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Yvonne Ferger

Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit?

Yvonne Ferger: Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit?

Foto: Pexels

Das, wovon wir aufgrund unserer Glaubenssätze und unseres Weltbildes überzeugt sind, erfahren wir als »unsere« Wirklichkeit. Aber wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Im Buch Wir Kinder der Unendlichkeit der Psychologin Yvonne Ferger geht es unter anderem um die Frage nach der Bewusstwerdung des Wirklichen

Yvonne Ferger: Wir Kinder der Unendlichkeit

o wollen wir nun zu verstehen beginnen, dass die Welt, in der wir leben, keine Scheinwelt, sondern vielmehr das Reich der Wirklichkeit ist, von welcher der Mensch nur eine falsche Vorstellung hat. [1]

Joel S. Goldsmith

Ladislaus Boros Gesamtausgabe Band 9

Für spirituell ein wenig Bewanderte ist es längst keine Frage mehr, sondern Fakt, dass auf unserer Erde ein neuer Wind weht mit einem neuen Bewusstsein, aus dem irgendwann später ein neues Zeitalter hervorgehen wird. Wir befinden uns zwar, und entgegen der Meinung in manch esoterischen Kreisen, noch nicht darin – in diesem neuen Zeitalter –, erleben aber ganz gewiss schon seine Vorboten. Und diese sind in ihren Auswirkungen auf Erde, Mensch und Welt schon erstaunlich genug… Sodass wir spüren, wie das, was wir bisher für »die Wirklichkeit« hielten, gewaltig zu flackern, ja durchsichtig zu werden beginnt. Dahinter blitzt überall, immer öfter, immer machtvoller, schon etwas überraschend Neues auf: jene andere Wirklichkeit, von der Weise und Mystiker aller Zeiten schon immer als der einen und einzig wahren Wirk­lichkeit sprachen. Und in Anbetracht dieses sich abzeichnenden immensen Umbruchs darf man daher schon einmal fragen: »Wie wirklich ist eigentlich unsere Wirklichkeit?«

 

Die wahre Wirklichkeit befindet sich im Inneren von allem, was ist

Das für uns Menschen charakteristische, so genannte mentale Be­wusstsein ist darauf spezialisiert, die physische Welt, in der wir leben, zu erfassen. Sein Fokus ist somit auf das rein äußerliche (materielle) Erscheinungsbild der Welt gerichtet. Es sieht nur die oberflächliche Außenansicht der Dinge; das, was sich in deren Tiefe verbirgt, sieht es nicht. Die wahre Wirklichkeit aber befindet sich im Innern von allem, was ist.

Das, wovon ein Mensch aufgrund seiner Glaubenssätze und seines Weltbildes überzeugt ist, erfährt er als »seine« Wirklichkeit, so wie aus dem kollektiven Bewusstsein der Menschheit auch eine entsprechende gemeinsame »Wirklichkeit« entsteht.

Auch unsere physischen Sinne können diese Wirklichkeit nicht wiedergeben, weil sie sie nicht unmittelbar, sondern nur indirekt über den Verstand erfassen, der mit seinen Bewertungen und Kommentaren ständig dazwischenfunkt. (Deshalb hieß es zuvor, dass unser Verstand der eigentliche »Betrüger« sei, eben weil er die Wahrnehmung der Welt permanent verfälscht.) Er überlagert die an sich neutralen Sinneseindrücke mit alten Gefühlen, Gedanken und vorgefertigten Meinungen, die er zu den beobachteten Objek­ten, Wesen oder Umständen hegt, sodass wir in einer immer wieder in die Zukunft projizierten wiedergekäuten Vergangenheit leben. Zumindest so lange, wie wir uns vom Verstand (ver-)leiten lassen…

Wir nehmen die Welt daher aus einem massiv eingeschränkten und verzerrenden Blickwinkel und mittels einer Masse von Vorstellungen über die Wirklichkeit wahr, aber eben nie die Wirklichkeit selbst. Nichts erkennen wir so, wie »Gott es schuf«, sondern immer nur als das, was unser kleiner, besserwisserischer Verstand aus den Dingen und Geschehnissen macht. Auf diese Weise erschafft und lebt jeder in seiner eigenen (Schein-)Realität. Denn das, wovon ein Mensch aufgrund seiner Glaubenssätze und seines Weltbildes überzeugt ist, erfährt er als »seine« Wirklichkeit, so wie aus dem kollektiven Bewusstsein der Menschheit auch eine entsprechende gemeinsame »Wirklichkeit« entsteht. Es ist uns daher zunächst erst gar nicht möglich, für eine unberührte, reine Gegenwart offen zu sein und für ein Jetzt voller Wunder, das sich unweigerlich aus ihr ergäbe.

