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Dschalal ad-Din Rumi | Otto Höschle

Spirituelle Liebesgedichte aus Rumis großem Diwan-e Schams-e-Tabrizi

Rumi: Spirituelle Liebesgedichte aus dem Diwan-e Schams-e-Tabrizi

»Zwei Liebende«, persische Miniatur von Reza Abbasi (1630). Quelle: Wikimedia Commons

Ausschnitte aus Dschalal ad-Din Rumi: Spirituelle Liebesgedichte, aus dem Persischen von Otto Höschle.

Rumi: Spirituelle Liebesgedichte aus dem Diwan-e Schams-r-Tabrizi

Aus Anlass des 750. Todestages des großen Sufi-Dichters Dschalal ad-Din Rumi am 17. Dezember 2023 hat Otto Höschle, dessen erste vollständige deutsche Versübertragung des Masnawi aus dem Persischen auf vielseitiges Lob gestoßen ist, zweihundert der schönsten Ghasele aus Rumis riesigem Diwane-e Schams-e-Tabrizi übersetzt. Ein Auszug aus dem seinem Vorwort und einige Ghasele als Leseprobe

er 1207 geborene Dschalal ad-Din Rumi betrat den mystischen Pfad im Jahr 1244, nachdem sein Scheich 1242 gestorben war, auf eklatante Weise: Damals bereits ein angesehener Gelehrter Konyas, begegnete Rumi jenem Menschen, der sein Leben und Werk prägen sollte wie kein zweiter: Schams ad-Din-e-Tabrizi [/] (»Sonne des Glaubens aus Tabriz«). In ihm, dem Wanderderwisch aus Aserbeidschan, fand Rumi sein zweites Ich, seinen göttlichen Freund und geistig Geliebten, der ihn fortan auf ungeahnte Weise inspirieren sollte.

Den charakteristischen sama‘, den kontemplativen Wirbeltanz, hat er vermutlich ihm zu verdanken, vor allem aber die Abkehr von der bloßen vom Verstand geleiteten Gelehrsamkeit hin zur gefühlsbetonten, auf die Seele bauenden Mystik und da­mit auch, nachdem er zuvor nie Gedichte verfasst hatte, zur sufischen Poesie. Erst damals also schuf er seine ersten Ghase­le, ekstatische Liebesgedichte in raffinierten Reimen. Es war der Beginn seiner über 35000 Verse umfassenden Lyrik­sammlung, die er Schams widmete und mit dessen Namen ver­sah: Diwan-e Schams-e-Tabrizi beziehungsweise Kulli­yat(Ge­samt­heit)-e Schams-e-Tabrizi. Unter diwan verstand man eine Textsamm­lung, bei der die Werke eines bestimmten Dichters in der alphabetischen Reihenfolge ihrer End- beziehungsweise Reim­silben angeordnet sind und daher jedes Kapitel als Über­schrift einen arabischen Buchstaben aufweist.

Ausschnitte aus Dschalal ad-Din Rumi: Spirituelle Liebesgedichte, aus dem Persischen von Otto Höschle.

Yvonne Ferger: Wir Kinder der Unendlichkeit

Das in der sufischen Poe­sie traditionelle Klagen über das Getrenntsein von Gott übertrug Rumi auf den Seelenfreund, sodass es zugleich ein Klagen über die Trennung von Schams war und von nun an sein Dichten prägte.

Weil sich einige der Schüler Rumis vom Meister vernachlässigt fühlten und murrten, verließ Schams im März 1246 Konya und zog nach Damaskus, von wo ihn Rumis Sohn, Sultan Walad, 1247 zurückholte. Doch schon im darauffolgenden Jahr verschwand Schams für immer.

Das in der sufischen Poe­sie traditionelle Klagen über das Getrenntsein von Gott übertrug Rumi auf den Seelenfreund, sodass es zugleich ein Klagen über die Trennung von Schams war und von nun an sein Dichten prägte. Die spätere Behauptung, Schams sei von den Schülern Rumis umgebracht worden, ist gemäß den heutigen Nachforschungen nicht zu beweisen und vermutlich bloße Legende (siehe dazu F.D. Lewis: Rumi). Rumi blieb als Nach­folger seines Vaters in Konya und ernannte seinen Lieblings­schüler, den Goldschmied Salah ad-Din Zarkub, zu seinem Stellvertreter. Doch auch das löste bei der Schülerschaft und den Söhnen Kritik aus. Zarkub starb 1258, im Jahr der Erobe­rung des Abbasidenkalifats durch die Mongolen, in deren Abhängigkeit Konya bereits 1243 geraten war.

Zarkub ist es denn auch, den er in seinen Ghaselen häufig anspricht, ähnlich wie er später im Masnawi seinen Lieblingsschüler Husam ad-Din Tschalabi ansprach, dem er dieses Lehrgedicht diktierte und mit dem er sich ähnlich identi­fi­zierte wie zuvor mit Schams. Die Ghasele seines Diwans versah er oft am Ende mit »Schams ad-Din« als Signatur. Dieser sogenannte tachallos [/], der im letzten Vers eines Ghasels erwähnte Ehrenname des Dichters, entsprach einer für das Ghasel typischen Tradition. Für Rumi aber war es mehr als das, denn er nahm damit sich selbst aus der Rolle des Ver­fassers zurück und drückte so sein viel beschworenes Einssein mit dem Seelenfreund aus: »Ich bin du und du bist ich.« Kein Wunder also, dass die späteren Kopisten und Herausgeber seiner Ghasele den gesamten Diwan nach Schams statt nach Rumi benannten.

Als Rumi am 17. Dezember 1273 starb, wurde Husam ad-Din sein Nachfolger, und als dieser 1285 starb, nahm Rumis Sohn Sultan Walad die Stelle ein und wurde zum eigentlichen Begründer des Derwischordens der Moulawi (türkisch: Mevlevi), der »wirbelnden Derwische« [/] also, einer Institution, die sich bis in unsere Zeit als Sufi-Orden der mittleren und gehobenen Schichten einiger Beliebt­heit erfreut.

Wie ein schwindelerregendes Wirbeln wehen uns Rumis Ghasele entgegen, wie ein einziger Wirbelwind, der uns Hören und Sehen vergehen lässt und geradezu den Verstand außer Kraft zu setzen vermag.

Wenn die Legende sagt, Rumi habe seine Gedichte im Wirbeltanz geschaffen, so hat das wohl, zumindest meta­phorisch, einen wahren Kern: Wie ein schwindelerregendes Wirbeln wehen uns seine Ghasele entgegen, wie ein einziger Wirbelwind, der uns Hören und Sehen vergehen lässt und geradezu den Verstand außer Kraft zu setzen vermag, den Ver­stand, der das Erkennen der tieferen Wirklichkeit, und somit dieser Verse, nur behindern würde. Vom Schwindel, der den Liebenden ergreift, ist oft die Rede, von Sphären, in denen der Mensch dem Liebeswirbel und der Verwirrung ausgeliefert ist, indem er sein Selbst aufgibt zugunsten der Hin­gabe an den Geliebten, was schließlich zum Einssein, zum Aufgehen des Teils im Ganzen führen wird, zum Aufgehen des Tröpfchens im Ozean der Seele.

Der Geliebte – zuweilen als »die Geliebte« übersetzt, da ja das Persische kein gramma­tisches Geschlecht kennt – stellt in den Ghaselen das göttliche Zentrum dar, um das alles kreist. Wer oder was aber ist diese Mitte? Ist es Schams ad-Din, der göttliche Freund, oder ist es Er, der Eine mit Seinen unendlich vielen Namen, von denen nur neunundneunzig den Menschen bekannt sind? – Eine für uns schwer nachvollziehbare Dialektik: Schams steht für den Einen schlechthin, für Gott selbst also, Der als das Ganze alles andere in Sich vereint und mit Dem sich auch der Liebende vereinen will. Die Schams-Ebene und die Gott-Ebene sind zwei Sphären, die zwar eins sind und doch konzentrisch übereinanderstehen und -kreisen: Der Liebende sieht Gott, den Unsichtbaren, in Schams, dem Sichtbaren, sieht Ihn durch Schams hindurch. Diesem gilt seine ganze Zärtlichkeit, ihm schmeichelt er und mit ihm zürnt er – ob auch der Unend­liche gemeint sein könnte, ist von Gedicht zu Gedicht zu deuten und bleibt letztlich uns selbst überlassen: Rumis Ghasele entziehen sich unserem Wunsch nach Eindeutigkeit. Eine Art von Unschärferelation also: kein Entweder-oder sondern ein Sowohl-als-auch. Ein poetisches Spiel auf höchster spiritueller Ebene, eines, das mit Logik nicht zu fassen ist und oft genug wahrhaft schwindelerregend daherkommt.

Die Sufis suchen die Annäherung an Gott jenseits des Worts und aller in Büchern festgeschriebenen Dogmen und Erzählungen.

Es wäre müßig, in diesen ekstatischen Ghaselen alles bis ins Letzte »verstehen« zu wollen. So etwas wie Verständnis, das betont der Dichter immer wieder, finden seine Worte, wenn überhaupt, nur im Her­zen derer, die mit dem Herzen zu hören vermögen. Und am Ende vieler der Gedichte heißt es beschwörend: «Cha­musch!» – »Still!« oder »Schweig!« oder freier übersetzt: »Ge­nug der Worte!« Ein Fingerzeig, dass mit Worten nicht be­griffen werden kann, was begriffen werden muss, um dem »Freund« gerecht zu werden. Nur das Herz begreift es, und das bedarf keiner Worte. Die Sufis suchen die Annäherung an Gott jenseits des Worts und aller in Büchern festgeschriebenen Dogmen und Erzählungen. Diese dienen als Wegzehrung, als Gleichnis, als Hilfsmittel zu einem Zweck, der nur durch seelische Umwandlung und Selbstaufgabe erreicht werden kann.

Was die Form der Gedichte betrifft, so reicht die Tradition des Ghasels [/] in die arabische Liebesdichtung zurück und wird, auch bei den persischen Sufis, zur wichtigsten Form der spirituellen Liebeslyrik (dies neben den Vierzeilern, den roba’iyat [/], die einen kleineren Teil des Diwan-e Schams ausmachen). Liebes­gedichte: Daher also die erstaunlich sinnliche Sprache der Ghasele. Von Stirn, Lippen und Wangen des oder der Ge­liebten ist die Rede, vom schlanken Wuchs, der Silberbrust, den Locken und dem betörenden Augenpaar. All dies ist Hinweis auf die »mondgleiche« Schönheit des angesprochenen Freunds, Metapher für die Schönheit Gottes, die durch sie hindurchschimmert.

Leseproben

Zum Öffnen und Schließen der einzelnen Texte bitte auf die Titel klicken.

Wascht euer Herz mit dem Wasser der Weisheit

Bemüht euch doch, ihr Liebenden, damit, wenn Leib und Seele schwinden,
sich euer Herz zum Himmel schwingt, nicht mehr so schwer ist wie der Leib!

Wascht euer Herz doch mit dem Wasser der Weisheit rein von all dem Staub!
Wohlan, auf dass der Trauerblick auf dieser Welt nicht haften bleibt!

Ist’s nicht so, dass die Liebe das ist, was alles in der Welt beseelt?
Denn außer ihr währt nichts von dem, was du erblickst, in Ewigkeit.

Dein Noch-nicht-Sein ist wie der Osten, dein Tod indes ist wie der Westen,
gerichtet auf ’nen andern Himmel, nicht dem vergleichbar, den du siehst.

Der Weg zum Himmel ist im Innern, drum recke deine Liebesschwingen!
Wenn diese kräftig werden, braucht man sich um Leitern nicht zu kümmern.

Betrachte nicht die äußre Welt, im Aug’ drin ist die wahre Welt;
schließt du die Augen für die Welt, wird keine Welt mehr übrigbleiben.

Vergleichst du mit ’nem Dach dein Herz, so sind die Sinne Wasserspeier:
Trink doch vom Dach das Wasser, denn der Wasserspeier währt nicht ewig!

Sag von der Herzenstafel dies Ghasel auf bis zum Schluss, schau nicht
auf meine Zunge, weil sie samt den Lippen nicht für immer währt.

Der Leib des Menschen ist ein Bogen und Wort und Atem sind wie Pfeile;
bleibt weder Pfeil noch Köcher übrig, so bleibt dem Bogen nichts zu tun.

Ghasel 79

Zu lieben heißt, zum Himmel hochzufliegen

Zu lieben heißt, zum Himmel hochzufliegen, und
in einem Nu gleich hundert Schleier zu zerreißen,

beim ersten Atemzug den Atem anzuhalten,
beim ersten Schritt von seinen Füßen sich zu trennen

und diese Welt nicht in Betracht zu ziehn, nur das
zu sehen, was du selber schon betrachtet hast.

