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Cynthia Bourgeault

Was ist eine Weisheitsschule?

Steinkreis

Foto: Pexels / Rev. Lisa J. Winston

Man könnte sagen, der Pfad der Weisheit beginnt mit Verfeinerung, mit der Kunst, die höheren Frequenzen und subtileren Strömungen der Erfahrung wahrzunehmen, die uns zu tieferer Erkenntnis führen. Auszüge aus dem Eröffnungsvortrag eines Weisheitskurses der Autorin vom Mai 2025

Das 14-minütige Originalvideo dieses Vortrags

as Allerwichtigste ist: Wir sind eine Gruppe williger Seelen, die den Dingen auf den Grund gehen und ihre Zeit und ihr Herz selbstlos einbringen wollen in dieser äußert kritischen Übergangsepoche unseres Planeten. Wir wissen nicht, wohin sich alles entwickeln wird, aber wir sind uns im Klaren darüber, dass es bereits jetzt eine sehr gefährliche Reise ist, die auf absehbare Zeit nicht gemütlicher werden wird.

Das 14-minütige Originalvideo dieses Vortrags

Wir verkörpern eine Gemeinschaft von Menschen, die aus freien Stücken zusammenkommen und großzügig und unvoreingenommen kooperieren entlang diesen sehr alten Pfaden, über die seit Urzeiten Wissen empfangen, weitergegeben und für die Heilung und Bewahrung dieses Planeten nutzbar gemacht wurde.

Was wir dies hier und jetzt zusammen tun, ist ein überaus wichtiges kollektives Geschenk, zu dem wir alle gemeinsam beitragen. Das sollte für euch das Wichtigste sein, viel wichtiger als die Fragen, wie ihr euch gerade fühlt oder was ihr hier lernen könnt. [Bei unserem Zusammenkommen] diese Woche erzeugen wir etwas, was auf keine andere Art zustande gebracht werden kann. Und das bieten wir auf eine schöne Weise dem höheren Werden an.

Wie [unsere Freundin] Heather ganz richtig gesagt hat, gab es bereits seit unvordenklichen Zeiten immer wieder Weisheitsschulen. Praktisch seit es schriftliche oder gar mündliche historische Überlieferungen gibt, sehen wir in der Geschichte der Zivilisation, wie solche plötzlich auftauchen. Von den großen Weisheitsschulen Ägyptens und Babyloniens über die keltischen, die südamerikanischen bis zu den indischen und den großen tibetischen. Und es gab und gibt Weisheitsschulen, von denen wir noch nicht einmal etwas wissen, weil wir die Dinge aus sehr ethnospezifischen Blickwinkeln betrachten, die unsere Aufmerksamkeit einschränken, sodass wir keine Ahnung von der Größe des Ganzen haben.

Weisheitsschulen fließen wie ein großer unterirdischer Strom durch die Geschichte der Zivilisation, aber sie treten meist zu zwei bestimmten Zeiten, bei zwei Gelegenheiten ans Tageslicht. Zum einen, wenn die Menschheit als Ganzes kurz vor einem neuen bewusstseinsmäßigen Quantensprung steht, wenn wir uns anschicken, eine veraltete Betrachtungsweise der Welt zugunsten einer neuen abzulegen. Einige würden sagen: Wenn unser Gehirn in eine gänzlich neue Wahrnehmungsdimension schaltet. Mit anderen Worten: Wenn das Bewusstsein zu einem evolutionären Sprung ansetzt, dann tauchen diese Weisheitsschulen auf. Zum anderen geschieht dies in Zeiten großer planetarischer Instabilität. Typischerweise handelte es sich dabei um politische Instabilität, aber nicht immer. Manchmal, bei eher geophysikalischen Ereignissen, wie etwa dem legendären Untergang von Atlantis, sehen wir dieselben Erscheinungen des Auftauchens eines mäßigenden, zügelnden oder ausgleichenden Elements.

Wir erleben einen verbissenen Kampf, der nicht nur zwischen zwei widerstrebenden Weltbildern tobt, sondern zwischen den Bewusstseinsstrukturen, die diese Weltbilder erzeugen.

Ich glaube, man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass in unserer jetzigen Situation wohl beides zutrifft. Schon viele Leute haben angesichts der gegenwärtigen Krise davon gesprochen, dass ein Teil der Qualen und der nervenaufreibenden Dramatik unserer Tage in dem äußerst verbissenen Kampf zu sehen ist, der nicht nur zwischen zwei widerstreitenden Weltbildern tobt, sondern zwischen den Bewusstseinsstrukturen, die diese Weltbilder erzeugen. Ein Bewusstsein und damit ein Weltbild, das ausschließlich vom Individuum ausgeht (also vom Teil zum Ganzen denkt) und im Kollektiv bloß unzählige Individuen sieht, steht einem neuen Bewusstsein und damit einem Weltbild gegenüber, das vom Ganzen hin zum Teil denkt und ganzheitliche Eigenschaften zu zeigen vermag.