Sri Aurobindo

Aurobindo Ghose um 1900. Quelle: Wikimedia Commons

Aber dennoch gibt es sie: die wahre Wirklichkeit – die Welt der Wahrheit! Denn das Universum, in dem wir leben, ist an sich keineswegs eine Illusion. Es ist vielmehr die Widerspiegelung eines allumfassenden wahren und unendlichen geistigen Seins und Be­wusstseins. Welches man die »höchste Wirklichkeit« nennt. Und da diese wirklich ist, muss alles, was aus ihr hervorgeht, wesenhaft ebenfalls wirklich sein. Der große indische Weise und Philosoph Sri Aurobindo [/], der – zusammen mit seiner spirituellen Gefährtin Mirra Alfassa – als einer der bedeutendsten Wegbereiter des neuen Bewusstseins gilt, führt in einem seiner Bücher das logische Beispiel eines goldenen Gefäßes an, das nicht weniger wirklich sein könne als das rohe Gold, aus dem es geschmiedet wurde. So betrachtet entstammt unsere physische Welt in ihrem Ursprung nicht nur einer wahren und wirklichen Welt, sondern Gottes Welt. Gott ist der Schöpfer von allem, was ist, deshalb ist alles Erschaf­fene ein Teil von Ihm und bleibt in Ihm geborgen bis in alle Ewigkeit.

 

Das »Wahrheitsbewusstsein« jenseits des mentalen Bewusstseins

An dieser Stelle müssen wir jedoch zwischen dieser göttlichen Schöpfung und dem, was der Mensch daraus macht, unterscheiden. Da Gott nicht nur der Allmächtige, sondern auch der Allwissende und das All-Gute ist, kann Er grundsätzlich nur Wahres und Gutes erschaffen. Da ist kein noch so kleiner Platz für Irrtum, Illusion oder gar das Böse. Weshalb es in der Schöpfungs­geschichte der Bibel ja auch heißt, dass Gott am sechsten Tag Seine Schöpfung betrachtete und sah, dass alles »sehr gut« war.

Die Be­wusstseinsebene, aus der heraus Gott erschafft, ist – der Begrifflich­keit Sri Aurobindos zufolge, der sich damit auf die Veden bezieht – das sogenannte »Wahrheitsbewusstsein«, das sich jenseits des menschlichen mentalen Bewusstseins befindet. Wir Menschen können aufgrund unseres durchweg noch beschränkten Bewusst­seins diese Ebene der wahren Wirklichkeit jedoch noch nicht erfassen. Daher schleichen sich zwei grundlegende Ursachen für Irrtümer ein, die die ursprüngliche Schöpfung verfälschen. Sie sind die Basis für eine Unzahl sich daraus fortsetzender Illusionen und Irrtümer, die sogar so weit gehen, dass irregeleitete (Un-)Men­schen versuchen, aus Gottes Himmel eine Hölle zu machen.

Es gibt keine ursprüngliche kosmische Illusion, sondern nur eine unvollkommene oder noch unwissende Interpretation des menschlichen Verstandes.

Die erste Ursache des Irrtums liegt darin, dass das mentale Be­wusstsein nicht in der Lage ist, die wahre Wirklichkeit zu erfassen, eben weil sie eine spirituelle oder geistige Wirklichkeit ist, der Mensch sich aber in einer physischen Wirklichkeit, einer Welt der Materie wähnt. Deshalb versucht der Verstand, geistige Wahr­heiten in eine physische Bildersprache zu übersetzen, wodurch viel Wahrheitsgehalt verloren geht: »Wir sehen die Wirklichkeit durch die Unwirklichkeit hindurch.« [2]

Man kann dem mentalen Be­wusst­sein zugutehalten, dass es zwar nicht fähig ist, die Wahrheit an sich zu begreifen, sich aber immerhin um eine Annäherung bemüht. Es ringt darum, mit endlichen Mitteln die Unendlichkeit zu erfassen. Aber so, wie ein zweidimensionales Bewusstsein ein dreidimensionales Objekt eben nur zweidimensional wiedergeben kann und daher anstelle einer Kugel einen Kreis sieht und statt eines Würfels ein Quadrat, wird auch hierbei etwas anderes wiedergegeben. Bei dieser »Transkription von Wirklichkeit« [3] werden neue, noch unbekannte Inhalte einer (höheren) Wirklichkeit in schon vorhandene, vertraute Bilder und Symbole einer (niederen) Wirklichkeit übersetzt, was unweigerlich zu Einschränkungen und Verzerrungen führt.

Aber auch wenn unser Verstand somit vieles verzerrt, verbergen sich hinter all den irdischen Bildern und Sym­bolen doch ursprüngliche wahre Wirklichkeiten und Ideen. Daher ist nur das physisch wirkende beziehungsweise als körperhaft gedeutete Erscheinungsbild eine Täuschung, nicht aber die göttliche Wahrheit, die sich darin widerspiegelt. Es gibt also keine ursprüngliche kosmische Illusion, sondern nur eine unvollkommene oder noch unwissende Interpretation des menschlichen Verstandes. Und dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nur ein Bewusstsein, welches das mentale Bewusstsein transzendiert – ein »Überbewusstes« –, fähig ist, die ganze und wahre Wirklichkeit von allem zu erfassen.

So entsteht um die innere Wirklichkeit herum eine äußere illusorische und künstliche Welt, die der Mensch so lange als seine Wirklichkeit erfährt, wie er von ihr überzeugt ist.

