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Cynthia Bourgeault

Wie und wo finden wir mystische Hoffnung?

Cnthia Bourgeault: Mystische Hoffnung

Foto: Pexels / cottonbro studio

In Zeiten persönlicher Sorgen, aber auch angesichts des bedrückenden politischen und ökologischen Zustands unserer Welt fällt es vielen Menschen schwerer und schwerer, Hoffnung zu schöpfen. Cynthia Bourgeault sagt: Wahre, eigentliche oder »mystische« Hoffnung sollte nicht als Objekt, sondern als Subjekt verstanden werden, denn sie entspringt der nie versiegenden Barmherzigkeit Gottes. Ein Ausschnitt aus einem Interview mit der Autorin, welches das Schlusskapitel ihres neuen Buches Mystische Hoffnung bildet

Ausschnitte aus dem Buch Mystische Hoffnung: Im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Mystische Hoffnung

rage: Weil du von »mystischer Hoffnung« sprichst, wäre es vielleicht sinnvoll, mit einer sehr grundlegenden Frage zu beginnen: Was ist mit diesem Zusatz »mystisch«, oder mit dem Begriff »Mystik« überhaupt, gemeint? In deiner Biografie steht, du seist eine »moderne Mystikerin«. Wie unterscheidest du heutige Mystik von jener der Vergangenheit, und gibt es besondere Herausforderungen oder Notwendigkeiten vor die sich eine heutige Mystik gestellt sieht? Sind wir alle dazu aufgerufen, Mystikerinnen und Mystiker zu werden, und wenn ja, warum? Oder geht es um etwas anderes, wenn wir von »mystischer Hoffnung« sprechen? Könntest du also skizzieren, was Mystik ist?

 

Ein Denken auf Basis von imaginativer Kausalität 

Cynthia Bourgeault: Zuallererst möchte ich sagen, dass ich mich selbst nie als »moderne Mystikerin« bezeichnet habe. Dieses Etikett − ich nehme an, mit einem solchen Begriff lassen sich mehr Bücher verkaufen − wurde mir von einem ambitionierten Werbetexter angeheftet und irgendwie ist es kleben geblieben.

Ausschnitte aus dem Buch Mystische Hoffnung: Im Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes von Cynthia Bourgeault

Cynthia Bourgeault: Liebe ist die Antwort. Wie lautet die Frage?

»Mystik« war seit jeher ein problematischer Begriff in unserem Vokabular, weil es praktisch unmöglich ist, das Wort ohne Projektionen zu hören; und diese Projektionen sind überaus vielfältig. Ich erinnere mich noch gut an einen Lehrerkollegen an der Vancouver School of Theology [/], der vehement gegen Mystik eingestellt war und sagte, sie sei lediglich eine Ausrede für verschwommenes Denken. Sehr verbreitet ist eine Art Pop-Vorstellung von Mystik: Jemand beginnt, mit Gott zu kommunizieren, erlebt eine Erfahrung des Einsseins und kommt, zusammenhangloses und unverständliches Zeugs stammelnd, aus dieser Erfahrung zurück, als hätte sich sein Hirn während dieses intimen Zusammenseins mit Gott gänzlich besoffen. Diese Art Vorstellungen sind, wie ich finde, romantisierende Einschätzungen der dabei ablaufenden Grundprozesse.

Mystik ist im Wesentlichen eine Einladung, unser Herz auszudehnen zu einem Organ spiritueller Wahrnehmung, sodass wir viele Dinge erkennen können, die andere übersehen.

Meiner Meinung nach − und ich will gerne hinzufügen, dass mein Zugang zu diesem Thema im Laufe der Zeit immer »technischer« geworden ist − bedeutet Mystik vor allem ein Denken auf Basis von imaginativer Kausalität. Anders ausgedrückt: ein Denken, das nicht den linearen und logischen Gesetzen dieser Welt unterworfenen ist, sondern vielmehr den höheren Welten folgt und in dem verankert ist, was Gurdjieff das »Gefühlszentrum« nannte, wodurch wir über sogenannte sympathische oder Saitenresonanz [/] in Einklang kommen und das »Denken« in einer weniger linearen und folglich wesentlich schnelleren Geschwindigkeit arbeitet, als es bei unserem üblichen rationalen Verstand der Fall ist. Beim mystischen Denken, also dem Denken mit dem Gefühlszentrum, ist es fast so, als ob es zu einem direkten Download von Information kommt. Ich spreche hier aber nicht von einer Art Channeling, sondern davon, dass wir diese Information sehr, sehr schnell und in einer hohen Dosis erhalten. Die meisten großen innovativen theologischen Denker und Denkerinnen haben meiner Ansicht nach auf diese Art gedacht.

