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Thomas Keating

Was ist christliche Non-Dualität?

Thomas Keating und der 14. Dalai Lama

Thomas Keating und Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama an einer interspirituellen Konferenz 2012 in Boston. Bild aus dem Dokumentarfilm A Rising Tide of Silence [/] von Peter C. Jones

Im Sommer 2016, zwei Jahre vor seinem Tod, lud Thomas Keating, der international bekannte Trappistenmönch und Begründer der Kontemplationspraxis des Gebets der Sammlung, einige Freundinnen und Freunde ins Benediktinerkloster von Snowmass, Colorado, zu einem vertraulichen und weitläufigen Gespräch über Non-Dualität aus christlicher Perspektive. Die daraus destillierte Quintessenz der tiefen Einsichten seiner letzten Lebensjahre findet sich in dem bei uns erschienenen schmalen Band Einssein, aus dem das folgende Kapitel stammt

Ein Kapitel aus dem Buch Einssein: Christliche Non-Dualität von Thomas Keating

Thomas Keating: Einssein

as ist Non-Dualität? Ohne kontemplative Zen­tren ging die christliche Perspektive in der Kirche geradezu verloren. Klöster entstanden, weil es keinen anderen Ort gab, an dem diese Dimension des Evangeliums zu finden war, und unverfälscht fromme Menschen dachten: »Ach, wenn ich doch bloß im Klostergarten das Unkraut jäten oder Löcher schaufeln dürfte, wäre es um meine Aussicht, in den Himmel zu kommen, besser bestellt.« Um die Inti­mität, Nähe, Gegenwart und Führung des Heiligen Geistes wusste man immer weniger.

Als ich ein Junge war, galt der Heilige Geist als der »vergessene Gast« der Seele. Wie aber konnte es dazu kommen, dass wir die unendliche Präsenz der Liebe vergaßen? Die Lösung besteht darin, eine persönliche Beziehung mit Christus als dem fleisch­gewordenen Wort und Sohn Gottes zu entwickeln und zu verinnerlichen.

Viele Christen sind eines tiefen Glaubens an Gottes Gegenwart in ihnen und der enormen Möglichkeiten des christlichen Lebens, wie es Jesus in seinen Lehren und mit seinem Beispiel gezeigt hat, beraubt worden. Die damit einhergehende Nähe übersteigt jede menschliche Nähe, die wir uns vorstellen können, und ist die Quelle unseres Wesens in jedem einzelnen Moment.

Wie wichtig ist es da, in diese unendliche Realität einzugehen, die wir nicht bloß als das höchste Wesen zu begreifen beginnen, sondern als Wesen, das über Sein hinausgeht. Also als Sein (isness), das in keiner Richtung begrenzt ist. Was auch immer du tust, du bist nicht nur in der Gegenwart Gottes, sondern stehst auch unter dem Einfluss des Geistes, der uns innerlich aufzeigt, was die richtige Antwort auf jedes Detail unseres täglichen Lebens eigentlich ist.

Ein Kapitel aus dem Buch Einssein: Christliche Non-Dualität von Thomas Keating

Ilka Fischer

In der christlichen mystischen Tradition wird Non-Dualität normalerweise »mystische Ver­mählung« genannt. Sie vollzieht sich im Werden, wer wir wirklich sind.

Die außerordentliche Einladung des Evangeli­ums, mit Gott eins zu werden, verlangt die allmähliche Entwicklung eines Bewusstseins, das über das rationale Bewusstsein hinausgeht hin zu etwas, das in einigen geistigen Traditionen als »Non-Dualität« bezeichnet wird. In der christlichen mystischen Tradition wird dies normalerweise »umgestaltende Vereini­gung«, »Einheitsverzückung« oder »mystische Ver­mählung« genannt. Johannes vom Kreuz [/] sagt, die christliche spirituelle Reise oder »das Gnaden­leben« gipfele in der mystischen Vermäh­lung. An diesem Punkt haben unsere sinnlichen oder mentalen Fähigkeiten keine Herrschaft mehr über unser Verhalten oder unsere Gedanken. Der Heilige Geist wird zum Prinzip unseres Handelns und Liebe wird zum Ausdruck der Geisteshandlung in uns.