Die Wissenschaft nennt diese Eigenschaften, die nur das Ganze aufweist, »emergent«. Und wenn wir das Ganze von hinten her wieder auseinandertrennen in, sagen wir, dreitausend isolierte Individuen, dann verlieren diese die Eigenschaften wieder, die sie auf der höheren Stufe der gemeinsamen Synthese besaßen. Wir fangen gerade erst an, auf diese vollkommen neue Art zu denken. Einige Wissenschaftler behaupten sogar, es müsse in unserem Gehirn erst noch zu weiteren anatomischen Veränderungen kommen, bis wir wirklich so zu denken vermögen. Aber dieser Wandel hat eindeutig begonnen.

Was wir unserem Planeten alles angetan haben, brauchen wir hier nicht noch einmal aufzuzählen. Mittlerweile droht er, seine Stabilität zu verlieren und auszulöschen, was wir in zweieinhalb Jahrtausenden geschaffen haben. Die qualvollen Folgen, die nicht bloß von der Biosphäre ausgehen, sondern auch von der Geosphäre (Unwetter, Sturmfluten, Bergstürze und Überschwemmungen), diese urzeitlichen Mechanismen der Selbstregulation des Planeten, haben derzeit ein wirklich erschreckendes Ausmaß angenommen.

Wenn es also jemals höchste Zeit war für Weisheitsschulen, allerhöchste Eisenbahn, dass wir uns wappnen und uns bereit machen, dann jetzt. Daher ist es nicht überraschend, dass sich unserer Weisheitsschule zurzeit Menschen von überall her anschließen. Und wir haben einen langen Stammbaum von Menschen, die bereit waren und sind, ihren Posten einzunehmen, ihn zu halten und ihren Teil beizutragen, ganz egal, wie herausfordernd die Aufgaben scheinen mögen.

 

Weisheit ist ein Weg des Präsentseins

Was aber bedeutet das Wort »Weisheit« eigentlich? Was ist eine Weisheitsschule? Wenn ihr im Internet nachschlagt, was verschiedene spirituell veranlagte Menschen unter »Weisheit« verstehen, dann findet ihr mindestens vierzig höchst unterschiedliche Definitionen: von einer Handvoll alttestamentarischer Bücher bis hin zu »Weisheiten aus der Suppenküche«… Aber die besondere Linie, der wir hier folgen, sagt: Weisheit ist ein Weg des Wissens – keine Handvoll neuer Informationen, kein neuer kosmischer PIN-Code. Sie ist ein Weg des Lernens, des Präsentseins. Seit meinem ersten Kurs unserer Weisheitsschule beschreibe ich sie am liebsten so: Sie bedeutet nicht mehr Wissen, sondern tiefere Einsicht. Weisheit heißt, mit mehr von uns selbst zu wissen, mit einem höheren Engagement unseres Wesens.

Heute Abend will ich nicht viel mehr dazu sagen, außer vielleicht: Weisheit ist nicht bloß etwas Qualitatives; tatsächlich gibt es quantitative Anzeichen für das Maß, in dem unser Wesen darin engagiert ist. Wie viel eures Wesens ist wirklich engagiert? Wie wisst ihr, dass ihr wirklich hier seid? Das ist eine gute Frage. Denn oft sagen wir einfach: »Ich weiß, dass ich hier bin, weil ich so deutlich spüre, dass ich hier bin.« Vielleicht seid ihr aber schlicht emotional überladen. Doch es gibt Kriterien, und morgen wollen wir uns eines davon genauer anschauen, und zwar das sogenannte »dreizentrische Bewusstsein«,[1] das uns helfen kann, ein Gespür dafür zu entwickeln. Dazu müssen wir uns fragen: Ist unser Intellekt [unser »Denkzentrum«] hier? Sind unsere Gefühle [unser »Gefühlszentrum«] hier? Und ist unsere natürliche Körperintelligenz [unser »Bewegungszentrum«] hier, die nicht nur unsere Verdauung regelt, sondern auch, wie wir eine Treppe hinauf- oder hinabgehen? Sind alle drei anwesend? »Bewohnen« wir unser Vermögen, unsere Fähigkeiten ganz und gar?

