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Ilia Delio

Die Liebe als Urkraft des Universums

Katzenaugennebel im Sternbild Drache

Katzenaugennebel NGC 6543 im Sternbild Drache. Quelle: Wikimedia Commons

Seit Jahrzehnten widmet sich die amerikanische Autorin Ilia Delio der Frage der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion. Aufbauend auf den wegweisenden Ideen von Teilhard de Chardin, liefert die Professorin der Theologie, Neurowissenschaftlerin und Schwester des Franziskanerordens damit mutige Gedankenanstöße zu einer neuen Thelogie, die im Bewusstsein des vervollkommneten Menschen das Ziel der Evolution sieht. Den Auftakt zur Publikation einer Reihe ihrer wichtigsten Werke im Chalice Verlag machen wir mit dem schmalen, aber gehaltvollen Band Ursächlich Liebe, dem die nachstehenden Ausschnitte entnommen sind.

er jesuitische Paläontologe, Philosoph und Theologe Pierre Teilhard de Chardin [/] (1881–1955) schrieb: »Die Liebe ist die universellste, die ungeheuerlichste und die geheimnisvollste der kosmischen Energien.« [1] […] Indem er die Erkenntnisse der Wissen­schaft auf die Metaphysik bezog, eröffnete uns Teilhard einen vollkommen neuen Weg, das Sein selbst als Liebe zu begreifen.

Da der theoretischen Physik zufolge Materie an sich relational ist, also aus Feldern vernetzter Energie besteht, existiert nichts unabhängig oder autonom. Wenn also Materie eine Energieform und die zentrale Ener­gie des Universums die Liebe ist, dann stellt jegliche Materie eine Form von Liebe dar: Sterne sind Liebesenergie, Zellen sind Liebesenergie, Pflan­zen sind Liebesenergie. Die Dinge existieren aufgrund ihrer Zusammenhänge und Wech­sel­wirkungen. Eine Philosophie der Liebe ließe sich demzufolge so ausdrücken: Das Sein erscheint nicht vor der Vereinigung, vielmehr bildet die Vereinigung die Grundlage des Seins. Teilhard schrieb, »dass das Erste auf der Welt für unser Denken nicht ›das Sein‹ ist, sondern ›die Ver­einigung‹, die dieses Sein erzeugt.« [2]

Cynthia Bourgeault: Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage?

Wirk­lich­keit bedeutet, »mit einem anderen zu sein« auf eine Weise, die offen ist für mehr Verei­nigung und mehr Sein. Wenn das Sein schwindet, liegt es daran, dass die Liebesenergie ausgelöscht oder erstickt wurde. Zu sein bedeutet zu lieben, füreinander zu existieren. Ich bin nicht da, damit ich besitzen kann; vielmehr existiere ich, um von mir selbst zu geben, denn im Geben bin ich ich selbst. Sein ist zuallererst ein Wir, bevor es ein Ich werden kann. Kein Wesen kann aufstehen und sagen: »Ich habe es allein ge­schafft.« Kosmisches Leben ist an sich gemeinschaftlich. Das Universum wird durch die Ener­gie der Liebe angetrieben, weil die Liebe das Herz des Universums ist. […]

Gott kommt ins Sein, weil die Welt ins Sein kommt; und die Welt kommt ins Sein, weil Gott ins Sein kommt.

Zu schöpfen bedeutet, etwas ins Sein zu bringen. Schöpferische Kraft ist vereinend und dynamisch, was der Grund dafür ist, dass Gottes Kreativität Gottes Liebe ist. Liebe ist hinausgehend, beziehungsorientiert und selbsthingebend. […]

Daher kann Gottes letzte Wirk­lichkeit an sich nicht in der Stofflichkeit loka­li­siert werden, sondern einzig und allein in der Personifizierung: in dem, was Gott dem Anderen gegenüber ist. Nur in der Gemeinschaft kann Gott sein, was Gott ist, und nur in der Gemein­schaft kann Gott überhaupt sein.