Die zweite Ursache für Irrtümer, und sogar für ein sich daraus ergebendes Böses, besteht darin, dass der menschliche Verstand – solange er noch ungeläutert ist – vom Ego mit seiner Selbstbezogen­heit gesteuert wird und daher dazu neigt, die Dinge so zu sehen, wie er sie sehen will. Oder aber auch als das, was er fürchtet, nur um seine Angst selbstgefällig bestätigt zu bekommen, nach dem Motto: »Wusste ich’s doch!«

 

»Nichts Unwirkliches existiert«

Solange der Mensch Gottes wahre Schöpfung in ihrer unermesslichen Schönheit, ihrer überwältigenden Sinnhaftigkeit und ihrer einzigartigen kosmischen Harmonie noch nicht erkennt, dient sie ihm somit als eine Art »Leinwand«, auf die er seine noch unerlösten Bewusstseinsinhalte projiziert: seine Hoffnungen ebenso wie seine Befürchtungen, seine Kleinheit und seinen Größen­wahn. So entsteht – gewissermaßen um die innere Wirklichkeit herum – eine äußere illusorische und künstliche Welt, die der Mensch allerdings so lange als seine Wirklichkeit erfährt, wie er von ihr überzeugt ist. Und die in ihrer Unwirklichkeit als digitale und übertechnisierte Welt inzwischen sogar so weit entartet ist, dass für diejenigen, die ihrem verführerischen Sog allzu sehr erliegen, die Gefahr besteht, sich vollends darin zu verlieren.

Einem solch endgültigen Unheil ist jedoch zum Glück dadurch vorgebeugt, dass vom menschlichen Möchtegern-Schöpferlein nichts erschaffen werden kann, das nicht ursprünglich auf einer gött­lichen Wahrheit beruht: »Nichts Wirkliches kann bedroht werden. Nichts Unwirkliches existiert. Hierin liegt der Frieden Gottes.«, wie es das Buch Ein Kurs in Wundern so einzigartig formuliert.[4]

Und so ist diese unwirkliche Wirklichkeit zwar in der Lage, mit lautem Säbelgerassel, mit Kriegsgetöse und all ihren sonstigen Schrecknissen manchmal eine fast maßlose Mächtigkeit vorzu­täuschen, wahre Macht jedoch besitzt sie nicht. Denn wirk-lich Machtvolles wirkt immer still und leise. Nur das in seinem Grunde Unwirkliche hat es nötig, nach außen hin Macht zu demonstrieren, weil es weiß, dass es – früher oder später – wie ein müder Schat­ten in den Strahlen der ewig lächelnden Sonne verlischt.

Gesicht hinter Fenster

Foto: Pexels / Vika Glitter

Ein weiteres Glück ist, dass es nicht nur von der Welt zwei Va­rianten gibt, sondern auch vom Menschen selbst. Auch hier gibt es den äußeren, physischen Menschen und den inneren, geistigen. Der eine ist sichtbar, der andere nicht. Nur der innere Mensch, den man auch »die Seele« nennt, ist fähig, die ewige, göttliche Wahrheit jenseits der Erscheinungen zu erkennen, da er selbst ewig, göttlich und wahrhaftig ist. Je mehr diese Seele in einem Menschen erwacht, umso weiter dehnt sich dessen zuvor »unbewusstes« Bewusstsein in das bereits erwähnte »Überbewusste« hinein aus. Denn die Seele steigt in immer höhere Bewusstseins­ebenen empor, aber auch in immer tiefere hinab, die sie dann von noch unerlösten alten Ablagerungen reinigt und klärt.

Ein solchermaßen geläuterter Mensch betritt damit immer wirklichere Sphären des Lebens und der Erfahrung, bis er schließlich – auf der höchsten Höhe wie in der tiefsten Tiefe seiner selbst – das all­gegenwärtige, absolute Sein entdeckt und sein wahres, göttliches Selbst. Und wer das Göttliche in sich wiedergefunden hat, findet sich wieder in der wahren, göttlichen Welt, denn sein Selbst ist ja zugleich das eine Selbst von allen und allem.

Und genau dies ist es, wovon sich derzeit die ersten hoffnungsvollen Anfänge zeigen: die der wahren Wirklichkeit, die jetzt allen, die schon mit er­wachenden Seelenaugen schauen, aus den verblassenden Schatten irrwitziger Illusionen heraus die Ahnung des goldenen Lichtes eines neuen Zeitalters offenbart…

© Yvonne Ferger / Chalice Verlag 2024

Anmerkungen

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[1] Joel S. Goldsmith: Der Weg zum Unendlichen, Gelnhausen: Heinrich Schwab Verlag, 1966, Seite 24.

[2] Sri Aurobindo:Das göttliche Leben, Band 2, Teil 1, Gladenbach: Hinder und Deelmann, 1991, Seite 170.

[3] Ebenda, Seite 154.

[4] Ein Kurs in Wundern, Freiburg i. Br.: Greuthof Verlag, 2016, Vorwort, Seite xviii.