Kompakt zusammengefasst hat das Ganze Maurice Nicoll, ein wundervoller Exponent der Tradition [Gurdjieffs], mit ungefähr den Worten: Wenn euer Sein zunimmt, wächst eure Empfänglichkeit für die höhere Bedeutung; wenn es wieder abnimmt, kehren die alten Bedeutungen zurück.[2] Ich denke, wir alle haben eine gewisse Ahnung davon, was das heißt. Wenn wir müde, zornig oder irritiert sind, wenn man bei uns bloß auf einen Knopf zu drücken braucht, dann sind wir nicht sehr feinfühlig. Dann nehmen wir Wahrheit, Schönheit oder Güte vielleicht noch nicht einmal wahr, diese weitaus subtileren Gewissheiten, die uns aus dem stets großzügigen Kosmos zufließen.

Wir fühlen uns als Teil einer zeitlichen Abstammungslinie, auf der jeder einzelne Mensch die Fackel von einer vergangenen Generation erhält und sie an eine neue weiterreicht.

Aber indem sich etwas in uns entspannt, geräumiger und ausgeglichener wird, beginnen wir, wie jeder Mensch in der Weisheitstradition, zu entdecken, dass wir hier nicht alleine umherstolpern. Wir sind in einem feinstofflichen Netzwerk, das sich nicht nur horizontal über den ganzen Planeten erstreckt, mit den Tieren, den Pflanzen und den Steinen verbunden; und wir beginnen zu bemerken, dass auf dieser einen Ebene alles zusammengehört. Doch dieses Netzwerk verbindet uns in einer noch viel subtileren Art und Weise auch mit dem Vergangenen und dem Kommenden. Wir ehren die Menschen, die diesen Boden vor uns bearbeitet haben, wir spüren das Blut unserer Vorfahren. Einige von uns spüren vielleicht sogar das Blut zukünftiger, noch nicht geborener Generationen. Es gibt Wege, das zu spüren, ohne aus der Sache ein sentimentales Märchen zu machen. Jedenfalls fühlen wir uns als Teil einer zeitlichen Abstammungslinie, auf der jeder einzelne Mensch die Fackel von einer vergangenen Generation erhält und sie an eine neue weiterreicht.

Und schließlich entdecken wir, dass die Linie, die von uns aus sozusagen senkrecht in den Weltraum hinausführt, uns mit Reichen verbindet, die feinstofflicher sind als dieses »hier« verkörperte. Die meisten unter euch, die zumindest ein klein bisschen religiös veranlagt sind, kennen dies in ihrem Empfinden der Präsenz jener, die wir »Heilige« nennen oder »Gurus« oder »mystische Lehrer und Lehrerinnen«, das heißt jener, die den Planeten zwar körperlich verlassen haben, deren Gegenwart wir aber noch immer fühlen können, die uns behutsam umhüllen und uns beschützen. Die Katholiken zum Beispiel haben eine schöne Vorstellung davon in der Heiligen Jungfrau oder im Bild des oder der persönlichen Heiligen. Und so spüren wir also, dass wir tatsächlich Hilfe erhalten entlang dieser Linie und sie im Rahmen unserer Anstrengungen an andere weitergeben können.

Das Problem ist, dass, solange wir gefangen bleiben in diesem Narrativ des Unglücklichseins, der Ängstlichkeit und der Besorgtheit, unsere Aufmerksamkeit viel zu fokussiert ist und unsere Nerven viel zu angespannt sind, als dass wir dies begreifen könnten. Und so entgeht uns diese ganze, weite, größere, dynamischere Welt, in die wir eingebettet sind und in der wir gehalten werden.

Eine der Aufgaben einer Weisheitsschule ist es daher, den Menschen dabei zu helfen, wie sie wieder einen klaren Kopf kriegen, sich öffnen, ins Gleichgewicht kommen und voll und ganz ins Hier und Jetzt gelangen können – der Rest ergibt sich dann von selbst. Ihr sollt es ja nicht aus blindem Glauben heraus tun oder weil »Pater« Cynthia es euch so gesagt hat, sondern weil ihr selbst erfahren und mit euren eigenen feinen Antennen verifizieren könnt, dass dies wirklich ist.

© Cynthia Bourgeault 2025
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Gemeint ist ein Bewusstsein, das gleichzeitig alle drei »Zentren« des Menschen, wie sie G.I. Gurdjieff definierte, miteinschließt: nämlich das »Bewegungszentrum«, das »Gefühlszentrum« und das »Denkzentrum« (also das geistige oder intellektuelle »Zentrum«) [Anmerkung der Übersetzer].

[2] Siehe Maurice Nicoll: Psychological Commentaries on the Teaching of Gurdjieff and Ouspensky, London: Vincent Stuart, 1952, Band 5, Seite 1542.