Die mystische Vermählung vollzieht sich im Werden, wer wir wirklich sind. Was immer uns dann geschehen mag, verstehen wir als Gottes Plan. Vielleicht wird uns ein wichtiges Amt übertragen. Vielleicht werden wir krank und aufgerufen, unser Leiden hinzugeben für die Menschen Gottes, oder wir werden ganz einfach alt und bieten dies Gott an. Auf diese Weise werden wir im allertiefsten Sinn zu Mit-Erschaffenden und Mit-Erlösern Christi.

Ohne es zu beabsichtigen, hat die Wissenschaft einige der großen mystischen Intuitionen aller Zeiten untermauert. Eine fantastische Erklärung für die Vorstellung von Bewusstseinsebenen liefert die US-amerikanische franziskanische Nonne, Theo­login und Neurowissenschaftlerin Ilia Delio auf Basis der Schriften des jesuitischen Priesters und Paläontologen Teilhard de Chardin. Gottes Diver­sität manifestiert sich in der Vielzahl der Reaktio­nen und Verhaltens­formen der Menschen. Diese Mannigfaltigkeit sollte nicht zu Kriegen führen, wie wir es in der Menschheitsgeschichte immer wieder beobachten müssen, sondern zur Bereicherung der Wahrneh­mung Gottes beitragen aus der unend­lichen Zahl von Perspektiven, aus denen die Men­schen ihre Anschauung gewinnen können.

Auf der Ebene des rationalen Bewusstseins ist Anstrengung von größter Wichtigkeit. Ab einem bestimmten Punkt jedoch, behindert Anstrengung eine Wei­ter­entwicklung.

Es ist unmöglich, diese Ebene des Bewusstseins zu erklären, ohne dass wir sie zu einem bestimmten Maß durchleben und das göttliche Innewohnen in uns befördern. Das Gebet der Sammlung stellt exakt diese Einwilligung in Gottes Präsenz, Inne­wohnen und Wirken in uns dar und ein Weg, um uns selbst auf diese vorzubereiten und empfänglich für sie zu werden.

Auf der Ebene des rationalen Bewusstseins ist Anstrengung von größter Wichtigkeit. Ab einem bestimmten Punkt jedoch, nämlich wenn sich die Rationalität in die Verwirklichung des Selbsts in Gott verwandelt, behindert Anstrengung eine Wei­ter­entwicklung. Einige von uns lernen langsam. Sinn und Zweck der Erlösung Christi bestanden darin, bis zum Äußersten zu gehen, um uns davon zu überzeugen, dass Gott bereit ist, alles zu tun, um uns an der göttlichen Natur teilhaben zu lassen, sowohl jetzt als auch in der kommenden Welt. Aus diesem Blickwinkel ist das, was stirbt, der Körper und das falsche Selbst. Das letzte Selbst liegt jenseits des wahren Selbsts. Es ist das Wort Gottes, das sich in unserer besonderen menschlichen Einzigartigkeit manifestiert.

Auch wenn Gott in uns ist, können wir die Be­grenzungen unserer menschlichen Natur in ihrer Schwäche und Anfälligkeit für Selbstsucht nicht in Abrede stellen. Wir machen Fehler und wir ver­sagen, doch aus christlicher Perspektive entwickelt sich unsere Beziehung mit Gott weiter. In ihr zeigt sich nach und nach, dass die letzte Wirklichkeit die Liebe ist und Liebe die wichtigste Handlung, die jedes Geschöpf beitragen kann und die Gott letzten Endes interessiert. Wie Johannes vom Kreuz sagt: »Wir werden nach der Liebe gerichtet.«

Die Menschheit ist eine Spezies, die zur Gänze miteinander verbunden ist und in Wechselbeziehung steht. Sie ist bereits eins mit Gott. Wir denken bloß nicht so oder erleben es nicht auf diese Weise. Manche Menschen aber, wie zum Beispiel der Trap­pistenmönch Thomas Merton [/] bei seinem Einheits­erlebnis an der Ecke Fourth und Walnut Street in Louisville, erfahren diese Vision des Lichts, von dem die Hindus sprechen. Er sah dieses Aufleuch­ten in allen Menschen mitten im Einkaufsviertel und konnte nicht anders, als sie zu lieben. Natürlich hielt diese Erfahrung nicht für immer an, aber Gott schenkt uns Einsichten, die später zu bleibenden werden und die uns einen riesigen Vorwärtsschub im transformativen Prozess geben.