Mystik wird gerne damit assoziiert, dass jemand Gott besonders nahe sei, sich sozusagen auf einer inneren Spur befinde. Ich glaube, diese Vorstellung sentimentalisiert fälschlicherweise die Mystik, was letztlich dadurch erklärbar ist, dass mystisches Denken tatsächlich »herzzentriert« ist (wenn man diesen Ausdruck verwenden will), da das Herz das Organ für diese höhere und schnellere spirituelle Wahrnehmung ist. Viele Leute erkennen den Zusammenhang nicht oder übersehen die Tatsache, dass diese eben erwähnte Intimität mit Gott eigentlich jedem Menschen offensteht.

Meine Antwort auf die Frage, ob wir heutzutage alle dazu aufgerufen sind, Mystiker zu sein, lautet also definitiv: Ja. Und zwar insofern, als dass wir alle eingeladen sind, hinter das Äußerliche, das Vordergründige der Dinge zu schauen. Lineare Kausalität folgt einer Logik, die einfach zu langsam ist, um dem Ausmaß und der Geschwindigkeit göttlicher Einsicht zu folgen und diese in sich aufzunehmen. Was es schwierig macht, ist, dass viele die Mystik als eine seltene, besondere Gabe betrachten und glauben, einige Menschen würden über dieses Geschenk verfügen und andere nicht, was dann einen gewissen Neid entstehen lässt auf diejenigen, die von dieser mystischen Berührung »ergriffen« werden und als eine Art »Gotteskenner« aufs Podest gestellt werden. Ich denke aber, wir sprechen unterschiedliche Sprachen, und das aus gutem Grund. Denn die Sprache der Mystik redet vom Erkunden, vom Vertrauen und von der Stabilisierung der Tiefe unserer eigenen Beziehung mit jener Welt, welche nicht sichtbar ist und nicht reduzierbar auf Logik und Denotation. Mystik ist im Wesentlichen eine Einladung, unser Herz auszudehnen zu einem Organ spiritueller Wahrnehmung, sodass wir viele Dinge erkennen können, die andere übersehen. […]

Frage: Du hast von der »imaginativen Welt« gesprochen. Das ist ein Begriff, der jenen etwas vertrauter sein dürfte, die sich intensiver mit der islamischen Mystik auseinandergesetzt haben. Du hast auch eine »Welt der Barmherzigkeit« erwähnt und bezogst dich dabei auf das intelligible Universum der griechischen Patristen und die imaginative Welt der islamischen Mystik. Ist mystische Hoffnung demnach eine Nuance davon?

Cynthia Bourgeault: Mystische Hoffnung leitet sich von der Fähigkeit ab, sich innerhalb dieser Bandbreite zu bewegen. Ob diese nun als »intelligibel« oder als »imaginativ« bezeichnet wird, spielt keine Rolle, das sind bloß Namen. Doch wie Teilhard de Chardin [/] bemerkte (und in einem meiner Vorträge dieses Kurses ging es genau darum), erfordert es ein gewisses Maß an Vorbereitung, an Disziplin und an intuitivem Verständnis, sich in einer schnelleren Geschwindigkeit bewegen und die Innerlichkeit der Dinge einfangen zu können. »Imaginative Welt« und »intelligible Welt« sind in gewissem Sinn Metaphern zur Beschreibung eines bestimmten Bereichs der Wirklichkeit, der sich in einem erhöhten Grad von Resonanz, Kohärenz und Lichtstärke bewegt. […]

In unserer Zeit werden viele der schönen Ausdrücke spiritueller Praxis in Modelle von Macht, Autorität, Scham und Schuld gezwungen. Das ist bedauerlich.

Das Wort »Barmherzigkeit« trägt ein reiches Erbe der Hingabe

Frage: Du sprichst davon, dass mit dem Wort »Barmherzigkeit« eine Menge Ballast verbunden sei. Auch eine Teilnehmerin fühlt sich damit etwas unbehaglich; sie denkt, dass es irgendwie unvollständig sei, und fragt, ob es vielleicht einen anderen Begriff gibt, der etwas offener ist und jenen Aspekt des »Schoßes« beschreibt, über den du gesprochen hast.[1] Ein Wort also, das diese Unvollständigkeit etwas beheben würde.

