkrötenmutter ist auf unsichtbare Weise noch immer mit ihren Eiern verbunden, auch wenn sie ins Meer zurückgekehrt ist. Nachdem sie ausgeschlüpft sind, versuchen die Schildkrötenbabys, ins Wasser zu gelangen. Aber nur sehr wenige erreichen ihr Ziel. Denn auf sie warten die Vögel, die sich versammelt haben, um sich von den kleinen Kreaturen zu ernähren; und wenn sie es schaffen, das Meer zu erreichen, warten dort die Fische, denn auch sie wissen instinktiv, wann die Schildkröten schlüpfen. Von den Tausenden von Schild­kröten, die geboren werden, überleben nur sehr wenige, um zurück­zukehren und selbst Eier zu legen.«

Er schaute mich sehr freundlich an und fügte hinzu: »Wie Sie sehen, weiß der Scheich nicht unbedingt, wen er unterrichtet.«

Die Gruppe schien sehr glücklich; einige drehten sich zu mir um und schüttelten meine Hand. Andere kamen zu mir herüber, umarmten und küssten mich auf beide Wangen. Ich war völlig verwirrt. Welche Beziehung bestand zwischen den Schildkröten und dem Scheich und seiner Lehre? Was sollte das Ganze mit dem Magnetismus und der Sonne? Und falls ich einer der Schmetter­linge sein sollte, wahrscheinlich derjenige aus London, war ich dann tot? Oder war es der Scheich?

Noch bevor ich Zeit hatte, über diese Fragen nachzudenken, hob der Scheich erneut seine Hand und bat um Stille. Dann erzählte er folgende Geschichte.

Reshad Feild: Rosenbusch Öl-Phiole

»Es war einmal ein Rosenbusch. Er war sorgfältig gepflanzt, so dass seine Wurzel tief in die Erde wuchs, die lange darauf vorbereitet worden war, ihn zu empfangen. Diese Wurzel war Abraham. Als die Rose heranwuchs, musste sie richtig beschnitten werden, sonst wäre sie vielleicht verwildert und hätte nicht den Zweck erfüllen können, den der Gärtner für sie bestimmt hatte. Dank der guten Erde, der tiefen Wurzel und dem Schnitt war der Stamm gerade und stark gewachsen. Dieser Stamm war Moses. Eines Tages wuchs daran die Knospe der vollkommensten roten Rose, die man je gesehen hatte. Die Knospe war Jesus. Die Knospe öffnete sich – die Blüte war Mohammed.«

Der Scheich hielt inne, wandte sich um und sprach mit seiner Frau. Sie verließ den Raum und kam mit einer kleinen Glasphiole zurück. Er wies auf mich, und sie kam zu mir herüber: »Nimm sie«, sagte er, »und sag mir, was das ist.« Ich nahm die Phiole und roch daran. »Es ist Rosenöl«, antwortete ich, »die Essenz der Rose.«

Der Scheich lächelte und bedeutete mir, zu ihm zu kommen und mich vor ihm hinzusetzen. Seine Ausstrahlung war überwältigend. Er nahm meine Hände in seine. »Hör genau zu und erinnere dich auf deiner Reise an das, was ich dir nun zu sagen habe. Heute bedarf die Menschheit des Dufts der Rose, eines Tages jedoch wird sie noch nicht einmal diesen brauchen.«

Er beugte sich vor, küsste meine Hände und führte sie an seine Stirn. Dann hielt er seine rechte Hand über meinen Kopf und hauchte in den Raum: »Huuuuu…«

Danach stand er auf und verließ den Raum. Das Treffen war beendet. Wir nahmen unsere Schuhe und gingen die Stufen hinab. Auf halbem Weg drehte ich mich noch einmal um. Der alte Scheich stand oben an der Treppe, vor der Rose, die an die Wand gemalt war. Er beugte sich vor und rief mir etwas zu. Der Übersetzer hinter mir sagte leise: »Schau noch einmal zurück und behalte es im Gedächtnis. Vergiss die Rose nicht.«

Du musst verstehen, dass jede Antwort gleichzeitig eine Begrenzung ist. Die Wahrheit dehnt sich über jede Erklärung hinaus, daher ist es besser, man lässt uns mit einer Frage zurück anstatt mit einer Antwort.

Der Mann, der übersetzt hatte, begleitete mich in einem Taxi zurück zu meinem Hotel. Er schwieg, und ich verbrachte die Fahrt mit dem Versuch zu enträtseln, was die Geschichten des Scheichs wohl bedeuten mochten. Plötzlich wandte sich mein Begleiter an mich: »Verstehst du, weshalb unser Scheich das Beispiel der Schild­kröte benutzte, um dir etwas zu erklären?«

Ich entgegnete, ich hätte nicht viel von dem verstanden, was gesagt worden war, und bat ihn um eine Erklärung.

Nach kurzem Überlegen sagte er: »Ich will dir ein bisschen mehr erzählen, aber du musst verstehen, dass jede Antwort gleichzeitig eine Begrenzung ist. Die Wahrheit dehnt sich über jede Erklärung hinaus, daher ist es besser, man lässt uns mit einer Frage zurück anstatt mit einer Antwort. Ich kann dir ein paar Hinweise geben, doch dann musst du dir selbst die Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Aber lass uns zuerst in dein Hotel fahren und einen Kaffee trinken.«

Es war schon sehr spät, und die wenigen Menschen, die jetzt noch unterwegs waren, beeilten sich, vor dem Regen und dem kalten Wind Schutz zu Wnden. Im Hotel setzen wir uns in eine Ecke der Empfangshalle neben den warmen Kamin und tranken unseren Kaffee.

