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Jonathan Rowson

Leben in der Metakrise

In diesem von der Filmemacherin Katie Teague [/] produzierten halbstündigen Video spricht der schottische Philosoph, Autor und Schachgroßmeister Jonathan Rowson [/] über das, was er »die Metakrise unserer Zeit« nennt und über ihre Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und unser spirituelles Lebensverständnis. Mit freundlicher Erlaubnis publizieren wir hier eine deutsche, leicht redigierte Transkription seiner Worte. Jonathan Rowson und Katie Teague sind Studenten der Weisheitsschule von Cynthia Bourgeault.

Yvonne Ferger: Wir Kinder der Unendlichkeit

Der 1977 geborene Jonathan Rowson [/] ist Philosoph und Autor sowie schottischer Schachgroßmeister und dreifacher britischer Schachmeister. Sein Studium in Oxford und Harvard schloss er mit einer Doktorarbeit über das Thema »Weisheit« ab. 2016 gründete er gemeinsam mit dem schwedischen Finanzier, Sozialunternehmer und Club-of-Rome-Mitglied Tomas Björkman [/] das Forschungsinstitut Perspectiva [/], als dessen Direktor er bis heute tätig ist und das zu »besseren Beziehungen zwischen Systemen, Seelen und der Gesellschaft« beitragen will. Jonathan ist Autor einiger auch auf Deutsch erschienener Schachbücher [/] sowie von zahlreichen Essays und Forschungsberichten. In der Denkfabrik Das Progressive Zentrum [/] kann man seinen Text Spiritualise: Wie spirituelle Sensibilität helfen kann, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen als PDF herunterladen. Sein aktuelles, autobiografisch-philosophisches Buch The Moves that Matter: A Chess Grandmaster on the Game of Life ist 2019 bei Bloomsbury erschienen.

Yvonne Ferger: Wir Kinder der Unendlichkeit

Die Metakrise ist die historisch einzigartige Bedrohung des Wahren, des Schönen und des Guten, die wir verursachen durch unser anhaltendes Missverständnis, Falschbewerten und Unterschlagen der Wirklichkeit.

Sie ist eine Folgeerscheinung der materiellen und spirituellen Erschöpfung der Moderne.

Sie ist eine mannigfaltige Selbsttäuschung. Sie ist eine Krise innerhalb, zwischen und jenseits unserer bisherigen Vorstellungen des Krisenhaften.

Und sie manifestiert sich institutionell und kulturell zum Nachteil des Lebens auf der Erde.

Bei der Metakrise geht es um so etwas wie unsere Beziehung zu sämtlichen Krisen in der Welt, und somit ist sie inhärent reflexiv. Es geht bei ihr darum, nachzudenken und zu reden darüber, welchen Bezug das Wesen des Menschen zu ihr hat. Das ist etwas ganz anderes als eine Polykrise oder eine Permakrise und all jene anderen Begriffe. Die Metakrise zeichnet sich dadurch aus, dass sie die menschliche Innerlichkeit und Relationalität als fundamentalen Teil des Problems oder, besser gesagt, der Problematik versteht.

Ladislaus Boros Gesamtausgabe Band 9

Der 1977 geborene Jonathan Rowson [/] ist Philosoph und Autor sowie schottischer Schachgroßmeister und dreifacher britischer Schachmeister. Sein Studium in Oxford und Harvard schloss er mit einer Doktorarbeit über das Thema »Weisheit« ab. 2016 gründete er gemeinsam mit dem schwedischen Finanzier, Sozialunternehmer und Club-of-Rome-Mitglied Tomas Björkman [/] das Forschungsinstitut Perspectiva [/], als dessen Direktor er bis heute tätig ist und das zu »besseren Beziehungen zwischen Systemen, Seelen und der Gesellschaft« beitragen will. Jonathan ist Autor einiger auch auf Deutsch erschienener Schachbücher [/] sowie von zahlreichen Essays und Forschungsberichten. In der Denkfabrik Das Progressive Zentrum [/] kann man seinen Text Spiritualise: Wie spirituelle Sensibilität helfen kann, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen als PDF herunterladen. Sein aktuelles, autobiografisch-philosophisches Buch The Moves that Matter: A Chess Grandmaster on the Game of Life ist 2019 bei Bloomsbury erschienen.

Yvonne Ferger: Wir Kinder der Unendlichkeit

Die andere Art – eigentlich gibt es deren viele –, die Metakrise zu betrachten, liegt darin, sie als ein Zeichen zu verstehen, dass die Moderne an ihr Ende gekommen ist. Dies wird gut eingefangen von dem Bild, dass wir in »einer Zeit zwischen den Welten« leben, wie es der Neurowissenschaftler und Erziehungsphilosoph Zachary Stein [/] in seinem gleichnamigen Buch ausdrückt.[1] Und weil wir in einer Zeit zwischen den Welten leben, ergeben die Dinge keinen Sinn mehr und fallen auseinander. Und damit sind wir beim Kulturphilosophen

Jean Gebser und seiner These vom Zusammenbruch unserer mental-rationalen Funktion,

womit er klipp und klar sagt,[2] dass wir intellektuell schlicht und ergreifend nicht mehr mitkommen. Der intellektuellen Funktion gelingt es einfach nicht mehr, der Welt einen Sinn abzuringen. Die Welt verfinstert sich oder übersteigt unser Vermögen, den Sinn des Ganzen zu verstehen. Und das alles sind Anzeichen dafür, dass die existierende Form des Bewusstseins sich weiterentwickeln und wachsen muss.