Cynthia Bourgeault: Das ist eine Frage, die typisch ist für unsere Zeit, in der so viele der schönen Ausdrücke spiritueller Praxis in Modelle von Macht, Autorität, Scham und Schuld gezwungen werden. Das ist bedauerlich. Klar könnten wir einfach ein neues Wort einführen, das allen genehm ist, eines das »sauber« und antiseptisch klingt, weit und geräumig. Aber damit würden wir unsere Verbindung zu einer außerordentlich reichen Tradition kappen. Im Wort »Barmherzigkeit« hören wir dagegen die tiefgründenden Pfeiler der griechisch-orthodoxen Kirche, wenn das »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner« im Jesusgebet erklingt, das Kyrie eleison, und das Gefühl von Gottes Erbarmen mit mir spürbar wird, von dem Jacques Lusseyran [/] so häufig spricht. Dieses Wort trägt ein reiches und tiefgründiges Erbe der Hingabe; es beinhaltet etwas von dieser wunderschönen schöpferischen Weite. Falls wir tatsächlich ein »besseres« Wort fänden, würden wir all das abschütteln. Wir würden eine lange Tradition abschneiden, die existiert und die unseren persönlichen christlichen Weg vertieft. Früher oder später werdet ihr darauf stoßen; ihr werdet das Herzensgebet entdecken. Praktisch alle wachsenden oder sich weiterentwickelnden Christen tun dies. Und ihr entdeckt das echte höhere Gefühlszentrum, die Lebendigkeit des Wortes »Barmherzigkeit«.

Gleichwohl würde ich denjenigen, die Mühe mit diesem Wort haben, empfehlen, sich – quasi als Rettungsring – für den Moment an den Begriff »Schoß« zu halten und das Wort »Barmherzigkeit« zu belassen, wie es ist. Mal schauen, ob es nicht möglich ist, langsam aber sicher jene zeitgenössischen Reflexe umzuprogrammieren, die diese schlechten Assoziationen auslösen, und uns die spirituellen Schätze zurückzuholen, die in der Welt existieren. Falls dieses Vorgehen absolut nicht in Frage kommt, sollte man es besser sein lassen. Ich denke, dann sollte man ein Wort finden, das einem genehm ist und es als Platzhalter benutzen. Doch sollte man das Wort »Barmherzigkeit« nicht vergessen, nicht einfach aufgeben und meinen, es sei kompromittiert und gehöre ersetzt. Vielleicht muss man es einstweilen tatsächlich durch einen Platzhalter ersetzen, ja. Es gibt rund um die Bedeutung dieses Wortes so viel an Verwundungen in unserer Kultur, doch dessen ungeachtet: Legen wir es nicht für immer beiseite! […]

Ab einem bestimmten Punkt treffen wir auf Lehrerinnen oder Lehrer, die uns sanft in die Richtung von etwas weisen, das sie als »non-duales Bewusstsein« bezeichnen.

Von der Hoffnung als Objekt zur Hoffnung als Subjekt

Frage: In der Lektion »Hoffnung und Zukunft« sprachst du von den Möglichkeiten, die in einem Perspektivwechsel von der Hoffnung als Objekt zur Hoffnung als Subjekt liegen. Kannst du dies noch einmal für uns darlegen?

Cynthia Bourgeault: Die Schwierigkeit, diese perspektivische Wende zu verstehen, ist sprachlich begründet. Beide Wörter haben mindestens zwei komplett unterschiedliche Bedeutungen. Abhängig von der Tradition, in der man arbeitet, kollidieren sie manchmal miteinander und verheddern sich.

Auf eine ganz simple Art, die uns allen aus der Grammatik vertraut ist, lässt es sich wie folgt erklären: Das Subjekt ist jemand oder etwas, der oder das handelt, und das Objekt ist jemand oder etwas, an dem die Handlung vollzogen wird. So werden diese beiden Begriffe im Allgemeinen erklärt. In unserer herkömmlichen Art des Denkens tendieren wir dazu, von diesem inneren Gefühl der Subjektivität, von diesem »Ich«, wer oder was auch immer das sein mag, (hin)auszugehen und mit den Objekten (da draußen) zu interagieren. Wir können diesen subjektiven Pol, diese sonderbare Innerlichkeit, zwar spüren, aber nicht wirklich dingfest machen. Du weißt nicht, was dein Ich ist, aber du weißt, dass es da ist. Diese Subjektivität ist sehr eng verbunden mit dem Sitz unserer Lebendigkeit, und die Objekte sind all die Dinge da draußen in der Welt, außerhalb von uns.