Ich sprach zum Herzen: »Herz, ich gratuliere dir,
dass du zum Kreis der Liebenden gestoßen bist,

indem du weiter blicktest, als das Auge reicht,
und in die Gasse eiltest, wo die Herzen wohnen.

Oh Herz, woher nur kommt wohl dieser Atem und
woher, oh Herz, gelangt zu mir wohl dieses Klopfen?

Oh Vogel, sprich doch in der Vogelsprache, denn
all deine Andeutungen höre ich heraus!«

Da sprach das Herz: »Ich war just in der Schöpfungswerkstatt,
als grad’ das Haus aus Lehm und Nass gebacken wurde;

und als die stoffliche Fabrik geschaffen wurde,
flog ich von dieser Stätte weg, und als ich mich

dann nicht mehr halten konnt’, zog man mich weiter fort;
wie könnt’ ich je die Weise dieses Ziehns beschreiben?«

Ghasel 136

Verzweifle nicht, oh Seele

Verzweifle nicht, oh Seele, Hoffnung ist erschienen!
Aus dem Verborgnen kommt die Hoffnung aller Seelen.

Verzweifle nicht, auch wenn Maria von dir schwand,
denn ’s Licht kommt an, das Jesus hoch zum Himmel zog.

Verzweifle nicht im Kerkerdunkel, meine Seele!
Der König kommt, der Josef aus dem Kerker holte.

Aus der Verhüllung tritt nun Jakob und es kommt
auch Josef, der Sulaikas Schleiertuch zerriss.

Der du des Nachts bis in die Frühe »Herr, oh Herr!« riefst:
Dies Flehn erhörte Seine Gnade, sie kommt an!

Du alter Schmerz, wie prächtig: Die Arznei kommt an!
Verschlossnes Schloss, geh auf, der Schlüssel kommt doch an!

Der du am hehren Tisch gefastet hast, brich freudig
dein Fasten, denn der erste Tag des Fests kommt an!

Seid still, denn wegen jener Weisung »Sei!« ist diese*
erstaunte Stille viel gewichtiger geworden!

Ghasel 71

* »Sei!« («Kun!»): das göttliche Schöpfungswort, entsprechend dem biblischen »Es werde!«. Siehe Koran 2:117.

Mag auch die ganze Welt voll Dornen sein

Mag auch die ganze Welt voll Dornen sein,
ist doch das Herz des Liebenden voll Rosen.

Mag auch das Himmelsrad sehr träge sein,
ist doch die Welt der Liebenden stets tätig.

Es mögen alle gramvoll sein, die Seele
des Liebenden bleibt lächelnd, froh und munter;

weis ihm den Platz an mit gelöschten Kerzen,
weil er doch hunderttausend Lichter hat;

ist er allein, ist er doch nie allein,
mit dem verborgenen Geliebten ist er.

Der Wein der Liebenden schäumt aus dem Busen;
der Intimus der Liebe ist ’s Geheimnis,

mit hundert Schwüren ist sie nicht zufrieden,
denn listenreich sind alle Herzensbrecher.

Wenn du ’nen kranken Liebenden erblickst,
steht ihm der Schöne nicht auf seiner Stirn?

Ein Reiter sei der Liebe, fürcht den Weg nicht,
das Liebespferd ist ein gewandtes Tier!

Mit einem Sprung nur trägt es dich zum Ziel,
auch dann, wenn es ein unwegsamer Weg ist.

Die Seele eines Liebenden weiß nichts
vom Futterfressen, denn sie ist betrunken.

Bei Schams ad-Din Tabrizi Wnd das Herz,
das völlig nüchtern ist und doch betrunken.

Ghasel 73

Allüberall kommt Gottes Duft hin

Allüberall kommt Gottes Duft hin; schau,
wie schwach die Menschen sind: Von Jenem,

nach Dem die Seelen dürsten, kommt der Ruf
des Wasserträgers zu den Dürstenden.

Die Milch der Gnade trinken sie und schauen
sich um, woher die Mutter kommen wird.

In Trennung sind sie alle, in Erwartung,
nach Einssein und Begegnung Ausschau haltend.

Von Christen, Juden und Muslimen kommt,
sobald der Morgen dämmert, der Gebetsruf.