Teilhard sagte, die Komplementarität von Gott und Welt sei dergestalt, dass die zwei Seins­weisen zusammengebracht werden, jede auf ihre Weise. Jede existiert in sich selbst und ist dennoch vereint mit der anderen, sodass das abso­lute Höchstmaß einer möglichen Vereinigung in einer neuen Gott-Welt-Vereinigung verwirklicht wird. Die vereinende Beziehung von Gott und Welt bedeutet, dass Gott ins Sein kommt, weil die Welt ins Sein kommt; und die Welt kommt ins Sein, weil Gott ins Sein kommt. Teilhard drückt es folgendermaßen aus:

Sind wir nicht […] unausweichlich auf dem Wege zu einer ganz neuen Konzeption des Seins […]: Gott ist der Welt vollständig heterogen, und doch kann Er nicht auf sie verzichten? [3]

Ohne das physikalische Universum ist Gott nicht möglich, und ohne Gott würde das Uni­versum nicht existieren. Gott und Welt sind ein sich ergänzendes Paar und zusammen bilden sie ein vereinigtes Ganzes. Es ließe sich sagen, dass Gott und Welt in der Evolution ihr wechselseitiges Verlangen in einer Hochzeit von Him­mel und Erde ausleben, gerade weil Gott und Welt in schöpferischer Gemeinschaft ineinander ver­floch­ten sind. Jede Seinsweise existiert auf ihre eigene Weise in sich und miteinander,[4] sodass die schöpferische Bewegung des Lebens immer eine hin zur Fülle der Liebe ist, eine Bewegung, die zugleich göttlich, geschaffen und kosmisch ist. Die Welt ist nicht ex nihilo erschaf­fen, aus dem Nichts, sondern ex amore, aus der unend­lichen Liebe Gottes.

Unendliche Liebe kennt keine Grenzen. Weil Gott Liebe ist, ist Gott auch niemals solitär oder allein. Vielmehr ist, wie Alfred Whitehead [/] es ausdrückt, die Bedeutung des Einsseins eine schöpferische Einswerdung des Vielen: »Die vielen werden eins und [dadurch] um eins grö­ßer.« [5] Von aller Ewigkeit her wollte Gott ein An­deres lieben, nicht nur in Gottes eigenem dreifaltigen Leben, sondern in der unendlichen Vollkommenheit der Liebe, dem göttlichen Ver­langen, die Liebe mit einem Geschaffenen zu teilen. Die Inkarnation ist die Fülle der göttlichen Liebe. Gott macht aus Gottes eigentlichem Selbst der Welt ein ewiges Geschenk. Zu sagen, dass die göttliche Liebe die Welt ausdrückt oder in Worte fasst, heißt, dass die Welt seit Ewigkeit her im Herzen Gottes ist; die Materie ist im Geist Gottes, bevor sie die Erde unseres Lebens formt. […]

Pierre Teilhard de Chardin

Pierre Teilhard de Chardin. Quelle: Wikimedia Commons

Wenn wir uns auf die personalisierte Liebe einlassen, laden wir Gottes tiefere Verwirkli­chung in die und durch die erschaffene Realität ein. In jeder neuen Beziehung bringen wir neue Formen der Liebe ins Sein. Wir vergrößern das Wesen Gottes als Liebe. Folglich »schwelgt« Gott in der Schöpfung, weil wir in Liebesbezie­hungen gemeinsam mit Gott miterschaffen; mein Leben und Gottes Leben lassen sich kraft der Energie der Liebe miteinander ein.

Liebe absorbiert nicht etwa den einen in den anderen, sondern Liebe unterscheidet den einen vom anderen, denn nur in der Vereinigung mit einem anderen offenbart sich mein wahres Selbst. Je tiefer ich mich mit einem anderen vereinige, desto mehr bin ich ich selbst, da mein Wesenskern die Grundlage der Vereinigung ist. So ist also die Einheit der Liebe der strahlende Glanz der Personifizierung.

In Liebe zu wachsen, bedeutet, in meine eigene Identität als Person hineinzuwachsen, es bedeutet, in Freiheit zu wachsen. Nur in Freiheit kann ich wahrhaft eine Person sein, ein relationales Wesen, zuhause im unendlichen Ozean der Liebe Gottes; und in diesem Ozean göttlicher Liebe bin ich frei. […]

Ein unvollendetes Universum ist ein Univer­sum, das leidet und sich abmüht. Sich vorzustellen, dass Gott eine Welt ohne Schmerzen oder Risiken hätte erschaffen können, ist schlicht eine konzeptionslose Fantasie, weil der Schöpfungs­akt aus Liebe immer das Ringen nach der vollkommenen Liebe einschließt. Teilhard schrieb: »Alles, was nicht ›zu Ende organisiert‹ ist, muss unausweichlich unter seiner residuellen Unorga­ni­sa­tion und seiner möglichen Desorganisation leiden.« [6] Leiden spielt eine Rolle in der Unter­stützung Gottes bei der Erfüllung Seines Pro­jekts für die Welt, und zwar in erster Linie, weil Leiden in Kreativität verwandelt werden kann. Dies ist heute unsere große Herausforderung: Wie wir das Leiden der Welt in die Kreativität der Liebe transformieren können.

Das Leiden der Welt ist kein Argument gegen die Liebe Gottes. Es ist vielmehr der Schlüssel zum Verständnis unserer höheren Berufung zur Liebe. Gott bestimmt nicht, was gut für uns ist, sondern lädt uns ein, Entscheidungen zu treffen. Jede Handlung kann eine heilige Handlung sein, wenn sie der Liebe entspringt. Die größte Be­deu­tung unserer Arbeit liegt darin, dass sie Gottes eigenes Beziehungsleben berührt. Wenn wir zum Aufbau der Welt und zu unserer eigenen Entwicklung beitragen, machen wir einen positiven Unterschied im Leben Gottes. Wenn jedoch unser Schmerz uns isoliert und wir mit Gewalt, Hass oder Rache reagieren, verwandelt sich unser Wunsch nach Liebe in Übel. Daher führt der einzige Weg, uns zu einer stärker vereinigten Welt zu entwickeln, über die liebende Vergebung. […]

Wissenschaft ist eine Form von Liebe.

In Wahrheit sind wir zu so viel Bedeu­ten­derem ge­schaffen als bloß für Bits von Informa­tionen. Teil­hard de Chardin erkannte die entscheidende Notwendigkeit, Wissenschaft und Religion als Fenster des Wissens neu auszurichten, sodass wir die eine Welt sehen. Er realisierte, dass Wissen­schaft ohne Religion blind ist und zu Götzen­dienst führen kann, und Religion ohne Wissen­schaft zu Aberglauben. Wenn wir nach einer Einheit von Dasein und Zweck suchen, gilt es, Wissenschaft und Religion wieder miteinander in Einklang zu bringen.

Die Quelle dieser Ein­heit ist die Liebe. Wissenschaft ist eine Form von Liebe und ebenso verhält es sich mit Religion. Die tiefsten existenziellen Fragen werden durch das Verlangen zu wissen und zu lieben hervor­gebracht, weil der Verstand auf Ganzheit aus­gerichtet ist. Wenn unser Verstand die Wirk­lich­keit mehr als eine Frage begreift, statt dass er ihr vorgefertigte Antworten überstülpt, dann nehmen wir schöpferisch an der Entfaltung der Welt teil, wir werden zu Handwerkern der Zu­kunft.

© Ilia Delio 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Pierre Teilhard de Chardin: Die mensch­liche Energie, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1966, Seite 42.

[2] Pierre Teilhard de Chardin: Mein Glaube, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1972, Seite 270.

[3] Pierre Teilhard de Chardin: Wissenschaft und Christus, Olten und Freiburg i.Br.: Walter-Verlag, 1970, Seiten 103–104.

[4] Vergleiche Pierre Teilhard de Chardin: Mein Glaube, Seite 271.

[5] Vergleiche Alfred North WhiteheadProcess and Reality, New York: Free Press, 1979, Seiten 21–22.

[6] Pierre Teilhard de ChardinDie menschliche Energie, Seite 114.