Wenn wir nun auf unserer spirituellen Reise voranschreiten, treffen wir ab einem bestimmten Punkt auf Lehrerinnen oder Lehrer, die uns sanft in die Richtung von etwas weisen, das sie als »non-duales Bewusstsein« bezeichnen. Sie bringen die Menschen dazu zu lernen, diese Subjekt-Objekt-Polarität zum Einsturz zu bringen und nicht länger einfach nur durch diese zweigeteilte Brille zu schauen: Was ich im Inneren bin, schaut auf die Welt dort draußen. Stattdessen lernen wir, einen Bereich der ungeteilten Aufmerksamkeit zu halten, ohne diesen in individuelle Teile und Splitter zu zerbrechen. In dieser Konfiguration können wir das Ganze wahrnehmen, in dem ich mich selbst wandle, also das Subjekt sich verändert. Beatrice Bruteau [/], eine der großen metaphysischen Lehrerinnen, die versucht hat, von der westlichen Philosophie her eine Brücke dazu zu bauen, sagt, dass die Subjekt-Objekt-Dichotomie am subjektiven Ende zusammenbricht, sodass alles zu einer Ausdehnung wird, die nicht mehr »ich« oder »mein« sein kann, sondern nur noch eine umfassende Gegenwart. Das ist die eine Art, in der diese Begriffe benutzt werden.

Um das Ganze aber noch etwas verwirrender zu machen: Normalerweise setzen wir, wenn wir über die Begriffe »subjektiv« und »objektiv« sprechen, manches Objektive mit der wissenschaftlichen Methode gleich. Und dieses interpretieren wir dann als etwas, das außerhalb von uns ist, das nicht von uns beeinflussbar ist. Wenn wir dann versuchen, objektiv zu sein, bemühen wir uns, all unsere subjektiven Gefühle auszuschließen. So wurde ursprünglich die ganze wissenschaftliche Methodik begründet und die wissenschaftliche Revolution angestoßen. Aber beispielsweise die Poesie oder die Beat-Generation verabscheuten diesen Gedanken und setzten zum Gegenangriff an; sie wandten ein, es sei absolut unmöglich, objektiv zu sein. Heisenberg [/] sagte dazu: »Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr mit der Welt interagieren könnt, ohne sie zu verändern. Vergesst das, Leute!« Dieses ganze Konzept einer strikten wissenschaftlichen Objektivität ist stark unter Druck geraten und bricht in einer dialektischen Welt zusammen.

In den inneren Traditionen des Erwachens hingegen, und dies ist eine weitere Ebene der Komplexität dieser Begriffe, neigt man dazu, der Subjektivität die Bedeutung von etwas Persönlichem, etwas Beschränktem zu verleihen, das stark durch die Gefühle beeinflusst wird, durch unser alltägliches Selbstgefühl, durch unsere Meinungen, durch unsere Vorlieben und unsere Voreingenommenheit. Gemäß dieser Sicht hat das Objektive, etwa objektive Wahrheit oder objektive Liebe, keine Eigeninteressen und steht nicht unter dem Einfluss dessen, was man persönlich will und braucht. Dadurch können wir klarer sehen, weil wir das Bild nicht ständig neu zu kalibrieren brauchen, damit es das reflektiert, was wir selbst wollen. Auf diese Weise wird für uns ein größerer Anteil der Wahrheit sichtbar und wir beginnen, in Übereinstimmung mit Gesetzen zu sehen, deren Ursprung in Welten liegen, die feiner sind als die unsrige. Wenn wir also Begriffe wie »objektive Liebe« hören, ist damit keine kalte, klinische Liebe gemeint, sondern eine Liebe, in der es nicht um die eigenen Erfordernisse oder subjektiven Bedarfe geht. Diese Liebe kann unvoreingenommen lieben, sie ist von keinen sie stimulierenden Objekten abhängig. Diese Liebe liebt, weil sie liebt. Viele von euch, die an diesem Kurs teilgenommen haben, konnten den Geschmack dieser objektive Liebe zum Beispiel wahrnehmen in den Aufgaben und in den Lasten, die ihr im Rahmen der Übung des absichtsvollen Leidens übernommen habt.

Um dieses Thema abzuschließen: Die Verwendung der Begrifflichkeiten »Subjekt« und »Objekt« kann sehr verwirrend sein, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie auf welchem Spielfeld genutzt werden. Teil unserer anstrengenden Arbeit ist es, schnell genug zu erkennen, in welchem Kontext gerade gesprochen, auf welchem Feld gerade gespielt wird.

 

Szene aus Babettes Fets

General Löwenhjelm: Szene aus dem Film Babettes Fest. Quelle: Dänisches Filminstitut [/]

Alles ist von höchster Wichtigkeit und herrlichster Unwichtigkeit

Frage: Sind unsere Entscheidungen wichtig, haben sie überhaupt eine Bedeutung? In den Lektionen, in denen du über die Fülle der Zeit und die stellvertretende Liebe gesprochen hast, nahmst du vor allem den Film Babettes Fest und daraus insbesondere die Rede General Löwenhjelms als Beispiel, um dieses schwierige Thema zu erläutern. Im besagten Handlungsstrang des Films geht es um einen eigentlich schwachen Mann, den General Löwenhjelm, der in seiner Jugend glaubte, eine schwierige Entscheidung treffen zu müssen, nur um Jahre später herauszufinden, dass seine Entscheidung keinerlei Bedeutung hatte. In seiner abschließenden Analyse scheint Löwenhjelm folgerichtig zu verneinen, dass unsere Entscheidungen irgendeine Relevanz haben könnten, wenn er sagt, die Barmherzigkeit sei grenzenlos und sogar das, was wir abgelehnt haben, werde zu uns zurückkehren und uns erneut gegeben werden. Andererseits scheint mit der Aufforderung der Sufis »Stirb, bevor du stirbst« verbunden zu sein, dass wir Augenblick für Augenblick Entscheidungen treffen sollen (worüber auch Ladislaus Boros in seinem Buch Mysterium mortis schreibt). Deine eigene Auslegung, Cynthia, geht dahin, dass der innere Mensch nicht bloß die gereifte Frucht dessen ist, was wir auf unserer persönlichen Lebensreise erfahren, sondern eine alchimistische Transformation davon. Die Frage zielt also darauf ab, ob wir uns der Hoffnung bemächtigen und sie in einem kontemplativen Leben nutzen und wie wir mit unseren Entscheidungen umgehen sollten.

Cynthia Bourgeault: Das ist eine sehr, sehr gute Frage, welche herrliche Bereiche spiritueller Feinheit berührt. Ich erinnere mich an meinen monastischen Lehrer Bruno Barnhart [/], diesen wunderbaren Weisen aus dem Karmeliterorden im Kloster New Camaldoli Hermitage [/] in Big Sur, Kalifornien, der mir einmal Folgendes geschrieben hat: Wir gehen durch unser Leben mit der Vorstellung, alles hinge von bestimmten Entscheidungen ab, davon, ob wir an einer Weggabelung diese oder jene Richtung einschlagen, ob wir diese oder jene Berufswahl treffen würden und so weiter. Aber bei allen Entscheidungen, sagt er, ist auch Verlust involviert. Von viel größerer Bedeutung ist, was in uns als das nächste Ergebnis unserer niemals perfekten und immer voreingenommen Entscheidungen hervorgerufen wird.

Bruno Barnhart versuchte damit, genau das zu formulieren, was man auf der spirituellen Reise so häufig hört: Unsere Wahl ist entscheidend und auch nicht entscheidend. Wir müssen also unser Bestes geben, uns verantwortlich verhalten; doch gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, dass unsere Wahl ein Sprung ins Dunkle sein wird oder in gewissem Sinn ein Bauernopfer, ein Schachzug nach draußen, und der Kosmos wird auf das reagieren, was wir hin(aus)gegeben haben. So kommt es zu einem reziproken, wechselseitigen Dialog, der aus den Entscheidungen erwächst, die wir treffen. Und daraus entsteht auf der anderen Seite eine Art Lebendigkeit, die in gewissem Sinne durch unsere Entscheidungen das Auftauchen der Person [oder des wahren Selbsts] bestimmt. Im Prinzip ist die einzelne Entscheidung als solche nicht wirklich wichtig, sondern vielmehr die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit, mit der wir um eine Entscheidung ringen, also das, was in uns hervorgerufen wird als Antwort auf unser inneres Ringen, und das, was wir als Nächstes tun. Aus all diesen Schritten in dem Prozess des Ringens, aus dieser ganzen Skala an Entscheidungen, beginnt in uns ein Sein aufzutauchen, welches uns erlaubt zu verstehen, dass wir tatsächlich zurückerlangen, was wir dachten aufgegeben zu haben. So erkennen wir, dass alles gleichzeitig von höchster Wichtigkeit und von herrlichster Unwichtigkeit ist.

 

Ich denke, dass das Herz eine Absicht trägt, die nicht unser Streben nach Gott ist, sondern Gottes Streben nach dem Leben.

Das Herz lebt in seiner eigenen Zeitlichkeit

Frage: Also kommt das auf uns zurück, was wir abgelehnt haben? Was heißt das konkret für unsere einzelnen unbewussten Handlungen, für unser schlechtes Timing und unser Vergessen. Wird dies irgendwie »aufbereitet« und kommt dann als etwas ganz Konkretes zu uns zurück?

Cynthia Bourgeault: Wir müssen das Ganze gelassen betrachten. Diese Art wundervoller Fragen kann ein ganzes Leben des Nachdenkens und des Wachsens eröffnen. Den Schlüssel zu diesem Koan finden wir in Blaise Pascals [/] berühmtem Ausspruch: »Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.« Ich denke, dass das Herz eine Absicht trägt, die nicht unser Streben nach Gott ist, sondern Gottes Streben nach dem Leben, das sich in uns, durch uns und als uns manifestiert. Einige Dinge in uns sind wirklich tief und gleichbleibend, und selbst wenn wir alles daransetzen, sie zu verleugnen oder aufzugeben, verschwinden sie dennoch nicht. Und zwar manchmal nicht deshalb, weil wir uns noch immer an sie klammern und an ihnen hängen, sondern weil sie einfach nicht weichen.

Bei Löwenhjelm stellte es sich so dar, dass er an diese junge Frau, die er einst in zarter Rohheit verlassen hatte, nicht besonders viele Gedanken verschwendete, damit der Trennungsschmerz schnell heilen sollte. Als er aber fünfunddreißig Jahre später zurückkehrt, ist es, als ob er nie weggegangen sei. Denn das Herz lebt in seiner eigenen Zeitlichkeit. Ich glaube, dies war es, woran er in seiner Tischrede im Speziellen dachte. Er rät uns, sich mit Entscheidungen nicht allzu sehr zu quälen, einfach weil unser Herz als das geheimnisvolle Geschenk Gottes in gewisser Weise jenseits unserer Wahl und unserer Entscheidungen liegt. Es wird tun, was es tut. Und was dazu bestimmt ist, in unserem Leben zu sein, wird Wege finden, darin zu sein – manchmal geschieht dies noch nicht einmal physisch.

Ich erinnere mich an ein wundervolles, kurzes Gedicht von William Butler Yeats [/]:

Andere wurden, da du nicht hieltest
Jenen tief geschwornen Schwur, mir Freunde.
Doch stets im Angesicht des Todes,
Wenn des Schlafes Höhen ich erklimm’,
Oder der Wein meinen Geist verzückt,
Sehe ich ganz unvermittelt dein Gesicht.[2]

Ich finde, diese Worte treffen es. Wie können wir wissen, welche Gesichter wir sehen werden? Wie können wir wissen, wer in unserem Leben bleibt? Ich möchte euch also aufrufen zu vertrauen, tief zu vertrauen. Ich habe diese Lehre in meinem Kurs-E-Mail unter anderem deshalb mit euch geteilt, weil so viele von uns ihr Leben wie ein Stellwerk einrichten und dann sagen: »Ich habe diese Entscheidung getroffen, und das hat mich dahin gebracht, und dann habe ich jene Entscheidung getroffen…« Und dann leiden sie darunter, den scheinbar ureigenen Kurs verloren zu haben, den sie doch eigentlich hatten einschlagen wollen. Die meisten von uns, die vierzig Jahre oder älter sind, haben eine Menge dieser Weichenstellungen hinter sich und bei vielen entwickelt sich eine tiefe Art von Gram und Bedauern, weil sie angeblich jene eine falsche Wahl getroffen haben, als sie um die zwanzig Jahre alt waren, weil sich ihr Leben anders entfaltet hätte, wären sie damals doch nur in eine andere Richtung gegangen. Diese Art von Denken führt zu rein gar nichts.

Der große imaginative Trost jedoch lautet: Nein! Dein Leben ist in seiner ganzen Fülle gegenwärtig! In deinem Herzen. In jedem Augenblick. In diesem Augenblick. Genau jetzt. Alles, was wir hätten sein können, alles, was wir waren, all das, was Gott in uns ist, all das, was wir in Gott sind, alles ist genau hier. Der Weg, um wirklich gegenwärtig zu sein und das, was nach Verlust aussieht, loszulassen, besteht darin, in unser Herz zu gelangen. Bringen wir uns in die Gegenwart und erkennen wir, dass alles nicht nur noch immer möglich, sondern auf eine Art und Weise bereits vollendet ist.

 

Pietà von Michelangelo
Sphinx

Pietà von Michelangelo (1499) und ägyptische Sphinx aus Memphis (1700–1400 v.Chr.)

Mitgefühl mit dem Zustand der Menschheit

Frage: Zu Beginn sprachen wir darüber, was mystische Hoffnung ist und was sie nicht ist, und vor allem, dass sie bedeutet, sich nicht an ein erwartetes Ergebnis zu klammern und so weiter. Wenn wir diese Art von Hoffnung in die Welt hineintragen wollen, stellt sich das als einigermaßen herausfordernd dar. Die nächste Fragestellerin ist zwar überzeugt davon, dass Hoffnung eine Energie ist und dass, wenn das Gebet der Sammlung praktiziert wird, diese Energie der Welt angeboten wird. Dennoch erlebt sie sich selbst als vollkommen aus dem Gleichgewicht geworfen, wann immer es an unseren Schulen zu diesen Schießereien kommt (ganz besonders vielleicht, weil sie früher als Grundschullehrerin gearbeitet hat). In solchen Momenten, sagt sie, greift sie immer wieder auf die Willkommensübung zurück,[3] um ihre Gefühle anzuerkennen und loszulassen, die sie jeweils so stark aus dem Gleichgewicht werfen. Was kann man tun, um stabil zu bleiben angesichts solch überwältigendem Schmerz, sei es im Zusammenhang mit dieser Schusswaffengewalt oder im Kontext all der anderen schrecklichen Geschehnisse unserer Zeit?

Cynthia Bourgeault: Auch das ist eine tiefgehende Frage. Ich möchte hier folgenden Rat erteilen: Wenn du diesen schwierigen Weg – Hoffnung in die Welt zu tragen – wirklich gehen willst, solltest du zuhause zwei Symbolfiguren besitzen: eine (wenn möglich nicht allzu dramatische oder hysterische) Darstellung der Pietà [/], also der Mutter Gottes, die den Leichnam ihres Sohnes auf dem Schoß hält, nachdem er vom Kreuz genommen wurde, und eine Darstellung der Sphinx.[4] In beiden dieser Symbole ist eine ganz besondere Qualität zu erkennen, die man vielleicht als »objektive Dämpfung« bezeichnen könnte und die dein Herz nicht verhärtet, sondern es zum Fundament der Erde bringt. Was hierbei so wichtig ist, ist dieses Mitleid oder Erbarmen (la pitié, wie die Franzosen sagen), dieses Mitgefühl mit dem Zustand der Menschheit, mit der universalen Traurigkeit, mit dem, was im Herzen einer Mutter hervorgerufen wird, deren Sohn von einem blutrünstigen Mob derart unfassbar unbarmherzig aufgeknüpft wurde – und es auszuhalten.

Was ich im Folgenden sagen werde, ist tatsächlich hart, und ich möchte euch bitten, wirklich gut zuzuhören, um zu verstehen, von welchem Ort aus ich spreche. Ein Großteil unserer kulturellen Konditionierung in jüngster Zeit hat uns wesentlich dünnhäutiger, verletzlicher und sentimentaler werden lassen. Wenn uns diese Wellen des Leids überrollen, etwa bei den Nachrichten von diesen Schießereien an unseren Schulen, dann haben wir nichts in uns, was dies zu ertragen vermag. Doch es muss etwas in uns geben, das diesem Leid gewachsen ist, falls jemals irgendetwas geschehen soll, ohne dass wir dieser Raserei verfallen. Das ist Christus am Kreuz. Das ist die Höllenfahrt Christi. Wir müssen lernen, in dieser Gegenwart zu sein und es einfach zu ertragen, es zu halten, es im Namen Gottes, im Namen des Leids unseres gemeinsamen Vaters zu halten. Wir müssen einsehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt verdammt nochmal nichts tun können.