Doch ich glaube auch, dass die Metakrise eine Lebensweise ist; damit meine ich, es gibt eine Art, an ihr zu partizipieren. Wenn wir sie als eine Behauptung aufstellen und versuchen, die Metakrise zu definieren, wird sie nur zu einem weiteren Konzept unter einer Million anderen. Die Metakrise ist unsere tägliche Erfahrung einer auseinanderfallenden Welt. Sie ist unsere Ungläubigkeit angesichts dessen, wie seltsam alles wird: das rasante technologische Wachstum in Kombination mit synthetischer Biologie, künstlicher Intelligenz und virtueller Realität, die die Welt des Lebens verändern. Und dann haben wir Sachen wie die Gentechnik, die das Leben als solches verändern. Zudem leben wir möglicherweise auch in einer neuen Phase der geologischen Zeit. Die Wissenschaft streitet zwar noch immer darüber, aber so wie es aussieht, geht das Holozän praktisch zu Ende. Diese stabile geologische Periode, die viele Jahrtausende gedauert hat, ist heute labil geworden, und wir sind dabei, unbekanntes Terrain zu betreten, ein Gebiet, das auf keiner Karte verzeichnet ist. Wir können klar erkennen und auch spüren, dass wir an die planetaren Grenzen stoßen.

Eine Kurzdefinition könnte ungefähr lauten: »Die Metakrise ist alle anderen Krisen zusammengenommen«, wozu die Leute dann sagen würden: »Alles klar, wir verstehen.« Aber sie verstehen nicht! Denn das ist nicht wirklich alles; das ist lediglich der Beginn des Gesprächs darüber.

Die Metakrise zeigt sich auch darin, wie wir in der Welt einen Sinn sehen, wie wir sie spüren und wie wir ein Gefühl entwickeln für unsere Beziehung zu ihr.

Die Metakrise wird ebenfalls sichtbar in unserer Unfähigkeit, in diesem Zusammenhang unser Selbst vollkommen auszudrücken und zu erzählen. Und die Metakrise ist auch mit aufgetaucht und koexistent mit dieser besonderen historischen Epoche.

Es ist nicht so, dass es bisher noch keine Metakrisen gegeben hätte. Man könnte etwa argumentieren, die Zeit Christi sei eine Art Metakrise gewesen. Wenn man an die Besetzung durch das Römische Reich denkt, an die religiöse Leidenschaft eines Volkes, das den Messias erwartet, und dann taucht da dieser Mensch auf, der offensichtlich Wunder vollbringt… Die Leute waren vollkommen verwirrt. Ähnlich ergeht es uns in der heutigen Zeit. Dies ist nur ein Beispiel von vielen möglichen. Es ist also nicht so, dass wir bisher keine historischen Turbulenzen gehabt hätten.

Aber die Frage, ob es in unserer Gegenwart etwas gibt, was sich besonders von den bisherigen Turbulenzen unterscheidet, muss bejaht werden. Denn heute sind wir tatsächlich dabei, unser einziges Zuhause zu zerstören. Unser kostbarer Planet in der Unendlichkeit des Weltraums ist bedroht; nicht notwendigerweise insofern, dass er vernichtet wird, aber insoweit, dass er nicht weiter als Habitat für das menschliche Leben funktionieren kann. Das ist nun infrage gestellt. Formen von Technologie entwickeln sich heute derart rasant, dass wir uns auf eine Welt mit autonomen Waffen zubewegen, die tatsächlich zu massiver Zerstörung führen können. Und dann sind da auch noch all die Nuklearwaffen… Was heute also anders ist, ist das Ausmaß des Risikos für den Planeten als Ganzes. Das ist eines der charakteristischen Merkmale der Metakrise.

Dennoch möchte ich über die Metakrise auf eine Art und Weise sprechen, die uns nicht nur lähmt und verwirrt und uns dazu verdonnert, als passives Subjekt auf ein unbekanntes Objekt zu starren, mit dem wir nicht vertraut sind, und zu klagen: »Oh nein, da ist diese Metakrise – und ich kann nichts mehr tun!« Das ist nicht die richtige Reaktion.

Die Metakrise ist unser historisches Erbe.

Wir sind in sie hineingeboren; wir sind die Generation, die sie wahrnimmt, sie fühlt. Sie ist das Kartenblatt, mit dem wir nun spielen müssen. Sie ist nichts, was wir reparieren können. Das Problem des Krisennarrativs liegt darin, dass wir stets mit einer Art passiver Problemlösungsmentalität daran herangehen. Das würde aber bedeuten, das Wesen der Metakrise vollkommen falsch zu verstehen. Was im Moment geschieht, ist ein sehr langsam verlaufender historischer Prozess, der auf eine bestimmte Art und Weise kulminiert und beginnt, sich in etwas anderes zu verwandeln. Das Wesen dessen, in das er sich transformiert, wird davon abhängen, ob wir überleben und gedeihen oder kollabieren werden.

Von dem, was ich hier sage, bin ich zu neunzig Prozent überzeugt. Aber ein anderer Teil in mir fragt: Können wir sicher sein, dass dies »eine Zeit zwischen den Welten« ist? Kommt die Moderne wirklich an ihr Ende? Wenn ich Elon Musk oder Sam Altman, dem Gründer der Firma OpenAI, sagen würde, dass die Moderne gerade endet, würden sie mich wohl auslachen. Ich stelle mir also vor, wie die Vertreter dieser anderen Seite sagen: »Die Moderne ist nicht am Ende. Wovon redest du? Sie ist eben erst am Abheben. Wenn überhaupt, wird die Technologie die Welt radikal verändern und eine Menge unserer Probleme lösen.«

Aber das ist nicht mein Gefühl. Ich tendiere politisch, sozial, kulturell und intellektuell nicht in diese Richtung. Zwar ist es möglich. Es ist denkbar, dass wir neue technologische Lösungen finden werden für Dinge wie die Kernfusion, sodass uns Energie im Überfluss zur Verfügung steht. Und es ist vorstellbar, dass man viele der Krankheiten, die uns heute noch leiden und sterben lassen, in den Griff bekommen wird. Es ist möglich, dass die Mächtigen, die derzeit so abgehoben zu sein scheinen vom Rest der Welt, irgendwie demokratisch eingebunden und wieder in die Gemeinschaft zurückkehren werden, sodass die riesigen Gewinne, die es gegenwärtig nur für eine sehr kleine Minderheit gibt, breiter verteilt werden. Es kann sein, dass die Menschen dies einfordern werden.

Ich neige also nicht grundsätzlich zu der Ansicht, dass der Kollaps absolut unvermeidlich ist. Aber ich habe das Gefühl, dass eine Art von Zusammenbruch bereits im Gange ist. Und daher müssen wir uns der herausfordernden Frage stellen:

Wie kann eine transformative Antwort auf diesen Kollaps aussehen?

Ich sage dies alles in einer Küche in einem Londoner Vorort, wo ich ein ziemlich ausgefülltes und gesundes Leben in einem – von kleineren Ausnahmen abgesehen – mehr oder weniger sicheren und demokratischen Land führe. Einiges von der Skepsis, Dissonanz und Verwirrung, die ich hier vorbringe, kommt daher, dass wir so tun, als ob wir unser gewohntes, normales Leben weiterführen könnten, während wir doch gleichzeitig auf unseren Mobiltelefonen die Nachrichten verfolgen, die besagen, dass alles auseinanderfällt. Und dennoch gehen wir einkaufen, holen unsere Milch und kommen nach Hause zurück, so als ob alles normal und in bester Ordnung sei. Auch dies kennzeichnet die Metakrise: die Erfahrung von Verwirrung, die zu einem Bestandteil unseres Lebens geworden ist; die Meldungen auf unseren Handys, dass unsere Welt am Kollabieren ist – und wir leben unser Leben, als ob alles genauso und für alle Zeiten weitergehen könne.

Wie viele, viele Millionen andere Menschen wurde ich mit einer Vorstellung davon erzogen, was normal ist. Und vieles vom dem, was gerade vor sich geht, ist eine Art des Sich-Klammerns an diese Normalität und geht einher mit Forderungen wie: »Lasst uns die Probleme lösen! Lasst uns die Demokratie stärken! Schauen wir, dass der freie Markt funktioniert, möglichst ohne Umweltsünden! Ja, es gibt Probleme mit der starken Migration, aber wir könnten doch mehr Wohnungen bauen!« Es existiert eine Art Vorstellung, dass es mit Notlösungen und Instandsetzung getan sei.

Aber viele Leute fühlen dies nicht in ihrem Herzen; viele spüren, dass irgendetwas ganz anders ist. Ich glaube, in unserer weltweiten Community erkennen die meisten, die sich ein Bild von der Lage machen, dass dieses Behelfs-und-Reparatur-Narrativ sich falsch anhört. Es erscheint sehr unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher mutet es an, dass es in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten – so genau lässt sich das nicht sagen – zu Formen der Auflösung und des Kollapses in verschiedenen Teilen der Welt kommen wird.

Wir sehen bereits heute, wie Menschen an Hitze sterben oder ihr Zuhause in Überschwemmungen und Waldbränden verlieren. Wie sehr die künstliche Intelligenz den Arbeitsmarkt umkrempeln wird, haben wir noch nicht ansatzweise begriffen, aber sie wird es tun. Wir haben bereits erlebt, wie Deep Fakes demokratische Wahlen beeinflussen, und das wird zunehmen. Die Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa [/] sagt voraus, 2024 werde das letzte Jahr sein, in dem es noch echte demokratische Wahlen gebe; was sie damit begründet, dass aufgrund dieser Technologien der kommunizierten öffentlichen Meinung in Zukunft nicht mehr zu trauen sein wird und die Vorstellung des universellen Wahlrechts durch die Tatsache kompromittiert wird, dass Lügen und Falschheit den Informationsstrom vergiften. Dadurch wird die Legitimität der Demokratie infrage gestellt und wir bekommen Probleme mit dem Autoritarismus und so weiter.

Wenn all dies verwirrend erscheint, dann deshalb, weil es tatsächlich verwirrend ist. All diese Dinge geschehen gleichzeitig. Die Menschen in »unserer Ecke des Internets«, in unserer weltweiten Community, spüren intuitiv, dass etwas Tieferes vor sich geht. Und so werfen wir ab und zu einen Blick in die Geschichte, um zu schauen, ob wir dort Ähnliches finden, Übergangszeiten, die der unseren gleichen. Man kann dies auf ganz unterschiedliche Arten tun; ein möglicher Vergleich könnte die sogenannte »Achsenzeit« sein.[3]

In der Achsenzeit, die ihren Höhepunkt ungefähr fünfhundert Jahre vor Christus hatte, traten die ersten Anzeichen von systematischem Denken auf. Wir bewegten uns aus einer Art Mythos in eine Art Logos.