Beglückt ist der Verstand, zu dem vom Himmel
ins Herzensohr der Ruf dringt: »Zum Gebet!«

Bewahrt die Ohren doch vor allem Schmutz,
vom Himmel nämlich wird ein Ruf erschallen,

ein Ruf den kein verschmutztes Ohr vernimmt,
doch jedem Würdigen wird er zuteil.

Verschmutz dein Auge nicht mit Mal und Flecken,
denn jener Schah der Ewigkeit kommt an,

und wird’s verschmutzt, so wasch es aus mit Tränen,
weil die Arznei aus diesen Tränen kommt.

’ne Zuckerkarawane aus Ägypten
kommt an, schon hört man Schellenklang und Schritte.

Doch schweig jetzt, denn zum Abschluss des Ghasels
ist unser Schah der Sprechenden gekommen!

Ghasel 81

Von allem auf der Welt erwähl ich Dich nur

Von allem auf der Welt erwähl ich Dich nur;
findst Du’s gerecht, wenn ich bekümmert bin?

Wie ’n Schreibrohr ist mein Herz in Deiner Hand;
mein Glück und meine Trauer sind von Dir nur.

Was will ich außer dem, das Du begehrst?
Was seh ich außer dem, das Du mir zeigst?

Mal Rose und mal Dorn entlockst Du mir;
mal riech’ ich Rosen und mal pflück’ ich Dornen.

Erachtest Du für jenes mich, dann bin ich’s,
und willst Du, dass ich dies sei, bin ich’s auch.

Was bin ich in dem Topf, in dem Du Herzen
einfärbst? Was ist mein Hass, mein Lieben dort?

Du warst der Erste und Du bist der Letzte:
Mein Letztes mache besser als mein Erstes!

Bist Du verborgen, bin ich glaubenslos,
und wenn Du sichtbar bist, dann bin ich gläubig.

Was hab ich außer dem, das Du bescherst?
Wonach durchsuchst Du Taschen mir und Ärmel?

Ghasel 117

Verstandesmenschen suchen stets das Rampenlicht

Verstandesmenschen suchen stets das Rampenlicht;
die Liebenden sind stets verrückt und außer sich.

Verstandesmenschen fliehn aus Angst vor dem Ertrinken;
den Liebenden ist das Ertrinken Alltagssache.

Verstandesmenschen finden Ruhe in der Rast;
den Liebenden ist’s Schmach, an Ruh’ und Rast zu hängen.

Der Liebende sitzt ganz allein im Kreis, so einsam
wie Öl und Wasser, die am gleichen Ort getrennt sind.

Wer Liebende beraten will in Sachen Liebe,
der erntet nichts als nur den Spott der Leidenschaft.

Die Liebe riecht nach Moschus, drum ist sie berüchtigt;
wie würd’ der Moschus diesen schlechten Ruf denn los?

Die Liebe ist wie ’n Baum – wer liebt, ist wie sein Schatten;
fällt der auch weit, so muss er doch am Ort verharren.

Fürs Klugsein muss das Kind ein alter Mann erst werden,
und um zu lieben, muss der Greis ein Jüngling sein.

Oh Schams, wer sich erniedrigt hat, um Dich zu lieben,
der wird erhöht, in Höhen, hoch wie Deine Liebe.

Ghasel 137

Drum sterbt, habt keine Furcht vor diesem Tod

So sterbt doch, sterbt! In dieser Liebe sterbt,
denn dann empfangt ihr allesamt den Geist!

Drum sterbt, habt keine Furcht vor diesem Tod,
durch ihn flieht ihr die Erde, greift zum Himmel.

Ja, sterbt, brecht von der Fleischesseele weg,
die gleicht ’ner Fessel und ihr gleicht Gefangnen.

Ergreift ’ne Axt und grabt euch aus dem Kerker!
Zerschlagt ihr den, seid ihr wie Schahs und Fürsten!

Drum sterbt! Sterbt vor dem anmutsvollen Schah,
dann seid ihr alle Schahs und ruhmbedeckt!

Ja, sterbt, aus dieser Wolke kommt hervor,
dann werdet ihr zu strahlend hellen Monden!

Seid still! Die Stille ist der Hauch des Todes,
vom Leben kommt’s, dass ihr den Stillen flieht.

Ghasel 72

© Otto Höschle 2023