Irgendwann wird das Spiel einen anderen Verlauf nehmen, und wenn dies geschieht, werden wir äußerst auf der Hut sein müssen, um den erforderlichen Schwenk zu machen. Aber gerade jetzt steckt dieses Amerika in dieser Pathologie der Schusswaffengewalt gefangen, und deren Wurzeln reichen so tief und sind so sehr in unserer Kultur verankert, in unserer Ichbezogenheit, unserer Selbstsucht, in der Art und Weise, wie wir Bildung vermitteln, wie wir kommunizieren − all diese Sachen, wie diese Dinge laufen, das ist ein derartiges Schlamassel, wenn man es analysiert. Nur auf der Ebene des imaginativen Ertragens werden wir fähig sein, das Spielfeld umzugestalten, sodass etwas Neues entstehen kann. Irgendwann wird es geschehen. Bis dahin dürfen wir es nicht zulassen, dass unsere Herzen sich verhärten, aber auch nicht, dass sie im Angesicht dieser großen Tragödie zerstört werden. Denn es ist unser Herz, aus dem die Tiefen unserer Humanität hervorgerufen werden, und zwar auf eine kaum erträgliche Art und Weise. Dazu ist die spirituelle Arbeit da. […]

 

Alle diese Übungen sind darauf angelegt, Hoffnung zu machen.

Occupy Hope!

Frage: Eine letzte Frage betrifft das Konzept des »Hoffnungmachens«. Vielleicht ist dies einer der wichtigsten Verbindungspunkte: Wie wir vor dem Hintergrund dieser ganzen Ideen, dieser Begriffe und dieser wunderbaren Reflexionen schließlich hinausgehen in die Welt, sie betrachten und mit ihr im Austausch stehen. Es wäre schön, wenn du also noch ein paar Worte dazu sagen könntest, wie wir es anstellen sollen, nicht nur über die Hoffnung nachzudenken, sondern sie auch zu »schaffen«.

Cynthia Bourgeault: Vielleicht sollten wir uns irgendwo T-Shirts machen lassen mit dem Aufdruck »Occupy Hope!«. All die Übungen, mit denen wir uns in diesem Kurs beschäftigt haben, sind darauf angelegt, Hoffnung zu machen. Und ich muss sagen, ich habe noch keinen Online-Kurs erlebt, der so geprägt war von harmonischer Konsistenz und in dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen so schnell in die Tat umsetzten, was sie verstanden haben. Wir haben also tatsächlich Hoffnung gemacht. Ich möchte hier an die mit uns geteilten persönlichen Erfahrungen von euch allen erinnern, die beispielhaft von der Schönheit der menschlichen Verbundenheit erzählt haben. Also befinden wir uns bereits in dem Prozess, Hoffnung zu erschaffen. Es sind diese kleinen einfachen Geschichten aus dem Leben, die auf ihre Art eher Unübliches beschreiben, aber etwas höchst Geheimnisvolles in sich tragen, das in die Gegenrichtung dessen verläuft, wohin sich unsere harte, empfindungsarme, kalte und angsteinflößende Kultur gerade bewegt.

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Anmerkung der Übersetzer: Cynthia meint damit »unsere vom Erbarmen Gottes umgebene Existenz im Uterus der Erde«. Der islamische Gottesname ar-Rahim, »der Barmherzige«, bedeutet gleichzeitig »der Schoß« oder »der Mutterleib«.

[2] “Others because you did not keep // That deep sworn vow have been friends of mine; // Yet always when I look death in the face, // When I clamber to the heights of sleep, // Or when I grow excited with wine, // Suddenly I meet your face.” Deutsche Übersetzung: Chalice Verlag.

[3] Hierbei handelt es sich um eine Übung, die in den späten 1980er-Jahren von einer der engsten Mitarbeiterinnen von Thomas Keating [/] entwickelt wurde und seither in der Bewegung des Gebets der Sammlung unter verschiedenen Namen gelehrt wird, als »Übung des offenen Geistes und offenen Herzens«, als »Übung des Begrüßens« oder als »Willkommensgebet«. Beschreibungen der Übung finden sich in Cynthia Bourgeault: Das Herz im Gebet der Sammlung, Seiten 104–106, und Jesus: Meister der Weisheit, Seiten 202–215.

[4] Anmerkung der Übersetzer: Gurdjieff beschreibt die Bedeutung des Symbols der Sphinx in seiner typischen enigmatischen Ausdrucksweise folgendermaßen: »Dadurch wird ausgedrückt, dass bei all unserem von unserem eigenen Bewusstsein hervorgerufenen inneren und äußeren Funktionieren eine solche Liebe immer und in allem vorherrschen sollte, wie sie nur im Bestande solcher Verdichtungen [d.h. in Körper, Gefühl und Verstand] entstehen und vorhanden sein kann, die sich an den gesetzmäßigen Teilen jedes verantwortlichen Wesens bilden, auf dem die Hoffnungen unseres gemeinamen Vaters beruhen« (siehe Georges Iwanowitsch Gurdjieff: Beelzebus Erzählungen für seinen Enkel, Band 1, Basel: Sphinx Verlag, 1981, Seite 331).