Damals begannen wir sozusagen »vernünftig« und »schriftlich« zu werden und entwickelten unsere Tauschwirtschaft weiter zu einer Geldwirtschaft. Es kam zu einer Landflucht in die Städte, und in unserem Bewusstsein entstand die Vorstellung des Individuums. Es war die Zeit, als Buddha, Laotse und viele der griechischen Philosophen auftauchten. Damals scheint auf der ganzen Welt, wenn auch nicht gleichmäßig verteilt, eine neue Art von Bewusstsein entstanden zu sein.

Ich glaube, viele Menschen in meinem Umfeld fühlen, dass zurzeit etwas Vergleichbares vor sich geht. Dies scheint eine sehr gewagte und irgendwie absurde These zu sein – aber so empfinde ich es. Zumindest fühlt es sich wahrer an als die Vorstellung, wir könnten uns im vorhandenen Rahmen einfach weiter durchwursteln. Manchmal werde ich gefragt, was ich denn konkret tue. Weil ich viel zum Thema des Klimawandels gearbeitet habe, kenne ich einige Leute in dieser Szene, die darauf hinzuwirken versuchen, dass die Regierungen sich zu Netto-Null-Emissionen bis zum Jahr 2030 verpflichten oder zu was auch immer die aktuellen Ziele sind. Ich sage, nun, ihr könnt das tun, wenn ihr das wollt; aber ich bin überzeugt, dass insgesamt gerade etwas viel Größeres und Tieferes geschieht und dass wir auf diese Art und Weise wahrscheinlich nicht erfolgreich sein werden. Ich setze mehr Hoffnung auf eine fundamentale Transformation des Bewusstseins, als dass ich an das Aushandeln von Dingen in den bestehenden institutionellen und kulturellen Strukturen glaube, wie es heutzutage versucht wird.

Es ist es wert, ein bisschen mehr über die »Zeit zwischen den Welten« zu sagen, diesen griffigen, von Zachary Stein geprägten Ausdruck, der mittlerweile von vielen als eine Art Kürzel für diese Epoche verwendet wird. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass er Vorläufer hat. In der Soziologie hat Antonio Gramsci [/] es so formuliert:[4]

»Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.«

In der Ethnologie gibt es die Vorstellung der Liminalität [/] oder des Schwellenzustandes, die für unsere Community äußerst faszinierend ist. Für einen Ethnologen einer bestimmten Kultur, sagen wir einer üblichen westlichen Kultur, der sich in einen Stammeskontext oder einen indigenen Kontext begibt und versucht, tiefergehende ethnologische Arbeit zu leisten, und in diesen Zusammenhängen lebt, diese Menschen beobachtet und an vielem teilnimmt, gibt es einen Moment, an dem er so sehr in diese Welt eintaucht, dass er zwar fast vergessen hat, wie es war, in der vorhergehenden Welt zu leben, er aber dennoch nicht einer von ihnen ist, von diesem Stamm oder dieser indigenen Gemeinschaft. Das ist mit »Schwellenzustand« gemeint, und in einer bestimmten Hinsicht geht es vielen in unserer Community so: Man gehört nicht mehr ganz zur Welt, wie sie ist, bleibt aber trotzdem noch ein Teil von ihr. Und dennoch gibt es nicht wirklich etwas anderes, zu dem man in dieser Zwischenphase gehört.

Was des Weiteren über die »Zeit zwischen den Welten« gesagt werden muss – und dies ist nicht bloß ein poetischer Anklang, sondern wird von einer Menge empirischer Arbeit untermauert – ist das, was Immanuel Wallerstein [/] in seinem Buch Welt-System-Analyse schreibt.[5] Hier geht es darum, die Weltsysteme als Handelsströme zu verstehen. Im Prinzip haben wir es dabei mit einer politischen Analyse zu tun, die sich der Ausbeutung der armen Welt durch die reiche Welt widmet, diesem Muster über historische Zeiträume hinweg nachgeht und aufzeigt, dass es nicht auf Dauer angelegt ist und unweigerlich kollabieren muss.

Und dann gibt es da die Arbeit von Leuten wie Peter Turchin [/] und Sergey Nefedov [/], die in ihrem Buch Secular Cycles [6] eine ähnliche Geschichtstheorie der säkularen Zyklen vertreten, die sie manchmal als »Kliodynamik« [/] bezeichnen, die eine Art quantitativer Geschichtsschreibung ist und auf vergangene Muster schaut, um zu erkennen, wie diese sich heute wiederholen. Sie misst Fakten wie Einkommensungleichheiten und autokratische Regierungsformen und so weiter und fängt an, quantitative Aussagen zu machen in der Art von: Wenn die und die Anzahl bestimmter Sachen zusammenkommen, dann fangen die Dinge an auseinanderzufallen.

»Die Zeit zwischen den Welten« ist also nicht bloß ein Gefühl, sondern wird auch von empirischen Studien untermauert. Im Kern sind dies harte Analysen der Moderne. Was aber ist die Moderne? Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie angemessen beschreiben kann, aber Jürgen Habermas [/] spricht von ihr als einer Ausrichtung auf die Zukunft.[7] Die heutigen Menschen sind sich indes gar nicht mehr so sicher, was die Zukunft bringen wird; es ist überhaupt nicht mehr klar, wohin denn dieses Schiff segelt, wohin unsere Reise geht. Wenn es bei der Moderne hauptsächlich um die Zukunftsgerichtetheit und das Fortschrittsnarrativ geht, wir aber die Zukunft nicht deutlich ausmachen können; wenn wir zum einen von allem ein bisschen müde sind, und es zum anderen noch nicht einmal klar ist, ob es sich dabei wirklich um Fortschritt handelt oder nicht viel mehr um einen Rückschritt, dann leben wir in einer »Zeit zwischen den Welten« – und das ist der Grund, weshalb einige es die »Metamoderne« [/] nennen. Neben diesem Gefühl von »alles zerfällt« gibt es aber auch

Quellen der Erneuerung.

Es gibt all diese Menschen, die so Unterschiedliches für eine Erneuerung tun. Ich denke da etwa an Joe Brewer [/], der sich gerade darum bemüht, einen Fluss in der Nähe von Barichara, in Kolumbien, wieder zum Fließen zu bringen. Sein Projekt ist aufregend, weil er die Hoffnung auf Unterstützung durch den dortigen Staat quasi aufgegeben hat und sagt, wir müssen damit beginnen, bio-regionale Zentren oder Hubs aufzubauen. Es gibt unzählige Bio-Regionen auf der Welt, und wenn mehr Menschen beginnen würden, rund um diese Bio-Regionen herum zu arbeiten, könnte eventuell eine neue Form von Regierung entstehen. Und dann gibt es die Vorstellung vom kosmopolitischen Lokalismus [/].

Der Kosmolokalismus besagt, wir sollten weise mit unseren Produktionsmustern umgehen.

Wenn etwas zum Beispiel sehr schwer ist, sollten wir es vielleicht gar nicht erst transportieren, sondern es sogleich vor Ort nutzen. Aber dieser Kosmolokalismus kann auch philosophisch verstanden werden: Wir fokussieren uns auf unsere eigenen lokalen Nischen und die unmittelbaren Bedürfnisse in unserer lokalen Gemeinschaft, sind aber gleichzeitig über das Internet mit einer wesentlich größeren kosmologischen Gemeinschaft verbunden. Doch es gibt viele weitere Ideen, wie beispielsweise die

ontologische Rebellion.

Dieser Begriff stammt vom posthumanistischen Philosophen und Autor Báyò Akómoláfé [/] und meint, dass wir irgendwie ausbrechen müssen aus dieser kollektiven Illusion, von der wir Teil geworden sind. Mein Kollege Ivo Mensch [/] bringt diesen Zusammenhang mit einer guten Prise Ironie auf den Punkt:

»Wir leben kollektiv ein Leben, das gar nicht mehr existiert.«

Viele von uns teilen dieses Gefühl. Etwa Bonnitta Roy [/], die über

komplexe potenzielle Zustände,

forscht, was etwas damit zu tun haben, wie wir Potenziale intuitiv erfassen, also quasi mit der Vorstellung des Energieflusses im Dao. Es ist also nicht so, dass es keine Ideen gäbe, dass niemand eine Vorstellung darüber hätte, was als Nächstes geschehen wird. Aber wenn wir uns dies alles im großen Maßstab anschauen und uns die Frage stellen, wo die Macht liegt und wer heute über Macht verfügt, insbesondere über technologische Macht, ist es entmutigend, beängstigend. Es braucht ein großes Maß an Mut und Widerstandskraft, um nicht in Verzweiflung zu versinken.

Was ist das Post-Tragische?

Mein Freund Zachary Stein brachte mich darauf, seit er mit [dem Philosophen und sozialen Aktivisten] Mark Gafni [/], an dem arbeitet, was sie als die »Stationen des Selbsts« bezeichnen. Das ist nicht wirklich eine Entwicklungstheorie, sondern eher eine Art, die existenzielle Innerlichkeit des Menschen zu beschreiben, wie sie sich mit dem Leben verändert. Und sie beschreiben diese Stationen als

prä-tragisch, tragisch und post-tragisch.

»Prä-tragisch« beschreibt eine Haltung, in der wir glauben, dass wir jedes Problem in Ordnung bringen können, dass wir uns nicht auf unsere Sorgen fokussieren sollten und sich alles zum Guten wenden wird: also eine Wir-schaffen-das-Mentalität. So könnte man argumentieren, ein Großteil des Technologie-Optimismus sei prä-tragisch. Es gibt hier noch keinen großen Widerstand gegen die Einsicht, wie sehr alles bereits gefährdet ist.

»Tragisch« kennzeichnet einen Zustand, in dem wir uns aufgrund unserer Verzweiflung verloren und gebrochen fühlen; es steht für unsere Unfähigkeit zu funktionieren, weil man zutiefst deprimiert ist und einfach alles den Bach hinuntergehen sieht. Das Problem des Tragischen ist, dass man vollständig in diesem Gefühl steckenbleibt.

Das »Post-Tragische« ist nun nicht per se besser; doch es wohnt ihm auch eine Sensibilität inne, die uns helfen kann. Diese hat nichts mit der prä-tragischen Haltung zu tun, bei der nichts falsch ist und alles super werden wird. Doch es ist auch kein Implodieren der Tragik im Sinne von »alles ist für immer verloren«.

Im Post-Tragischen sind wir wieder handlungsfähig wie im Prä-Tragischen, aber im sachkundigeren Verständnis des Tragischen.

Das heißt, wir leben auf eine Art und Weise, die anerkennt, dass Leid und Schmerz endemische Eigenschaften des Lebens sind, dass wir Menschen die Dinge immer wieder vermasseln und wir fast nichts dagegen tun können. Ich denke, eine der besseren Definitionen von »Sünde« stammt vom Schriftsteller Francis Spufford [/]: Er bezeichnet sie als »die Neigung des Menschen, alles in den Sand zu setzen«.[8] Und das ist ein echtes Merkmal des menschlichen Lebens. Das Post-Tragische anerkennt dies als etwas, dem wir einfach nicht entkommen können. Es wird keinen Garten Eden als solchen geben; es wird weiterhin Kriege geben; es wird immer Soziopathen und Narzissten geben; es wird immer Korruption geben. Und dennoch brechen wir nicht vor Verzweiflung zusammen, weil es im Grunde genommen nicht wirklich unsere Aufgabe ist, all jene prinzipiellen Widersprüche aufzulösen, die in die Wirklichkeit eingebaut sind, um kreative Möglichkeiten überhaupt erst entstehen zu lassen. Worum es beim Post-Tragischen geht, ist die Wiederentdeckung der Schönheit auf der anderen Seite des Leidens und zu erkennen, dass die Seele in diesen Auseinandersetzungen und Schlachten gebildet und gestärkt wird.