Wenn wir allzu leidenschaftlich nach Erleuchtung suchen, sind wir auf dem falschen Weg. Das ist nur ein weiterer Egotrip.

Gregor von Nyssa [/] sagt, dass wir im Himmel für immer in Gott weiterwachsen. Wie Jesus es formulierte, mangelt es dort nicht an Wohnungen, sondern die menschliche Fähigkeit zur Verwandlung kennt das Durchdringen vieler verschiedener Ebe­nen der vollen Möglichkeiten. Auch die moderne Psychologie lehrt uns von Stufen des Bewusstseins: Wir können nicht erwachsen werden, ohne die Pubertät hinter uns zu lassen. Teilhard de Chardin glaubte, die körperliche Evolution sei heute annähernd vorbei und es werde nun Zeit, sich auf die geistige Evolution und höhere Stufen des Bewusstseins zu fokussieren. Wenn wir allzu leidenschaftlich nach Erleuchtung suchen, sind wir auf dem falschen Weg. Das ist nur ein weiterer Egotrip.

Wir können uns nicht an diesen Prozess klammern; wir müssen versuchen, nichts mehr besitzen zu wollen, nichts zu haben, nichts zu sein. Sogar nach der Erleuchtung, so bestätigen Mystiker und Mystikerinnen eindrücklich, gibt es noch jede Men­ge an spiritueller Arbeit zu leisten.

Wenn wir geistig wachsen, wachsen wir auch menschlich. Ein Wachstum im einen entspricht normalerweise einem Wachstum im anderen; beide stehen miteinander in einer Wechselbeziehung. Wir müssen der vorangegangenen Ebene gegenüber sterben oder, wenn du es lieber ein bisschen weniger dramatisch ausgedrückt magst, wir müssen in eine größere Schachtel versetzt werden, als seien wir ein Holon [ein Ganzes, das Teil eines größeren Ganzen ist]. Die Theorie des Holons besagt, dass wir uns von einem einfachen Partikel bis ganz hinauf zum göttlichen Einssein entwickeln können. Jede Schach­tel befindet sich sozusagen im Inneren einer wei­teren Schachtel.

Um zu wachsen, müssen wir die Begrenzungen unserer jeweils vorangehenden Ebe­ne überwinden. Das heißt nicht, dass daran irgendetwas übel gewesen wäre, sondern lediglich, dass wir aufgerufen sind, eine neue Perspektive einzunehmen. Wir bewahren alles Gute jener tieferen Ebene und übersetzen es in unser neues Vermögen. So wird zum Beispiel das Molekül zur Zelle, und die Zelle zum Organ, und das Organ zum Teil eines ganzen menschlichen Körpers. Das menschliche Bewusstsein kann sich weiter ausdehnen bis zur Vereinigung mit Gott. Wissenschaft wird mehr und mehr zu einer Prophetin unserer Zeit und erzählt uns zuvor niemals gewusste Dinge über Gott und über die Entwicklung des Universums. Sie untermauert viele mystische Erfahrungen der Vergangen­heit.

Wie alle anderen menschlichen Erfahrungen ist Gottes Beziehung zu jedem einzelnen Menschen absolut einzigartig.

Gleichzeitig befinden wir uns in einem äußerst fragilen Körper und besitzen einen Willen, der trotz eines gewissen Maßes an Entscheidungsfreiheit noch immer sehr limitiert ist. Unsere Lebenserfahrung ist zum großen Teil ein Versagen in unterschiedlichem Ausmaß. Aus christlicher Sicht besteht die Glaubenspraxis aus ständigem Versuchen, Versagen und neuem Versuchen. Obwohl diese Praxis noch Teil der rationalen Bewusstseinsebene ist, bildet sie ein notwendiges Fundament für die mühelose Übung des kontemplativen Gebets, das Johannes vom Kreuz als total passiv beschreibt, zumindest, wenn es vollkommen entwickelt ist.

Wie alle anderen menschlichen Erfahrungen ist Gottes Beziehung zu jedem einzelnen Menschen absolut einzigartig. Darüber hinaus können wir die spirituelle Reise nicht ohne eine Gemeinschaft meis­tern, die uns herausfordert und uns erfahren lässt, wie wir auf andere Menschen reagieren, in ihnen Gott erkennen und ihnen jene Art praktischer Liebe entgegenbringen, die Gott manifestiert, indem Er uns hilft.

© Contemplative Outreach 2025
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas