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Wir sind eine Spezies, die zwischen zwei Achsenzeiten lebt. Entsprechend schwer tun sich unsere religiösen Mythen darin, mit den globalen geistigen und ökologischen Entwicklungen Schritt zu halten. In dieser Situation schlägt die Neurowissenschftlerin und moderne Theologin Ilia Delio einen neuen Ansatz vor: den der relationalen Ganzheit, der Suche nach einer Verbindung zum Göttlichen in unserer pluralistischen Epoche der Quantenmechanik und der Evolutionstheorie. Indem sie die Lehren des Psychoanalytikers C.G. Jung und des Evolutionstheologen Teilhard de Chardin zu einer inspirierenden Zusammenschau verschränkt, sagt die Autorin, dass unser Nach-Hause-Kommen zu uns selbst gleichzeitig die Individuation des noch nicht vollendeten Gottes darstellt.
Ein Ausschnitt aus der Einleitung zum Buch Der unfertige Gott von Ilia Delio
ir Menschen befinden uns im Übergang, sind uns aber nicht im Klaren darüber, wohin wir gehen. Wir haben eine Welt von außergewöhnlicher Komplexität errichtet, doch sie ist zu groß, als dass unsere kleinen Gehirne mit ihr fertig werden könnten. Die axialen Religionen entstanden in einem anderen Zeitalter und sind nicht länger hilfreich dabei, uns auf dieser Erdenreise in einem expandierenden Universum kollektiv zu führen. Religiöse Mythen gibt es im Überfluss, doch es sind widersprüchliche Stammeserzählungen und sie ersticken die Ganzheit, nach der wir so verzweifelt suchen.
Der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung [/] (1875–1961), glaubte, die wahre Religion müsse erst noch geboren werden. Seiner Ansicht nach hatte das Christentum den richtigen Pfad für ein Bewusstseinswachstum eingeschlagen, war aber ursprünglich nicht als eine neue Religion, und noch viel weniger als eine Institution gedacht gewesen. Wir zögern, uns dieser Frage zu stellen: Hat die Kirche die ursprüngliche Bedeutung des Neuen Testaments als den Weg zum Christusbewusstsein gekappt, indem sie die Christuserfahrung in eine durch griechische Metaphysik geprägte philosophische Doktrin umformte? Wie Jung, sagte auch der jesuitische Paläontologe und Philosoph Pierre Teilhard der Chardin [/] (1881–1955): »Ja.« Während das Neue Testament den Gottheiten und sich bekriegenden Religionen der Stämme ein Ende setzte, wurde es selbst von eng definierter Doktrin erstickt.
Ein Ausschnitt aus der Einleitung zum Buch Der unfertige Gott von Ilia Delio
Jung und Teilhard gingen das Wagnis ein, die Frage nach Gott auf die Ebene der menschlichen Erfahrung und des Wachstums, verstanden im Sinne der modernen Wissenschaft, zu verschieben. »Gott« ist der Name der transzendenten Psyche, des kollektiven Bewusstseins, der Tiefe und des Grundes der Materie. Wenn Materie der Spiegel des Geistes ist, wie Teilhard behauptet [siehe Ilia Delios Artikel »Von der Neigung der Materie hin zum Geist«], dann wohnt Gott der Materie inne und die Materie wohnt Gott inne, ohne dass die Materie kollabiert oder verschmilzt und ohne dass Gott zu einem vagen Gedankenanflug mutiert. Jeder Typ eines übernatürlichen Gottes ist eine wenig hilfreiche Abstraktion und lenkt unsere Aufmerksamkeit bloß von unserer göttlichen Tiefe ab in Richtung eines projizierten jenseitigen Reichs.
C.G. Jung und Teilhard de Chardin. Quelle: Wikimedia Commons
Wir suchen Gott, weil Gott uns sucht
Jesus von Nazareth tauchte in das vereinende Christusbewusstsein ein und lebte aus der Mitte seiner eigenen göttlichen Wirklichkeit heraus. Laut Jung ist Jesus das Muster des Christusbewusstseins, weil er, so wie wir, zur Gänze Mensch war. Jung resümierte die ursprüngliche Wirklichkeit der Inkarnation folgendermaßen: Die vielen Götter werden zu einem Gott, der eine Gott wird Mensch, und der Mensch soll Gott werden. Jeder Mensch vermag, göttlich, vollkommen und heilig zu sein. Gott sucht im menschlichen Leben Erfüllung, so wie das menschliche Leben in Gott Erfüllung finden will. Damit stimmte Teilhard völlig überein und begriff das andauernde Inkarnationsgeschehen als den Impuls der Evolution. Augustinus hatte recht, als er sagte: »Ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir.«[1] Wir suchen Gott, weil Gott uns sucht. Ohne Gott existieren wir nicht wirklich, und ohne die Menschen ist Gott eine Abstraktion.
Eine Kultur ohne Gott ist bloße kosmische Information, in welcher die menschliche Person Teil der Information wird, die gelöscht oder verändert werden kann. Der Glaube sagt uns etwas anderes. Wir sind hier, weil wir der denkende Teil des Universums sind, Teil eines kosmischen Ganzen, das in göttlicher Realität verwurzelt ist. Gott ist das Ganze des evolvierenden Ganzen, verschieden und dennoch untrennbar von allem anderen, was existiert. Relationaler Holismus bedeutet, dass alles miteinander verbunden ist. Es gibt keine getrennten Teile; vielmehr ist jede einzelne Entität durch ihre Beziehungen bestimmt.
Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, in der Personifizierung der göttlichen Liebe das Ganze zu verwirklichen.
Die Werke Jungs und Teilhards bewegen uns dazu, das christliche Narrativ als ein relationales Ganzes neu zu denken – als »Theohologie«. Holismus fordert eine neue Art von Logik, eine nicht durch Kausalität, sondern durch Relationalität definierte. Die Logik der Liebe ist die Logik des Ganzen; die Energie der Liebe ist die Energie des Ganzen. Liebe erkennt das Ganze, wo der voreingenommene Intellekt nur Fragmente sieht. Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, in der Personifizierung der göttlichen Liebe das Ganze zu verwirklichen.
Verwirklichung ist Teil des Individuationsprozesses, des Nach-Hause-Kommens zu uns selbst als nicht weiter zurückführbare Fraktale des göttlichen Lichts. Carl Gustav Jung und Pierre Teilhard de Chardin unternahmen diese Reise. Sie waren Mystiker, die aus ihrer eigenen inneren Tiefe heraus dachten und den Puls des Lebens spürten, unerschrocken im Angesicht von Macht und Autorität oder kleinen Göttern, die die Wahrheit verdrehen. Wenn wir nach logischen und kausalen Erklärungen suchen, wie wir unser Leben zu führen haben, und nach Institutionen, die uns erlösen sollen, dann werden wir als Erdengemeinschaft scheitern.
Die Göttlichkeit der Materie muss in den suchenden Menschen wiedergeboren werden, in jenen, die sich dem Vertrauten zuwenden und es mit neuen Augen sehen können. Die Quantenwelt ruft diese neuen Mystikerinnen und Mystiker hervor, die von einem tieferen Zentrum aus träumen und von einem unbekannten Lebensfrühling her lieben, denn sie leben bereits in der Welt von morgen.
© Ilia Delio 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas
Anmerkungen
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[1] Augustinus von Hippo: Confessiones – Bekenntnisse, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München: Kösel-Verlag, 1966, Kapitel 1:1.1; «Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in Te».
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