Angemessen betrachtet, stehen die Dinge so schlimm, dass wir ganz neu denken müssen. Damit sind wir bei den Strukturen des Bewusstseins und des Denkens, denn der Verstand ist mächtig und die Wissenschaft, wenn sie richtig funktioniert, ist wichtig. Wir sollten uns nicht wünschen, es gäbe sie nicht. Ich glaube, der Philosoph Paul Marshall [/] leistet in diesem Kontext eine ganz besonders gute Arbeit. In seinem Buch A Complex Integral Realist Perspective [9] schreibt er über die Voreingenommenheit des modernen Verstandes und leuchtet die Vorstellungen von der Evolution des Bewusstseins und vom Zusammenbruch unserer mental-rationalen Funktion aus, die Jean Gebser in Ursprung und Gegenwart [10] dargelegt hatte. Marshall spricht über die verschiedenen Arten von Voreingenommenheit, aber das Wesentliche sieht er darin, dass der moderne Verstand es sehr gut versteht, sich aus allem herauszuhalten und sich alles bloß anzuschauen – daher die »Poly«krise. Aber er hat es verlernt, in die Dinge hineinzuschauen; gemeint ist also die Tiefe der Psyche, das tiefste Innere. Der Verstand ist vom Weg abgekommen hinsichtlich der Kosmovision und der Metaphysik; er hat aufgehört zu hinterfragen, was unsere Annahmen über den Stoff der Wirklichkeit sind. Und in diesen zwei Blickrichtungen, im Hineinschauen und im Darüberhinausschauen, liegen die beiden Bedeutungen von meta, weshalb ich glaube, wir sollten eher den Begriff der »Meta«krise verwenden.

Denn darin liegt die Arbeit, die wir zu tun haben: Was geschieht im Reich unserer Vorstellungskraft? Was ist die Psyche? Wie können wir sie besser verstehen? Wie können wir so aus ihr leben, dass wir weniger Konsumgüter bedürfen, um gut zu leben, dass wir unsere emotionalen Bedürfnisse nicht dadurch befriedigen müssen, dass wir ständig Neues kaufen? Und gleichzeitig sollten wir eine Art weitgehend liberaler Vorstellungskraft pflegen, die sagt: Habt eure Religion, wenn ihr sie wollt, aber haltet sie so weit wie nur möglich aus dem öffentlichen Bereich raus.

Das alles funktioniert offensichtlich nicht allzu gut. Wie es scheint, brauchen wir eine Sicht auf die Welt, die insgesamt sehr viel verzauberter ist, sehr viel persönlicher. Das hat nichts zu tun mit einer Haltung von »alles ist möglich« und nichts damit, dass wir unseren Intellekt oder unsere kritischen Fähigkeiten aufzugeben haben. Es bedeutet einfach zu erkennen, dass die Geschichte, die man uns über die materielle Wirklichkeit, über Ursache und Wirkung, über Raum und Zeit erzählt hat, nicht die ganze Geschichte ist. Und weil dem so ist, gilt, bei allem Urteilsvermögen, bei aller Sorgfalt und bei aller kritischen Vorsicht:

Wir sollten offen sein für die Möglichkeit, dass sich die Welt radikal von unserer Vorstellung über sie unterscheidet.

Wenn ich also eine Glückserfahrung oder das Gefühl habe, dass das Universum irgendwie mit mir spricht, kann ich es mir natürlich wegerklären, aber ich ziehe es vor, dies nicht zu tun, und ich muss es auch nicht tun. Das Universum kann sehr wohl verzaubert sein, und es mag durchaus eine Art von Beziehung geben zwischen dem Kosmos und uns, sodass wir uns wieder mit ihm verbinden müssen, und zwar im richtigen Maßstab und schnell, damit die zentralen kollektiven Probleme, denen wir uns gegenübersehen, sich anders anfühlen. Und sie müssen sich nicht bloß für jene Menschen anders anfühlen, die sich aus ihrer persönlichen Nische heraus über sie beschweren, sondern auch für diejenigen, die gegenwärtig an der Macht sind.

Wir können nicht wirklich wissen. Aber entscheiden wir uns, in dieser fehlenden Gewissheit, eher für eine konventionelle Sicht auf das Wesen der Dinge, die noch immer einer kulturellen Hegemonie entspricht, oder wollen wir uns aus dieser Sicht hinauswagen in andere Erkenntnisweisen, die gesellschaftlich vielleicht weniger anerkannt, aber emotional wesentlich lohnender und glaubwürdiger sind?

Ich persönlich habe mich für Letzteres entschieden, doch ich weiß, dass dies delikat ist. Es kann zu Psychosen führen, die mentale Struktur kann kollabieren. Ich habe Fälle von Schizophrenie in meiner Familie und bin dankbar für meine mentale Struktur und mentale Gesundheit, für meinen klaren Verstand. Nur fühle ich, dass die Welt eben wesentlich mehr als das ist, was man uns zu glauben gelehrt hat. Ich denke,

Bewusstsein ist ein ontologischer Hauptantrieb, eine fundamentale Eigenschaft der Wirklichkeit. Wert und Bedeutung wohnen dem Stoff der Wirklichkeit inne und sind nicht bloß ein soziales Konstrukt.

Ich kann das Wort »Gott« ungezwungen benutzen, ohne genau zu wissen, was ich damit meine; doch ich fühle, dass es eine Art von Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen gibt, die dauernd besteht und geschieht. Manchmal kann man sich auf eine sehr persönliche und belebende Art im Ganzen spüren. Ich würde mir wünschen, dass wir versuchen, vermehrt über die Zukunft nachzudenken. Menschen, die sich für soziale Veränderungen einsetzen, tun dies nicht sehr oft. Sie stecken fest in den engen Grenzen von dem, was politisch möglich und kulturell akzeptabel ist. Aber ich glaube auch, dass viele der Leute in »unserem Netzwerk« instinktiv erkennen, dass dies nicht genügt, dass wir den Horizont unseres Hinterfragens tatsächlich erweitern müssen, weil erst damit eine Qualität von Vorstellung erreicht wird und jene Art von institutioneller und kultureller Innovation, die dem Ausmaß an Herausforderungen, mit dem wir es zu tun haben, möglicherweise angemessener sind.

Es gibt diesen alten Ausspruch des interdisziplinären Philosophen Charles Kettering [/], dass ein gut beschriebenes Problem schon halb gelöst ist. Ich habe immer gedacht, dass dies nur die halbe Wahrheit ist, weil ich überzeugt bin, dass wir mehr tun müssen, als ein Problem einfach nur zu beschreiben. Wir sind heute ein bisschen »über« die Probleme »hinaus«; wir stecken in einer misslichen Lage. Aber egal: Was sollen wir jetzt tun?

Zum einen schlage ich vor, dass wir die Krisenmentalität überwinden müssen. Das erscheint mir ziemlich wichtig. Erst kürzlich ist mir aufgefallen, dass die Menschen, die ich bewundere, nicht auf Krisen fixiert sind. Die Menschen, zu denen ich mich dieser Tage hingezogen fühle, sind nicht jene, die bloß darauf verweisen, wie gefährlich alles ist; es sind die Menschen, die bereits dabei sind, etwas anders zu machen,

Menschen, die Neues schaffen auf eine Art und Weise, welche die neue Welt bereits gestaltet.

Diese Menschen bewundere ich am meisten. Und sehr wenige von ihnen sind motiviert durch das Reden über die Krise. Ich finde das sehr faszinierend, weil man auf einer rein konzeptionellen Ebene argumentieren könnte, dass der gesamte Schub der Moderne, die ganze Maschinerie, die die Fortschrittserzählung und die Zukunftsgerichtetheit antreibt, das unablässige Konstruieren und das Lösen von Krisen sei. Seien es kriegerische, ökonomische oder institutionelle Auseinandersetzungen – immer heißt es: »Das ist eine große Krise, wir müssen sie auf diese oder jene Art lösen.« Dieser Kreislauf treibt die Dinge seit vielen Jahrhunderten an. Doch an dem Punkt, an dem wir uns heute befinden, können wir nicht länger über Krisen und deren Lösungen reden. Denn genau diese Art des Problemverständnisses muss mittlerweile als Teil des Problems verstanden werden.

Stattdessen sollten wir viel eher nach Potenzialen suchen und nach dem Rahmen, in dem wir die Dinge fundamental anders anpacken können, und zwar auf eine transformative Art und Weise. Und ich meine das sehr spezifisch und nicht als rhetorische Ausschmückung. Transformativ in dem Sinne, dass wir die eigentliche, die zugrundeliegende Form der Wirklichkeit transzendieren. Beispiele dafür sind die Bewegung vom Nationalstaat hin zur Bio-Region oder das Hinausgehen über seinen persönlichen universitären Fachbereich, wo man über Nachhaltigkeit spricht, und tatsächlich ein eigenes Stück Land zu bewirtschaften, wo man lernt, Getreide anzubauen, oder auch das Einrichten von Pop-up-Schulen, anstatt sich einen Job an der Uni zu besorgen – all dies erzeugt eine neue Sprache. Der von der Filmemacherin und Schriftstellerin Nora Bateson [/] eingeführte Begriff der »Aphanipoiesis« [11] ist ein gutes Beispiel dafür: eine Art, sich dem zuzuwenden, was latent ist, und zu erkennen, was noch unsichtbar ist, und sich damit im Einklang zu bewegen.

Solchen Dingen sollten wir uns verschreiben. Auf einer spirituellen Ebene hat es mit Berufung zu tun. Vielleicht kann ich es so beschreiben:

Es gibt einen Ort, an dem Carl Gustav Jungs Idee der Individuation und Elinor Ostroms [/] Idee des funktionalen Gemeinschaftlichen einander begegnen,

einen Ort, wo die Individuation auf Lösungen durch kollektives Handeln trifft. Was ich damit meine, ist, dass die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Wir zusammenzubrechen beginnt. Das bedeutet nicht, dass es keine Individuen mehr gibt. Es bedeutet vielmehr, dass die eigentliche Vorstellung dessen, was ein Individuum ist, Teil des Kollektivs ist und auf dessen Bedürfnisse antwortet, und dass die eigentliche Vorstellung dessen, was ein Kollektiv ist, darin liegt, dass es individualisierte Wesen hervorruft. Dort sollten wir hinwollen.