»Der Scheich hat dir vor allen Dingen zu verstehen geben wollen – es ist dir doch klar, dass er diese Geschichte ausschließlich für dich erzählt hat, oder? –, dass du und ich und die gesamte Mensch­heit durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden sind. Du siehst also: Was immer an einem Ort gesagt oder getan wird, hat überall in der Welt seine Auswirkung. Doch diese Wirkung hängt vom Grad unserer Aufmerksamkeit ab. Du hast nach einem Führer gesucht, der dir auf deiner Reise helfen kann. Tatsächlich ist der Führer für jeden immer schon da, doch solange wir nicht wach sind, wissen wir das nicht. Als der Scheich sagte, er wisse nicht notwendigerweise, wen er lehrt, hat er dir erklärt, dass er jeden Tag eine Botschaft aussendet, die sich auf der Welt verbreitet, und diejenigen, die wach genug sind, hören den Ruf. Auch wenn sie den Scheich niemals kennenlernen, ja sogar wenn sie Tausende von Kilometern von ihm entfernt sind, können sie noch immer den inneren Sinn dessen hören, was der Scheich lehrt, denn Energie folgt den Gedanken. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass die Saat eine lange Zeit brauchen mag, um zu wachsen. Was du mich jetzt sagen hörst und was du von unserem Scheich gehört hast, wird sich in dir viele Jahre lang entfalten, und so erwächst vielleicht aus unserem Zusammentreffen ein bisschen mehr Verständnis.

Reschad Feild: Rosenbusch und Schildkröte

Foto: Pexels / Darwis Alwan

Der Grund dafür, dass der Scheich von einer Schildkröte und nicht von einem anderen Geschöpf gesprochen hat, liegt darin, dass die Schildkröte sowohl im als auch außerhalb des Meeres exis­tieren kann. Sie kommt aus der einen Welt in eine andere, um ihre Eier zu legen. Danach kehrt sie in die Welt zurück, aus der sie kam. Weil alles miteinander verbunden ist, ist auch sie in der unsichtbaren Welt mit den Eiern verbunden, die sie gelegt hat. Das ist der Magnetismus, von dem der Scheich sprach, welcher, zusammen mit der Kraft und der Wärme der Sonne, die Eier schließlich ausbrütet. Damit dies geschehen kann, braucht es sowohl die Sonne als auch diese besondere Art von Energie, die von der Mutter auf ihre Kinder wirkt. Die Schildkröten schlüpfen aus, was aber noch nicht bedeutet, dass sie auch überleben. Nur die starken schaffen es bis ins Meer, wo sie heranwachsen und alt und weise genug werden, eines Tages zurückzukehren, ihre eigenen Eier zu legen. Verstehst du es jetzt ein bisschen besser?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich. »Ich denke, ich beginne zu begreifen, aber es wird noch lange dauern, bis ich fähig werde, wirklich zu verstehen, was all das bedeutet. Noch immer völlig unklar ist für mich, was es mit dem Tod des einen Schmetterlings auf sich hat.«

»Ah«, sagte mein Begleiter, »das zu verstehen, ist schwer, wenn man mit unserer Ausdrucksweise nicht vertraut ist. Doch wenn du einmal gelernt hast, wie der Scheich Geschichten benutzt, um etwas Bestimmtes zu illustrieren, ist es einfach. Aber denk daran, dass ich dir nicht wirklich etwas ›erkläre‹. Du musst eine eigene Bedeutungen in dem Wnden, was du heute Abend gehört hast.

Natürlich warst du der eine Schmetterling und unser Scheich war der andere. Er sagte, dass die beiden aufeinander zuge­flogen seien, womit er meint, dass genauso, wie der Schüler den Lehrer braucht, der Lehrer auch des Schülers bedarf, so dass die Botschaft weitergegeben werden kann. Hier ist der Schmetterling gleich der Seele; doch damit wirkliches Verstehen erwachsen kann, darf es keine zwei Seelen mehr geben. Du redest vielleicht noch von ›meiner Seele‹ oder ›seiner Seele‹. Doch für das Verständnis, das du in dir selbst zu nähren versuchst, ist es notwendig, die Vorstellung deiner eigenen Seele sterben zu lassen, so dass du zu der einen Seele gelangen kannst. Der Scheich mochte dich, und als er erzählte, die beiden Schmetterlinge hätten sich getroffen und einer von ihnen sei gestorben, sagte er dir, dass eine Zeit kommen wird, da all das, was du zu sein glaubst, sterben wird, und dann kommt das Ver­stehen.«

Er ergriff meine Hand für einen Moment und sagte: »Wenn wir uns richtig begegnen, begegnen wir uns im Herzen, und dann ist da kein ›du‹ und kein ›ich‹ mehr. Nun muss ich gehen, mein Freund. Viel Glück auf deiner Reise. Du weißt, sie ist die einzig wirkliche Reise, die es in dieser Welt zu unternehmen gilt.« Er stand auf, schüttelte mir noch einmal die Hand und war ge­gangen.

© The Literary Estate of Reshad Feild 2023
Deutsche Übersetzung © Chalice Verlag