Aber um dorthin zu gelangen, müssen wir uns meiner Meinung nach auf etwas Kosmischeres einstimmen, was mit unserem eigenen Gefühl davon zu tun hat, wozu wir berufen sind. Nicht jede und jeder ist im spirituellen Sinn musikalisch; nicht alle hören diese Frequenz. Aber, und davon bin ich überzeugt, viele Menschen spüren es, auch wenn sie es bestreiten würden, sie fühlen, dass es da etwas gibt, das sie tun sollten. Und ich vermute, je mehr wir uns auf dieses Kosmische einstimmen – und selbstverständlich weiterhin auf die Antwort der Welt hören, weil wir uns ansonsten in den narzisstischen Spiralen der Maßlosigkeit verheddern – sehen wir, was die Welt zu brauchen scheint, und können uns überlegen, was wir anzubieten haben. Das ist es, was ich unter kollektiver Individuation verstehen würde. Wie gesagt, es geht um Potenzial, nicht bloß um das Lösen eines Problems, um den Status quo aufrechtzuerhalten.

Was transformiert die Welt tatsächlich? Was verändert die eigentliche, der Welt zugrundeliegende Form und geht – kreativ, subversiv und transgressiv – über sie hinaus?

Das ist die Art von Arbeit, die ich aufregend finde. Hoffnung liegt nicht so sehr im Großaufgebot und in den gewagten Plänen, sondern in den Menschen, die sich des Alltags annehmen. Und ich halte dies für einen ziemlich schwierigen Gedanken, denn es gibt einen Teil in mir, der an die Sachen eher konventionell maskulin herangehen will im Sinne von: Lasst uns das Problem offenlegen und es dann beheben. Aber aus diesem Teil wachse ich langsam heraus, weil ich spüre, dass es nicht die richtige Herangehensweise ist. Es ist gut, die Karte so weit wie möglich auszubreiten und die Dinge klar zu sehen; aber die Hoffnung liegt mehr darin, dass wir da, wo wir uns gerade befinden, tiefer graben, dass wir uns dem zuwenden, mit dem wir es konkret zu tun haben. Das heißt absolut nicht, sich vor dem Rest der Welt zu verschließen, doch es bedeutet, sich vor dem Hintergrund des gegebenen Kontexts zu fragen, was ist meine Arbeit in diesem meinem Kontext. Und das bringt uns zurück zur Idee des Kosmolokalen.

Um etwas in dieser Art geht es, nicht um einen riesigen Aktionsplan. Es geht um das Vertrauen in die Innovationskraft kleinerer Gruppen. Um es etwas theoretischer auszudrücken: In der Welt der Hyperobjekte – womit ich diese kaum zu verstehenden Ideen wie Klimakrise, Pandemie oder Metakrise meine, die wir gar nicht so richtig in unseren Kopf bekommen, mit denen wir es aber tagtäglich zu tun haben – benötigen wir Hypersubjekte. Damit meine ich keine Hyperaktionisten; wir brauchen nicht mehr Elon Musks. Wir brauchen mehr Menschen, die sich vom Miasma, vom Drama der globalen Probleme abwenden und sich der spirituellen Berufung zur Arbeit zuwenden, und zwar in dem Kontext, in dem sie leben, und nicht in einer politisch naiven Art, sondern auf eine Weise, die zutiefst begründet ist in der Notwendigkeit, eine neue Wirklichkeit zu erzeugen.

© Jonathan Rowson 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Zachary Stein: Education in a Time Between Worlds: Essays on the Future of Schools, Technology, and Society, Bright Alliance, 2019.

[2] »Der Verstand [hat], seit er die Vernunft verlor, […] sich zu bloßer Ratio erniedrigt« (Jean Gebser: »Verfall und Teilhabe« in Vom spielenden Gelingen: Vorträge, Essays und Schriften, Jean-Gebser-Reihe Band 5, Zürich: Chronos Verlag, 2018, Seite 356).

[3] Der Begriff der »Achsenzeit« wurde von Karl Jaspers geprägt, der die Epoche von etwa 800 bis 200 vor Christus »axial« nannte, weil sie die spirituellen und moralischen Fundamente legte, auf denen unser religiöses Bewusstsein im Wesentlichen noch immer beruht. Siehe Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München/Zürich: Piper, 1949 [Anmerkung der Übersetzer].

[4] Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Band 2, Hamburg: Argument-Verlag, 1991, Seite 354.

[5] Immanuel Wallerstein: Welt-System-Analyse: Eine Einführung, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2019.

[6] Peter Turchin und Sergey A. Nefedov: Secular Cycles, Princeton, NJ: Princeton Universty Press, 2019.

[7] »Aber die Orientierung nach vorne, die Antizipation einer unbestimmten, kontingenten Zukunft, der Kult des Neuen bedeuten in Wahrheit die Verherrlichung einer Aktualität, die immer von Neuem subjektiv gesetzte Vergangenheiten gebiert« (Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« in Kleine politische Schriften I–IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, Seite 447).

[8] Francis Spufford: “What Sin Really Is (The Human Propensity to F**k Things Up)” in The Huffington Post, 25. Oktober 2014.

[9] Paul Marshall: A Complex Integral Realist Perspective: Towards A New Axial Vision, London: Routledge, 2017.

[10] Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Jean-Gebser-Reihe Bänd 1 und 2, Zürich: Chronos Verlag, 2015.

[11] Der Begriff verbindet die beiden griechischen Wörter aphanis (für »undeutlich«, »unsichtbar«, »unbemerkt«) und poiesis (»kunstfertig hervorbringen«) zur Beschreibung der Art und Weise, wie das Leben auf unsichtbaren Wegen »lebendig« wird [A.d.Ü.]